Brandanschlag in Solingen: Was weiß Innenminister Reul?
Beim Brandanschlag in Solingen starben 2024 vier Menschen. Unklar bleibt, seit wann die Behörden von einem möglichen rechtsextremen Motiv wissen.
In dem Prozess, der derzeit vor dem Wuppertaler Landgericht verhandelt wird, tauchen immer wieder Hinweise auf, die darauf hindeuten, dass die Behörden einem möglichen rechtsextremen Tatmotiv nicht angemessen nachgegangen sind – oder es sogar ignoriert haben. Die taz hat dem Innenministerium in Nordrhein-Westfalen dazu mehrfach Fragen gestellt. Gegenüber der taz gibt sich das Innenministerium zugeknöpft, es wollte zunächst nicht oder nur verspätet und nicht auf alle Fragen antworten.
Mitte Mai dieses Jahres befragte der Innenausschuss des Landtags CDU-Innenminister Herbert Reul zu den Ungereimtheiten rund um den Brandanschlag: So waren etwa bei der Hausdurchsuchung des Angeklagten kurz nach der Tat NS-Devotionalien gefunden worden. In die Ermittlungsakte wurde der Fund allerdings nicht aufgenommen. Auch nicht in die Akte aufgenommen worden war die Bewertung der Wuppertaler Polizei in einem Dokument, das den Täter zunächst als „rechts“ einstufte. Diese Bewertung war später durch einen handschriftlichen Vermerk gestrichen worden. Erst vor wenigen Wochen, mitten im laufenden Prozess, tauchte das Dokument auf. Es war zuvor weder den Nebenklageanwält*innen noch dem Gericht bekannt. Die Nebenklageanwält*innen sprachen von einem „Skandal“.
Reul erklärt in dem der taz vorliegenden schriftlichen Bericht für den Innenausschuss, bei dem neu aufgetauchten Dokument handele es sich um eine „Checkliste“, anhand derer die Polizei stichpunktartig ein mögliches politisches Motiv überprüfe. In der maschinenschriftlich abgefassten Zusammenfassung des Prüfungsergebnisses habe die Wuppertaler Polizei zunächst geschrieben, dass „die gefundenen NS-Devotionalien dem Angeklagten und dessen Vater zugeordnet werden können“. Es könne von „einer tiefen inneren Verbundenheit (…) mit dem rechten Gedankengut ausgegangen werden.“ Doch diese Textstellen wurden nachträglich handschriftlich verändert und nicht mehr auf Daniel S., sondern auf dessen Vater bezogen.
Wer hat das Dokument verändert?
Unklar ist bis heute, wer das Dokument so verändert hat, dass der Verdacht auf einen rechtsextremen Hintergrund gestrichen wurde. Wer in der Polizei und im Innenministerium wusste von dem frühen Hinweis auf ein politisches Motiv? Wer hat letztlich entschieden, das Dokument nicht zur Akte zu nehmen?
Die taz hat dem Innenministerium in Nordrhein-Westfalen dazu am Donnerstag vergangener Woche Fragen gestellt. Dieses lehnte die Beantwortung zunächst ab, mit Verweis auf das laufende Gerichtsverfahren. Dabei geht es hier nicht um ermittlungstechnische Details. Die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt von einem möglichen rechtsextremen Motiv wusste, ist politisch – sie berührt die Abläufe innerhalb der Behörden, nicht das juristische Verfahren. Auch Reul selbst hatte vor dem Innenausschuss Aufklärung angekündigt.
Zu beantworten wäre die Frage, ob Minister Reul oder sein Haus bereits im April 2024 von der ursprünglichen politischen Bewertung als „rechts“ erfahren haben. Hat der zuständige Wuppertaler Polizeipräsident Markus Röhrl seine Vorgesetzten, also Innenminister Herbert Reul, darüber in Kenntnis gesetzt? Hat das Innenministerium einen Bericht zu einem möglichen politischen Motiv angefordert?
Der zeitliche Ablauf ist auch deshalb relevant, weil die Staatsanwaltschaft Wuppertal sowie das Polizeipräsidium Wuppertal zwei Wochen nach der Brandstiftung bei einer Pressekonferenz am 10. April 2024 gesagt hatten, „bisher keine Anhaltspunkte für ein rechtsextremes Motiv gefunden“ zu haben. Heute ist allerdings klar, dass bereits einen Tag vor der Pressekonferenz, am 9. April 2024, die NS-Devotionalien im Haus des Angeklagten gefunden worden sind.
War der Minister informiert?
Die taz hat das Innenministerium auch angefragt, ob der Minister über diesen Fund informiert wurde. Und wie das Innenministerium die Aussage bei der Pressekonferenz bewertet, dass keine Anhaltspunkte für ein rechtsextremes Motiv gefunden werden konnten.
Das Ministerium hat der taz auf mehrfache Nachfrage bis Redaktionsschluss nur auf einen Teil der Fragen geantwortet. Ein Sprecher sagte der taz, der Vermerk zu dem rechtsextremen Motiv wurde dem Ministerium erstmals am 23. 04. 2025 durch das Landeskriminalamt per E-Mail übermittelt – also mehr als ein Jahr nach dem Brandanschlag. „Soweit bekannt“, sei Minister Reul „unmittelbar danach“ informiert worden, so der Sprecher.
Im Innenausschuss hatte Reul erklärt, sein Haus habe den handschriftlichen Vermerk untersucht und an die Justiz weitergeleitet. Dieser Vermerk wurde den Nebenklageanwält*innen und der Öffentlichkeit erst drei Wochen später, im Gerichtsprozess gegen den Tatverdächtigen Daniel S., bekannt. Doch weshalb wusste Reul vor der Staatsanwaltschaft, dem Gericht und den Nebenklageanwält*innen von dem Vermerk? Auch diese Frage der taz ließ er bis heute unbeantwortet.
Die Opposition im Landtag von Nordrhein-Westfalen dringt weiter auf Aufklärung und nimmt dafür Innenminister Herbert Reul in die Pflicht. Christina Kampmann, innenpolitische Sprecherin der SPD, sagte der taz, auch nach dem Bericht des Ministers vor dem Innenausschuss gebe es zahlreiche Fragen: „Unabhängig von dem juristischen Verfahren braucht es eine politische Aufklärung durch den Innenminister Herbert Reul.“
Nebenklage spricht von „Vertuschung“
Anfang April hatte die Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız den Polizeipräsidenten und mehrere Beamt*innen des Polizeipräsidiums Wuppertal angezeigt, die bei der Hausdurchsuchung dabei waren. Başay-Yıldız sprach von „Vertuschung“, da „Beweismittel vorenthalten wurden“. Die Staatsanwaltschaft Wuppertal lehnte jedoch bereits wenige Tage später die Aufnahme von Ermittlungen gegen die Beamt*innen ab, da kein Anfangsverdacht für ein strafbares Verhalten vorliege.
Im Laufe des Prozesses waren auf Druck von Başay-Yıldız auch Festplatten von der Polizei ausgewertet worden. Darauf befanden sich unter anderem 166 Bilder, die den Nationalsozialismus verharmlosen. Später untersuchte die Anwältin die Festplatten selbst und entdeckte weitere rechtsextreme Bilder. Die Behörden ordnen die Festplatten bisher der Partnerin des Täters zu. Im laufenden Gerichtsverfahren erfolgt zurzeit eine umfangreiche Datenauswertung. Am zweiten Juni wird der Prozess gegen Daniel S. am Landgericht Wuppertal fortgesetzt.
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