Blockade der A100: Fiese, feine Nadelstiche
Der Protest der „letzten Generation“ zeigt Wirkung – er erhält mehr und mehr Aufmerksamkeit. Doch nun braucht es mehr als Blockaden: Inhalte.
S eit rund zwei Wochen beginnt der Tag in Berlin meist mit der Nachricht, dass Aktivist*innen „erneut Autobahnen blockiert“ haben. Und nicht nur in der Hauptstadt verleiht die selbst ernannte „letzte Generation“ ihrer Forderung nach einem Bundesgesetz gegen Lebensmittelverschwendung auf diese Weise Nachdruck, sondern auch in anderen deutschen Städten.
Normalerweise ist die Phrase, dass etwas „wieder passiert“, ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Bedeutung von Ereignissen abflaut – sie sind ja nicht mehr neu und erhalten deshalb weniger öffentliche Aufmerksamkeit. In diesem Fall ist es umgekehrt: Der höchst effiziente Protest einiger weniger Menschen zeigt Wirkung, in mehrfacher Hinsicht.
Das liegt nicht nur daran, dass das Engagement der Aktivist*innen nicht nachlässt und sie ihre Aktionen im morgendlichen Berufsverkehr fast schon stoisch wiederholen. Vielmehr fachen einige direkt Betroffene mit martialischen Auftritten der Selbstjustiz die Debatte an: Mehrere in den sozialen Medien verbreitete Videos zeigen wütende Autofahrer, die auf die auf der Straße sitzenden Aktivist*innen mit Gewalt losgehen, ohne dass die Polizei einschreitet. Die Aktion – das ist die Botschaft der Filme – hat einen Nerv der deutschen Gesellschaft getroffen: Wer die „freie Fahrt für freie Bürger“ einschränkt, muss sich auf einiges gefasst machen.
Auf diese Weise entwickelt dieser Protest seine eigene Geschichte. Sie leidet allerdings darunter, dass sie sich immer mehr von ihrem Anlass löst. Denn die Autofahrer werden mutmaßlich ja nicht handgreiflich, weil sie für die Verschwendung von Lebensmitteln sind. Wenn sich demnächst Tierschützer*innen oder Atomkraftgegner*innen auf der A 100 festkleben: Weiß man dann noch, aus welchem Grund? Zudem stellt sich die Frage, wie die nächste Eskalationsstufe nach Protest und rabiater Gegenwehr aussehen kann und sollte.
Empfohlener externer Inhalt
Risikoreicher Einsatz
Das allein entzieht dem Protest nicht die Legitimation; der persönliche, risikoreiche Einsatz der Aktvist*innen ist bewundernswert. Es zeigt sich jedoch, dass punktuelle Aktionen wie die Blockade der Autobahnen immer nur ein Element einer auf Medien angewiesenen Überzeugungsarbeit sein können. Wenn am Ende der Eindruck der blinden Erpressung überwiegt, sei es durch die Formulierung der Forderungen, sei es durch Gewalt oder der Gefährdung der eigenen Gesundheit, steht das Ego der Aktivist*innen im Vordergrund, und nicht das „wir“ einer besseren Gesellschaft.
Denn am Ende geht es um die Frage, ob ein Protest nicht nur Aufmerksamkeit erzeugt, sondern auch etwas bewirkt im Sinne der ursprünglichen Intention.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich