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Big BrotherFeindbilder und Fatalismus

Unsere alten Hassfiguren sterben aus. Und vor dem möglichen Missbrauch von Daten über ungesunde Körperteile graut es auch kaum noch einem.

Früher war alles besser und gegen die Volkszählung 1987 wurde noch gekämpft Foto: WEREK/imago

F rüher war alles besser. Diese Theorie ist nicht ganz neu, aber immer noch vollkommen richtig und seit dieser Woche quasi nicht mehr widerlegbar. Vor allem die ideologischen Feindbilder waren früher deutlich pflegeleichter. Aus, vorbei, es gibt sie nicht mehr. Meine persönlichen Hassfiguren sind jedenfalls alle mausetot. Strauß, Reagan, die Bundeswehr und jetzt auch noch der FC Bayern. Am Mittwoch habe ich zum ersten Mal in meinem Leben bei einem Tor für den FC Bayern fast gejubelt. Wie konnte es so weit kommen?

1987 war noch alles anders. Damals, in meiner Jugend hinter den sieben fränkischen Bergen, kurz nach dem Aussterben der Dinosaurier, lagen sich die Menschen vor Schadenfreude weinend in den Armen, als der bis dato unbekannte Algerier Rabah Madjer mit einem sensationellen Hackentrick den Europacupsieg des kleinen, schnuckeligen FC Porto gegen die großen, fetten, CSU-verseuchten Bayern aus dem superreichen München sicherstellte.

Und nu? Ist der arrogante Schnöselklub ein vergleichsweise bescheidener Traditionsverein mit einer sympathischen Multikulti-Truppe, der man im Duell mit Saint-Katar Paris oder Abu Dhabi Manchester alles Mögliche wünschen kann, aber sicher nicht mehr „Tod und Hass dem FCB“ wie früher. Ach, ist doch nur Fußball, mögen manche sagen. Gibt Wichtigeres. Geschenkt! Das Verblassen der geliebten Feindbilder zieht sich durch sämtliche Lebensbereiche, Politikfelder und Institutionen.

Alles, aber auch alles, was unter ordentlichen Linken in jenem Deutschland vor unserer Zeit als furchtbar und verachtenswert galt, hat seinen Schrecken verloren. In dem Jahr, als der kleine Madjer die großen Bayern besiegte, hatten viele Linke nur wenig Zeit für Schadenfreude, weil sie mehr als 1.100 Bürgerinitiativen gründen mussten – gegen die fürchterliche Volkszählung, vor der sich alle fast so sehr gruselten wie vor dem Atom.

Kein Wunder: George Orwells Überwachungsdiktatur war 1987 gerade erst drei Jahre her. Auch an die Gestapo konnten sich manche noch erinnern. Da fand man es nicht sehr erbaulich, wenn der Staat plötzlich ganz Privates wissen wollte. Heute scheint die Volkszählung fast so weit weg und so ungefährlich wie jene in der Bibel.

Bei der deutschen musste man nicht einmal an seinen Geburtsort reisen, auch nicht mit irgendwelchen Viechern in einem stinkenden Stall übernachten, man sollte nur ein paar mehr oder wenige technische Daten wie die Zahl der bewohnten Zimmer nennen. Auf Papier. Und nach Protesten anonymisiert. Trotzdem war der Aufschrei weitaus größer als in dieser Woche, als die Einführung der elektronischen Patien­ten­akte für alle angekündigt wurde.

Eigentlich erstaunlich. Denn das wäre ein Datenschatz ohnegleichen. Statt um die Statistik anonym bewohnter Stuben geht es jetzt um die personalisierte Zählung sämtlicher Herzkammern, Allergien und Neurosen, damit jede Ärztin alle Vorerkrankungen auf einen Blick sofort nachschlagen kann. Tolle Sache, sicher. In manchen Fällen vielleicht sogar lebensrettend. Aber woran liegt es, dass sich unter Linken offenbar so gut wie niemand mehr vor einem Missbrauch dieser höchst intimen Daten fürchtet?

Zum Teil gewiss an den handelnden Personen. Die verhasste Volkszählung von einst befahl der ohnehin schauerlich feiste CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann, der auch die Gefahren der Atomwolke aus Tschernobyl schön- und die damals noch so genannten „Ausländer“ schlechtgeredet hatte. Ein Feindbild wie aus dem Bilderbuch. Der schmächtige Karl Lauterbach wirkt dagegen eher drollig.

Dem Gesundheitsminister ist zwar durchaus zuzutrauen, dass er alle elektronischen Patiententakten nachts persönlich liest, aber nur zu Forschungszwecken. An sicheren Datenschutz scheint eh niemand mehr zu glauben, seit sogar Merkels Handy abgehört wurde. Wohin man auch blickt: statt Feindbildern nur noch Fatalismus. In Berlin sind SPD und Grüne sogar ohne Not freudig bereit, die CDU regieren zu lassen. Und ich drücke dem FC Bayern heimlich die Daumen. O tempora, o mores!

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens
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