Brand in der Kathedrale Notre-Dame: Der Schock von Paris
Am Tag danach pilgern Tausende zur Unglücksstelle. Sie können nicht fassen, was geschehen ist. Für viele ist die Kathedrale viel mehr als nur ein Gotteshaus.
Viele Menschen berichten von einer ganz speziellen Beziehung zu dieser Kirche: „Mich verbinden so viele persönliche Erinnerungen mit Notre-Dame. Sie heute so zu sehen schmerzt mich zutiefst“, erklärt Maria Magdalena aus Argentinien. Die in der Nähe von Reims wohnende Familie aus Anne und Jimmy und ihrem Sohn Gabriel hat fast ein schlechtes Gewissen: Die drei wollten ursprünglich am Montagnachmittag Notre-Dame besuchen, hatten es dann aber auf den Dienstag vertagt. Als sie dann auf dem Bildschirm den Großbrand entdeckten, hätte sie „ein Gefühl großer Ohnmacht“ ergriffen. Für ein in Paris zu Besuch weilendes Ehepaar aus Mailand ist „Notre-Dame nach dem Sankt-Peters-Dom in Rom die bedeutendste Kirche der Christen mit einer universellen Bedeutung“.
Am Dienstagmorgen pilgern in einem ununterbrochenen Menschenstrom Tausende von Schaulustigen auf dem linken Seine-Ufer auf dem Quai Saint-Michel zur Brücke Petit Pont, über die man normalerweise zur Pariser Kathedrale auf der Île de la Cité gelangt. Jetzt aber ist für die Neugierigen der Durchgang von der Polizei gesperrt, nur Medienleute werden durchgelassen. Vor der Esplanade vor der Notre-Dame, auf der noch schwarze Aschenreste vom Großbrand in der zurückliegenden Nacht herumliegen, berichten Dutzende von Fernsehteams aus aller Welt über das Unglück, das eine weltweite Betroffenheit ausgelöst hat.
Die Frontfassade mit den beiden charakteristischen Türmen und der Rosette über den Statuen von Heiligen sieht für sie auf den ersten Blick nicht sehr viel anders aus als zuvor. In der Mitte aber fehlt etwas im bekannten Bild: Der mehr als 90 Meter Spitzturm „La Flèche“ ist wie ein Teil des Dachs und des gesamten Gebälks ein Raub der Flammen geworden.
Feuerwehrleute sind Helden
Am Vormittag ist der Brand nach offiziellen Angaben gelöscht. Noch stehen aber zwei Feuerwehrautos vor dem Eingang und etwas weiter abseits erholen sich Angehörige der „Sapeurs-pompiers“ in ihren roten Schutzanzügen von ihrem stundenlangen Einsatz.
Mehr als 400 Feuerwehrleute haben die ganze Nacht hindurch das Feuer bekämpft, um so viel wie nur möglich von der Kathedrale zu retten. Sie sind die Helden des Tages, ihnen ist es zu verdanken, dass die Zuschauer und Journalisten nicht nur einen Haufen Schutt und Asche betrachten, sondern eine Kathedrale, die weiterhin aufrecht steht. Sie mussten für ihre Löscharbeiten Flusswasser aus der Seine pumpen, um es unter Lebensgefahr aus hohen Leitern und Hebebühnen auf den Brandherd zu spritzen. Ein Feuerwehrmann wurde dabei schwer verletzt. Immer wieder, wenn ein Fahrzeug der Feuerwehr an der Zuschauermenge vorbeifährt, applaudieren die Menschen spontan.
Monique Jacob, Pariserin, am Montagabend
Die Nachricht vom Großbrand hatte sich am Montagabend in Windeseile verbreitet, in Büros, Cafés, auf der Straße, überall ist der Blick auf die Smartphones gerichtet.
Die ersten Videos lassen befürchten, dass dieses über 800 Jahre alte Meisterwerk gotischer Baukunst und Wahrzeichen von Paris der totalen Zerstörung anheimfallen werde. In der Hauptstadt sind die Rauchfahne und das beängstigende Licht der orangeroten Flammen weithin zu sehen. Den ganzen Abend über und weit in die Nacht hinein kommen aus allen Stadtteilen Menschen zur Seine-Insel. Die Polizei sperrt die Brandstätte weiträumig ab, und die Bewohner der benachbarten Gebäude auf der Île de la Cité werden evakuiert. Das Spektakel für die Zuschauer wird geradezu grotesk, als auf der Seine noch die Sightseeing-Schiffe „Bâteaux Mouche“ mit Touristen still vorübergleiten.
Ein Aufschrei geht durch die Menge
Am Ufer unweit von Saint-Michel gegenüber der brennenden Kathedrale haben sich in der einbrechenden Dunkelheit Gruppen von Gläubigen, zum Teil auf Knien, zum Gebet eingefunden. Andere halten die Hände gefaltet, viele weinen. „Ich bin keine besonders praktizierende Katholikin, aber ich bete zu allen Heiligen, Engeln und Erzengeln und zur Heiligen Jungfrau Maria, dass der Brand gestoppt wird. Wie ist so etwas nur möglich?“, fragt bestürzt Monique Jacob, eine 45-jährige Pariserin aus dem Süden der Hauptstadt. Als der lichterloh brennende Spitzturm, „La Flèche“, zuerst in zwei Hälften zerbricht und dann in seinem Sturz den Dachstuhl mit in die Tiefe reißt, geht ein Aufschrei durch die Menge.
Alle sind schockiert. Vielleicht hat dieser Brand in der von Terroranschlägen heimgesuchten Stadt auch kaum verheilte Wunden des Schreckens wieder aufbrechen lassen. Für die gläubigen Katholiken ist es besonders tragisch, dass sich dieses Unglück zu Beginn der Karwoche ereignet hat. In die rasch wachsende Menge entsetzter Zuschauer mischen sich Touristen, die ebenso von dieser Katastrophe im Innersten berührt sind wie die Franzosen und Französinnen.
Mehrere Besucher aus den USA erklären, sie fühlten sich an den 11. September 2001 erinnert, als in New York das World Trade Center nach dem Terrorangriff zusammenfiel. Immerhin wird es in Paris mit Erleichterung aufgenommen, dass es sich Im Fall der Notre-Dame nicht um ein Attentat und vermutlich auch nicht um vorsätzliche Brandstiftung handelt. Von Beginn an erklären die Behörden, dass der Brand höchstwahrscheinlich auf Bauarbeiten im Dachstuhl zurückzuführen sei.
Rätseln über die Brandursache
Rund 50 Experten sind seit dem Dienstag fieberhaft mit der Untersuchung der Brandstelle beschäftigt. Dreißig Arbeiter von fünf Firmen, die an den Vortagen mit einer Teilrenovierung beschäftigt waren, sind noch in der Nacht auf den Dienstag befragt worden. Der Staatsanwalt von Paris, Rémy Heitz, teilt dazu mit, nichts lasse beim derzeitigen Stand der Ermittlungen auf eine mutwillige Brandstiftung schließen.
Philippe Villeneuve, der als Chefarchitekt seit 2018 die Renovierung der Kathedrale leitet, kann sich nicht erklären, was geschehen ist. „Was ich lediglich bestätigen kann, ist, dass sich zum Zeitpunkt des Brandausbruchs kein Arbeiter mehr an der Baustelle befand.“ Für die Besucher schloss Notre-Dame am Montag wie üblich um 19 Uhr. Etwa um dieselbe Uhrzeit entdeckte die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo aus ihrem Büro im Rathaus den aus der Notre-Dame aufsteigenden Rauch. Sie habe die Feuerwehr alarmiert, sagt sie.
Widersprüchliche Meldungen zirkulieren über den ersten Brandalarm gegen 18.30 Uhr. Die Experten müssen auch untersuchen, wie stabil die Struktur der Kathedrale jetzt noch ist, die wie die beiden Türme und die Fassade grundsätzlich verschont blieb. Die jahrhundertealten Eichenbalken des Dachgewölbes sind dagegen verbrannt, was auch die Struktur des ganzen Gebäudes schwächen könnte. Entgegen ersten Befürchtungen blieb die historische Hauptorgel von Notre-Dame weitgehend unbeschädigt. Der Kirchenschatz und die wichtigsten Reliquien konnten zu Beginn des Brandes in Sicherheit gebracht werden.
Anfänglich, am Montagabend, wird das Schlimmste, eine totale Zerstörung, befürchtet. Nach Mitternacht macht sich Erleichterung breit. Die Feuerwehr hat den Brand unter Kontrolle. Sonia Krimi, eine Abgeordnete der Regierungspartei „République en marche“, die zusammen mit dem Staatschef und mehreren Ministern einen ersten Augenschein auf das Innere der Kathedrale werfen darf, in der noch Glut und kleine Brände gelöscht werden müssen, kann versichern: „Der Altar, die Mauern und auch ein großer Teil des Dachs sind intakt.“
Präsident Macron verspricht den Wiederaufbau
Trotzdem ist der Schaden enorm und vorerst nicht einmal annähernd zu beziffern. Parallel zu anderen privaten Initiativen für Geldsammlungen hat Präsident Emmanuel Macron bereits am Montagabend eine nationale und internationale Spendenkampagne gestartet: „Wir werden Notre-Dame wieder aufbauen, gemeinsam“, verspricht er. Am Dienstag leitet er eine Sondersitzung des Ministerrats zur Planung des Wiederaufbaus. Die Rede ist von einer internationalen Geberkonferenz.
Der französische Kunstmäzen und Milliardär François Pinault, Besitzer der Luxuswarenholding Kering, hat bereits 100 Millionen Euro versprochen. Sein Konkurrent Bernard Arnault von der Luxusgruppe LVMH will sich nicht lumpen lassen, er will 200 Millionen Euro beisteuern. Auch die Stadt und die Region Paris müssen tief in die Tasche greifen. Bürgermeisterin Anne Hidalgo will 50 Millionen aus kommunalen Mitteln und die Hauptstadtregion Île-de-France 10 Millionen für die erste Phase der Instandssetzung geben.
Unklar bleibt, wie lange diese Restaurierung dauern wird. Man hat nur eine historische Vorgabe: Als die gotische Kathedrale von Reims im Ersten Weltkrieg bombardiert und weitgehend zertrümmert wurde, dauerte der Wiederaufbau fast zwanzig Jahre. Dabei wurden innovative Techniken und neueres Baumaterial wie Zement verwendet. Im Fall der Notre-Dame ist zum Beispiel nicht geklärt, ob es noch Zimmerleute gibt, die sich mit dem originalen Fachwerk aus der gotischen Epoche auskennen.
In Frankreich melden sich noch in der Nacht alle politischen Persönlichkeiten zu Wort, allen voran Präsident Emmanuel Macron. „Ich bin traurig, ein Teil von uns selbst steht in Flammen“, schreibt der Präsident auf Twitter in einer ersten Reaktion auf den schrecklichen Brand. Er verschiebt die ursprünglich geplante Rede an die Nation zur Ankündigung seiner Antwort auf die Proteste der Gelbwesten auf unbestimmte Zeit. Mehrere Parteien haben ihren Europa-Wahlkampf vorübergehend gestoppt. Angesichts einer solchen Tragödie herrscht eine „union sacrée“ von links bis rechts.
Laurent Wauquiez, der Parteichef der französischen Konservativen „Les Républicains“, meint: „Ein ganzer Teil unserer Geschichte, ja ein Teil von uns selbst brennt.“ Für ihn ist dieses Gotteshaus ein „Symbol unserer christlichen Wurzeln“, aber ebenso ein Teil der Kultur, dank Victor Hugos klassischem Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“. Katholiken und Gläubige anderer Konfessionen wie Nichtreligiöse sehen in der Notre-Dame mehr als nur eine Kirche oder eine Touristenattraktion. Die nicht endenden Reaktionen auf den Brand zeugen von dieser tiefen Verbundenheit.
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