Brandenburg trifft Belarus: Spreewälder Einsichten
Veronika Radchenko aus Wizebsk lernt bei Bauer Buduschin in Brandenburg. Sie erfährt, dass Landwirtschaft mehr ist als Monokultur.
Belarus, ein Landstrich, „da ist Napoleon schon steckengeblieben“, fährt Budischin fort. Vor ihm scheint sich eine Tolstoi’sche Kulisse zu erheben, in der Napoleons Armee mitsamt Kriegskasse versank, eine Flusslandschaft wie der Spreewald, aber grenzenlos. So kam der Bauer aus Brandenburg zur Staatlichen Akademie für Veterinärmedizin in Wizebsk. „Ich habe versucht, die Beste auszuwählen“, schließt Budischin und schaut zu Veronika. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Veronika Radchenko ist die dritte Studentin, die Budischin mit Hilfe des Berliner Vereins Apollo in sein Heimatdorf Müschen geholt hat. Der Verein organisiert die Kontakte nach Belarus und in die Ukraine und vergibt, vom Land Brandenburg unterstützt, jährlich 30 Praktikumsplätze. Der erste, der 2013 in den Spreewald kam, war ein Student. Danach hat sich Budischin für Studentinnen entschieden. „Mit den Damen macht es mehr Spaß“, sagt er. „Die sind zuverlässiger.“
„Nika, hol doch mal …“, sagt Budischin, steht dann aber selbst auf und verschwindet mit gebeugtem Schritt im Keller. Er nennt die 20-Jährige „Nika“, sie ruft ihn „Chef“. „Es ist meine erste Erfahrung in Landwirtschaft“, sagt Veronika und erzählt, dass sie ein Stadtkind aus Lida im Norden von Belarus ist. 100.000 Einwohner, eine Großbrauerei, Mutter Lehrerin, Vater Ingenieur. Nein, nicht einmal die Großeltern haben eine Kuh, sagt sie und lacht das erste Mal. Dabei ist diese Art von Selbstversorgung in Belarus gar nicht selten.
Studium der Tierpharmazie
Der Familienhund hatte in ihr den Wunsch geweckt, Tierärztin zu werden. Die Eltern empfahlen allerdings Veterinärpharmazie. Und so studiert Veronika alle Nutztiersorten, die es in den Institutsställen daheim gibt, und erzählt, wie sie Pferden, Kühen oder Kaninchen Blut abnimmt und Puls, Herz, Atmung prüft. Veronika redet dabei mal elegant auf Russisch, mal stockender auf Deutsch.
Von der Linde haben sich Marienkäfer mit gelb lackiertem Rücken fallen lassen. Sie steuern den Berg Äpfel auf dem Tisch an, krabbeln zum Stiel, krabbeln zum Kelch, verschwinden zwischen den Früchten. Sie untersuchen wie Kontrolleure Budischins Ernte, alte Sorten, Gravensteiner, Kaiser Wilhelm, dieses Jahr, es war trocken, schrumpelig wie Quitten, doch umso schmackhafter. Wo gibt es in Belarus Öko-Lebensmittel zu kaufen? „Eigentlich nur in Minsk“, sagt Veronika. „Wir fangen langsam, langsam an. Aber Bio hat Perspektiven.“ Die Menschen sind jedenfalls schon seit Jahren sensibilisiert, erzählt sie. „Nach Tschernobyl wurde das wichtig.“ Weil nach der Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 der Wind nordwärts wehte, ging der radioaktive Fallout über Belarus nieder und verseuchte Landstriche im Südosten. „Das hat unsere Bevölkerung beeinflusst bis heute.“
Veronika Radchenko über Belarus
Trotzdem ist der Markt für Öko-Lebensmittel winzig. Kein Wunder, wenn schon Milch und Fleisch – konventionell erzeugt – oft genug das Haushaltsbudget übersteigen. Die Inflation in Belarus liegt seit Jahren deutlich über zehn Prozent. Immerhin gebe es das „Grüne Netz“, erzählt Veronika, ein Zusammenschluss von ökologischen Initiativen, Experten, Aktivisten und Anbietern von Öko-Tourismus.
Für ökologischen Tourismus wirbt inzwischen auch Alexander Lukaschenko. Doch über den Präsidenten, der Belarus seit 1994 mit eisenharter Hand regiert, verliert die Studentin kaum ein Wort. „Er ist der Präsident“, sagt sie und blickt ein wenig hilflos, als hätte man sie zu den Sumpflandschaften befragt. Sie sind da, so wie die Wälder, die Lenin-Denkmäler und die Störche. Was gibt’s noch zu sagen?
Seine Tiere sind nie krank
Der 62-jährige Lukaschenko, der in den Achtziger Jahren ein Staatsgut leitete, der noch heute gern Traktor fährt, Möhren erntet und mit stets belegter Stimme Monologe hält über die Lagerung von Kartoffeln und die Wartung von Mähdreschern, scheint zum Inventar geworden. Als Veronika geboren wurde, war er Präsident, jetzt ist er es immer noch.
Ein Heupferdchen hockt auf Veronikas Kragen. Es scheint ihm zu behagen. Weg will es jedenfalls nicht, so sehr sie den Kragen auch schüttelt. Tiere fühlen sich bei der angehenden Veterinärpharmazeutin wohl. Siegbert Budischin kommt zurück. Er trägt einen Karton unterm Arm. Eigentlich braucht er gar keine Pharmazeutin. „Im ökologischen Betrieb gibt es fast keine Probleme mit Tierkrankheiten“, sagt er. Seine Kühe müssen nur selten behandelt werden. Mal eine Entzündung der Klauen, die oft von selbst heile, mal – „selten, sehr selten!“ – eine Eutererkrankung. Budischin stellt den Fünf-Liter-Karton auf den Tisch und lässt Veronika den Zapfhahn bedienen. Augenblicklich schießt Apfelsaft in die Gläser.
Wie heißt eine Hähnchenfarm auf Russisch? „Ptizefabrika – Vogelfabrik“, sagt Veronika und lacht. Budischin runzelt die Stirn. „Vogelfabrik?“ Seelenloser lässt sich Massentierhaltung kaum beschreiben. Budischin hält das Glas ins Licht und nimmt einen Zug. So muss Apfelsaft sein: eigene Ernte, keine Zusätze, kein Verschnitt. Budischin lehnt sich zurück und legt die Hände auf den Bauch. Ökologische Landwirtschaft geht durch den Magen.
Das sollen die jungen Landwirtschaftsstudenten aus Belarus schmecken, die Budischin hier empfängt. Ökologische Landwirtschaft ist was anderes als Vogelfabriken und Fleischkombinate. Budischin kennt die sowjetischen Methoden, die den Alltag in Belarus prägen. War er doch in der DDR selbst Abteilungsleiter einer LPG, einem Agrarbetrieb mit mehreren tausend Hektar, mit Monokulturen und Massentierhaltung, so wie im sowjetischen Staatsgut, das Alexander Lukaschenko einst führte. Da sprach man auch in Müschen wie selbstverständlich von „Tierproduktion“, als würde man Glühbirnen ausstoßen.
Kürbisse mit Bananengeschmack
„Das war das ganze Gegenteil von dem, was ich heute mache“, sagt der Landwirt. Heute baut er Gurken, Paprika, Tomaten an, beliefert kleine Mühlen, kultiviert Rispenhirse, eine alte Getreidepflanze. Budischin kann lange reden über Hirse, Dinkel und Lichtkorn, eine Roggenart. Wahrscheinlich ist es auch seine sorbische Herkunft, die ihn zurückgeführt hat zu den Wurzeln. Die Sorben, die sich hier im Spreewald Wenden nennen, haben die Region mit den kargen Böden einst besiedelt. Und Budischin, der Slawe, der auch Sorbisch spricht, ist verlässlicher Mittelsmann nach Osten geworden. Nein, Veronika ist hier richtig, obwohl Budischins Rinder kaum Medizin benötigen.
Genug gesessen. Budischin treibt zur Eile. Drei Kilometer von hier liegen Kürbisse im Kraut. Die Herbstsonne lacht. Aber wie lange noch? Wenig später wippt Veronikas Pferdeschwanz im Takt mit dem Trecker. Das rote Gefährt tuckert über Senken und Wiese, obenauf sitzt Veronika und blickt zum „Chef“, der mit den Armen rudert. Budischin hat sich einen Strohhut aufgesetzt, auf seinem Gesicht glänzt Schweiß. Es riecht nach Heu, Gänse schnattern.
„Ist doch besser, wenn du näher ran fährst!“, ruft er zum Trecker. Dann reißt er einen Kürbis vom Strunk, der dick ist wie eine Nabelschnur. „Kürbis ist jetzt richtig hoch im Kurs“, beginnt Budischin ein Loblied und hebt den Koloss hoch. „Es gibt Kürbis mit Nussgeschmack, mit Bananengeschmack.“ Seine Kunden werden wenig davon haben. „Den essen wir selbst. Der Winter ist lang.“
Es sind Veronikas letzte Tage im Spreewald. In Wizebsk hat bereits das Herbstsemester begonnen. Und es ist für beide ein Gewinn, für „Nika“ und den „Chef“. Der frische Blick auf Betrieb und Arbeit helfen ihm, Abläufe zu verbessern, hat Budischin bereits früh festgestellt.
Fritz, der friedfertige Bulle
Den heutigen Ablauf hat Budischin selbst optimiert. Die Sensation hat er für den Abend aufgespart. Sie steht hinter seinem Müschener Hof auf der Koppel, hört auf den Namen Fritz und ist ein Gebirge pulsierenden Lebens. 135 Rinder der Rasse Deutsche Angus hat Budischin, aber nur einen Bullen wie Fritz. Der steht da, als hätte ihn der Herrgott persönlich geschaffen. Nur die Hörner fehlen. „Weggezüchtet“, sagt Budischin.
„So, Nika, jetzt tu ihn mal oben auf dem Rücken kraulen.“ Budischin reicht Veronika ein Stöckchen, er selbst hält dem Bullen einen Eimer Schrot vor die Nase. Vorsichtig krault Veronika die braunen Löckchen im Nacken, zufrieden lässt Fritz mit seinen Nüstern das Schrot im Eimer stieben. Kühe und Kälber stehen ringsum. „Die müssten alle trächtig sein“, freut sich Budischin. Im März beginnen sie zu kalben. Der Bulle hat ganze Arbeit geleistet. „Pass auf, immer angucken!“ mahnt der Bauer. Die drei Menschen um Fritz herum wirken zerbrechlich wie Puppen, besonders Veronika. Eine kräftige Bewegung von Fritz, und sie würden umfallen. Doch Fritz bleibt friedfertig, heute besonders.
Nach einer Weile zieht die Herde los. Fritz trabt hinterher. Früher oder später ist das alles Biofleisch, mit feiner Maserung und einmalig gutem Fettanteil, hatte Siegbert Budischin gerühmt. Veronika drückt mit ihren Gummistiefeln den elektrischen Koppeldraht zu Boden und steigt hinüber. In ihrer Gesäßtasche steckt ein Stromprüfer. Man könne auch ganz anders prüfen, ob der Zaun unter Strom steht. Anfassen etwa? Sie prustet, nimmt dann einen Grashalm zwischen die Fingerspitzen und schiebt ihn vorsichtig über den Draht, wie eine Violinistin. Und der Halm beginnt zu tanzen.
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