Bildung in Estland: Schulreform gegen den Krieg
Bislang gibt es in Estland getrennte Schulsysteme für estnisch- und für russischsprachige Kinder. Ab nächstem Jahr soll damit Schluss sein.
Ab dem Schuljahr 2024/2025 soll sich das ändern. Dann will Estland seine russischsprachigen Schulen abschaffen, so hat es das Parlament im Dezember beschlossen. Das seit der estnischen Unabhängigkeit unveränderte geteilte Kita- und Schulsystem, das estnisch- und russischsprachige Schüler*innen trennt, soll vereinheitlicht werden. Erst- und Viertklässler sollen den Plänen zufolge ab 2024 komplett auf Estnisch beschult werden, weitere Klassenstufen folgen im Schuljahr darauf.
Mit der Schulreform reagiert die Regierung auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Es ist nicht die einzige Maßnahme, die ein politisches Zeichen setzen soll: Im August entschied die Regierung, sämtliche sowjetische Monumente abzubauen. Russischen Studierenden ist der Zugang zu estnischen Universitäten untersagt, russische Staatsangehörige bekommen derzeit grundsätzlich kein Visum mehr für Estland. Die nun verabschiedete Schulreform hatte die Regierung bereits nach der russischen Annexion der Krim 2014 in Erwägung gezogen.
Viele Eltern und Lehrer*innen glauben, dass die Reformvorhaben scheitern werden. Rund 23 Prozent der Bevölkerung in dem Land mit rund 1,3 Millionen Einwohner*innen gehören der russischsprachigen Minderheit an. 13,5 Prozent der Schüler*innen in Estland besuchen russischsprachige Schulen. Laut Eurydice, dem EU-Informationsnetz fürs Bildungswesen, liegen die Estnischkenntnisse von mehr als 30.000 Schüler*innen und 2.245 Lehrer*innen in Grund- und Oberstufe unter dem Niveau, das für den Unterricht notwendig wäre.
„Wie soll es funktionieren?“
Slava Konovalov, Schulleiter in Narva
Die Zweifel an der Reform teilt auch Aleksandra Averjanova. Sie sehe ein, dass Kita und Schule auf Estnisch sein müssten. „Aber wie soll es funktionieren, wenn die gesamte Kindergruppe aus russischsprachigen Familien und Gegenden stammt und auch die Lehrerschaft Russisch als Muttersprache hat?“, fragt Averjanova. Sie macht sich besonders große Sorgen um den Übergang für ihre jüngere Tochter, denn sie hat Dyslexie, eine Leseschwäche.
Averjanova selbst war Erstklässlerin, als die Sowjetunion zerfielt. Zu Hause sprach sie immer Russisch. Lange hatte sie den sogenannten grauen Pass der Staatenlosen, bis sie als Erwachsene eine Zertifikatsprüfung in estnischer Sprache bestand. Wie viele andere Russischsprachige in Estland fanden ihre Eltern keinen sozialen und kulturellen Anschluss in der estnischen Gesellschaft. Nach 1989 bekam der Vater den russischen Pass, weil er aus Russland kam, während ihre Mutter den grauen behielt.
Estnisch, die einzige Amtssprache des Landes, können die Eltern noch immer nicht. „Ich habe Estnisch erst bei meinem ersten Job gelernt, weil eine Arbeitskollegin kein Russisch sprach“, erinnert sich Averjanova. Die meisten von Averjanovas Schulkameraden sind ins Ausland ausgewandert.
Averjanovas Töchter, heute acht und 13 Jahre alt, haben einen estnischsprachigen Kindergarten besucht. Weil sie in Tallinn leben, werden sie in ihrem Alltag überwiegend mit Estnisch konfrontiert.
Anders sieht es in Narva aus. In der Stadt an der Grenze zu Russland sind nur vier Prozent der Bevölkerung estnische Muttersprachler*innen. Estnischsprachige Kindergärten oder Schulen besuchen die wenigsten.
Im Telefonat mit der taz erklärt der Leiter des größten Gymnasiums von Narva, Slava Konovalov, wie die Vorbereitungen auf die Reform laufen: nicht gut. „Man hätte es wie in Finnland machen sollen, wo jede Veränderung erst an einer kleinen Gruppe getestet wird, bevor sie breit umgesetzt wird“, findet Konovalov. Mit einer so kurzen Übergangszeit sei es nahezu unmöglich, ausreichend gut ausgebildete estnischsprachige Lehrer*innen zu finden.
Konovalov ist 54 Jahre alt, hat in Russland studiert und kehrte 1992 nach Estland zurück. Seitdem ist er im Bildungsbereich tätig. Kostenlose Sprachkurse, etwa von den Kommunen, werden der Lehrerschaft zwar bereits ausdrücklich empfohlen. Aber nur wenige finden die Zeit, nach dem intensiven Lehrjob noch zweimal in der Woche in die Sprachschule zu gehen. An seinem Gymnasium bietet Konovalov einen wöchentlichen estnischen Stammtisch an, allerdings bleibt auch der eigentlich immer nur dünn besucht. Konovalov rechnet mit einem Zuwachs an Frührentner*innen und Aussteiger*innen ab nächstem Jahr.
Die Universitäten haben angefangen, zusätzliche Estnisch-Module für Lehramtsstudierende anzubieten, um dem Mangel beizukommen. Aber die Zeit drängt. Mit einem höheren Lohn von 3.000 Euro brutto im Monat versucht die Regierung, Lehrer*innen nach Narva zu locken – in die Stadt, die jahrzehntelang als Ort am Rande betrachtet wurde, als EU-Grenze zu Russland. Der monatliche Mindestlohn in Estland beträgt 1.074,4 Euro. Konovalov glaubt nicht, dass die Maßnahme zum Erfolg führt. „Wer soll bereit sein, mit seiner Familie wegen einer Lehrstelle hierher zu ziehen und einen komplett russischen Alltag zu leben?“, fragt sich der Schulleiter. „Für viele in Estland ist das unvorstellbar.“
Lettland Im Zuge des russischen Angriffskriegs gibt es auch im lettischen Bildungssystem Veränderungen. Ab dem Schuljahr 2026/27 wird es dort nicht mehr möglich sein, Russisch als zweite Fremdsprache zu wählen. Sie wird durch eine EU-Sprache ersetzt.
Litauen Ebenfalls als Folge des Ukrainekriegs werden derzeit mindestens 13 Lehrbücher auf Russisch, die in russischsprachigen Schulen in Litauen benutzt werden, überarbeitet. Sie waren wegen der Verherrlichung Moskaus und der positiven Darstellung Russlands als attraktivem und demokratischem Staat kritisiert worden.
Zumal nicht nur Schulen in russisch dominierten Regionen Schwierigkeiten haben, genug Lehrpersonal zu finden. „Auch in der Stadt Tartu, in der die prozentuale Sprachverteilung im Vergleich zu Narva gespiegelt ist, beklagen die Schul- und Gymnasialleiter*innen mangelndes estnischsprachiges Personal, um das neue Gesetz umzusetzen“, sagt Bildungsexperte Konovalov.
Nicht nur unter russischsprachigen Eltern ist die Begeisterung für die Reformen gering. In den Kommentarfeldern einiger digitaler estnischer Medien kann man sich ein Bild davon machen, welche Befürchtung die estnischen Eltern haben: dass das Schulniveau sinken könnte, sobald russischsprachige Schüler*innen zusammen mit estnischsprachigen lernen und sobald Lehrer*innen in gebrochenem Estnisch unterrichten. Dass die russischsprachigen Schulen bei Pisa-Studien durchweg schlechter abschnitten als die estnischsprachigen, befeuert die Vorbehalte gegenüber der gemeinsamen Beschulung weiter.
Kinder schon in der Kita getrennt
Ebenfalls in Tallinn wohnt Kita-Erzieherin Pille Kruus. Sie ist ein Jahr älter als Averjanova, aber zuhause hat Kruus immer estnisch gesprochen. Von den zwei Jahren Russischunterricht zu Sowjetzeiten hat sie nichts behalten. Nach der Unabhängigkeit ihres Landes 1991 besuchte sie eine estnischsprachige Schule. Russischsprachige Freund*innen hatte sie nicht.
In ihrer Kita ist nur ein einziges Kind aus einer russischsprachigen Familie. „Ich finde es extrem schade, dass wir so eine segregierte Gesellschaft haben, es ist ein tiefgreifendes Problem“, sagt Kruus. Sie verstehe die Eltern, die sich lieber für eine russische Kita und Schule entscheiden, „damit ihre Kinder kein rudimentäres Estnisch lernen“, aber sie habe kein Verständnis für die vielen russischsprachigen Familien, die nach mehr als 30 Jahren immer noch kein Estnisch gelernt haben und nur die Nachrichten aus Russland verfolgen. Von solchen Menschen gebe es viele in Estland. „Spätestens seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hätte ihnen klar sein sollen, welches Land für die richtigen europäischen Werte steht“, sagt Kruus.
Aleksandra Averjanovas, Mutter
Von klein auf müssten die Kinder ihren Alltag zusammen verbringen, damit auch die Gesellschaft zusammenwachsen kann, findet sie. Ihr Kindergarten führt seit Kriegsbeginn ein Projekt mit einer russischsprachigen Kita durch. Kinder und Erzieher*innen sollen zusammen spielen, backen und Klischees abbauen. „Es sollten mehr solcher Projekte entstehen, aber das ist eine komplette Ausnahme“, sagt Kruus.
Was Kruus in der Kindertagesbetreuung beobachtet, sieht Averjanova bei den Schulkindern. „Das Integrationsmodell mit zwei getrennten Schulen, das wir seit mehr als 30 Jahren versucht haben, hat überhaupt nicht funktioniert“, findet die Mutter. „Das Parlament will nun mit dem neuen Gesetz gegen die gegenwärtige Segregation agieren, aber ich denke, die Gesellschaft wird getrennt bleiben.“
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