Betroffene über Rechtsextremismus: Von allein zum Rassisten?
Rostock-Lichtenhagen und Hanau sind Tatorte rechten Terrors. Ein Gespräch mit Zeitzeuge Wolfgang Richter und Opfer-Angehörige Serpil Temiz-Unvar.
taz: Herr Richter, Sie erlebten vor 30 Jahren den bis dahin massivsten rassistischen Angriff seit Jahrzehnten in Deutschland mit. Neonazis und Mitläufer*innen griffen das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen mit Brandsätzen an. Sie waren damals als Ausländerbeauftragter der Stadt im Haus und mussten mit rund 130 Bewohner*innen, ehemalige Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam, über das Dach fliehen. Lässt einen dieses Erlebnis jemals wieder los?
Wolfgang Richter: Nein. Diese Bilder sind im Kopf und die bekommt man auch nicht wieder raus. Ich schaffe es nicht, die Stadtautobahn entlangzufahren, ohne einen Blick auf dieses Haus zu werfen. Auch, wenn ich mir vornehme: Du guckst geradeaus. Es geht nicht. Und wenn wie jetzt wieder viele Fragen von Journalisten kommen, dann wird das Ganze auch noch mal intensiver.
war von 1991 bis 2009 Ausländerbeauftragterder Stadt Rostock.
Die Angriffe zogen sich damals über drei Tage. Hunderte attackierten das Gebäude und die Menschen darin. Es gab rechte Anheizer, Tausende folgten, gafften, johlten, machten mit. Wie konnte es so weit kommen?
Richter: Ich bin bis heute der festen Überzeugung, dass diese Katastrophe bis kurz vorher noch hätte verhindert werden können. Man konnte ja über Monate hinweg zusehen, wie sich das zuspitzte: Seit Ende Juni war es ein Dauerzustand, dass Geflüchtete auf den Wiesen vor der Erstaufnahmeeinrichtung mehrere Tage warten mussten bevor sie ins Haus durften, um ihren Asylantrag zu stellen. Menschen waren gezwungen, dort ohne jegliche Unterstützung zu campieren. Dazu die allgemeine Stimmungsmache von Politik und Medien, die von „Asylmissbrauch“ und „Das Boot ist voll“ redeten.
Was war dann letztlich der Auslöser?
Richter: Die Lokal- und Regionalzeitungen haben einen anonymen Aufruf im Wortlaut verbreitet, auf der Wiese werde am Sonnabend „aufgeräumt“. Ohne jede journalistische Einordnung. Das war fatal, damals spielten Zeitungen – entschuldigen Sie, dass ich das so sage – ja noch eine viel größere Rolle. Da habe ich nochmals dafür plädiert, die Menschen dort wegzuholen. Aber die Verantwortlichen haben nicht geglaubt, dass es so weit kommen wird. Und dann kam es doch so.
Frau Temiz-Unvar, Sie kamen 1995, also wenige Jahre später, nach Deutschland. Wann und wie haben Sie vom Pogrom in Rostock erfahren?
Serpil Temiz-Unvar: Aus den Medien. Und es war damals Thema in unserer Community. Es ging ja weiter, es gab auch noch Mölln, Solingen und so weiter. Für mich war es auch gewissermaßen Alltag. Ich kannte ja als Kurdin rassistische Übergriffe aus der Türkei, und meine Kinder haben Rassismus in Deutschland jeden Tag in der Schule erlebt. Ich dachte irgendwie – das ist halt normal. Das habe ich meinen Kindern sogar gesagt, das müssen Sie sich mal vorstellen. Jahrelang habe ich falsch gekämpft. Jetzt kämpfe ich dafür, dass das endlich aufhört.
Ihr Sohn Ferhat Unvar wurde am 19. Februar 2020 in Hanau von einem Rassisten im Kiosk neben einer Shisha-Bar erschossen, er war eines von neun Mordopfern. Anders als in Rostock-Lichtenhagen handelte der Täter allein. Sie betonen aber, dass er kein Einzeltäter war. Warum?
Temiz-Unvar: Kann jemand alleine Rassist werden? Nein. Der hat ja Vorbilder und Ermutigung. Dafür braucht man sich nicht mehr heimlich in irgendeinem Kellerraum treffen. Das findet im Internet statt. Auch der Hanau-Täter war dort aktiv und hatte eine Internetseite mit seinem Tatbekenntnis. Und sein Vater wollte nach der Tat unbedingt, dass die Seite wieder online geht. Warum wohl?
Herr Richter, Sie haben die rassistische Stimmung in der Gesellschaft beschrieben, die die Gewalt in den 1990ern mit ermöglicht hat. Liegt diese Stimmung hinter uns?
Richter: Da gibt es eine Kontinuität. Dass 1993, auch als Folge von Rostock-Lichtenhagen, das Asylrecht eingeschränkt wurde, war bereits ein komplett falsches Signal. Und erinnern wir uns an das Jahr 2015, als viele Geflüchtete aus Syrien zu uns kamen – auch da war wieder so eine Negativstimmung da. Zwar agiert die Politik heute nicht mehr so plump wie Anfang der Neunziger, aber immer noch werden im Zusammenhang mit Geflüchteten plötzlich Finanzen oder Wohnraum aufgerechnet, wo es eigentlich erstmal um Hilfe gehen sollte. Und das kommt nicht nur von der AfD.
Glauben Sie, dass Ausschreitungen wie damals in Rostock-Lichtenhagen noch einmal möglich wären?
Richter: In dieser Form nicht. Ein solches Pulverfass würde heute von den Behörden nicht mehr zugelassen. Auch die Polizei würde heute ganz anders agieren. Da bin ich mir sicher. Was aber bleibt, ist die Manipulierbarkeit von Menschen – und die wird von politischer Seite auch weiterhin gesucht.
Temiz-Unvar: Das stimmt. Rassistische Gewalt findet heute andere Formen, aber sie ist nicht weniger geworden. Die rassistische Grundstimmung in der Gesellschaft bleibt.
Richter: Meine Wahrnehmung aber ist, dass zumindest diejenigen, die sich gegen Rassismus stellen, mehr geworden sind. 1992 gab es – bis auf ganz wenige Ausnahmen – niemanden, der sich den Angreifern entgegenstellte. Aber als vor ein paar Jahren auch in Rostock Pegida-Demonstrationen begannen, da gab es bis zu 5.000 Gegendemonstranten. Ich glaube, heute würden sich diese Menschen auch vor das Sonnenblumenhaus stellen und es schützen.
Temiz-Unvar: Ja, wir können heute offener reden. Aber seit ich mich nach dem Tod von Ferhat politisch und mit unserer Stiftung engagiere, wurde ich auch immer wieder gewarnt: Pass auf dich auf, das ist gefährlich, zieh dich lieber zurück. Aber ich habe gesagt: Nein, das mache ich nicht. Ich habe keine Angst, nicht mal vor dem Tod.
In Rostock-Lichtenhagen haben viele Stellen versagt, vor den Ausschreitungen, währenddessen und auch danach. Frau Temiz-Unvar, haben Behörden und Politik seither dazugelernt?
Temiz-Unvar: Ich muss leider sagen, dass wir von den Behörden nicht ernst genommen wurden. Schon in der Tatnacht nicht. Niemand hat mit uns gesprochen, niemand hat mir gesagt, was mit Ferhat passiert ist. 22 Stunden lang lag mein Sohn auf dem Boden und niemand hat kontrolliert, was mit ihm ist – weil er sowieso tot gewesen sei, haben sie hinterher gesagt. Erst nach fünf Tagen hat man mich zu ihm gelassen. Und später haben wir auch viel Schlimmes erlebt.
Was denn?
Temiz-Unvar: Viele von den Politikern kommen bei uns vorbei für ein Foto, lächeln in die Kamera und dann gehen sie wieder. Was soll das? Ich hatte einen Termin beim Opferbeauftragten der Bundesregierung. Eine Mitarbeiterin sagte, ich solle doch froh sein über das Geld – mein Sohn hätte ja auch bei einem Autounfall sterben können, dann hätte ich nichts bekommen. Können Sie sich vorstellen, wie sich das anfühlt? Mir geht es nicht um Geld. Mein Sohn ist tot und er kommt nicht wieder. Genau wie die anderen Kinder. Aber wir kämpfen, für alle anderen Jugendlichen in Deutschland. Damit so etwas nicht wieder passiert.
Richter: Damals in Rostock wurden die Vietnamesinnen und Vietnamesen erst mal in einer Sporthalle untergebracht. Und am nächsten Morgen sagte der stellvertretende Oberbürgermeister zu mir, die bräuchten ja jetzt was zu essen – ich solle mal von jedem so 10 oder 15 Mark einsammeln und einkaufen. Ich dachte: In welchem Film bin ich hier? Diese Menschen wurden gerade angegriffen und sollen jetzt im Notquartier ihre Verpflegung selber bezahlen? Ich habe dann die Freudenberg-Stiftung kontaktiert. Die haben das übernommen und die Sache öffentlich gemacht. Natürlich haben dann sehr schnell Journalisten nachgefragt, ob Rostock tatsächlich die Opfer dieser Gewalttat sich selber versorgen lassen will. Ich sage Ihnen, da hat die Stadt das ganz schnell übernommen.
Der Angriff auf das „Sonnenblumenhaus“, eine Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen in Rostock-Lichtenhagen, jährt sich dieser Tage zum 30. Mal. Die taz sagt: Kein Zurück zur Tagesordnung, Rassismus ist bis heute ein gesellschaftliches Problem – mit dem wir uns über die gesamte nächste Woche beschäftigen. Am 24. August sprechen wir im taz talk mit Gästen* über die Bilder, die das Pogrom hinterließ. Alle Texte und Informationen zum Thema unter: taz.de/lichtenhagen.
Da geht es auch darum, Verantwortung zu übernehmen, oder?
Richter: Ein paar Tage nach dem Angriff gab es einen Pressetermin im Rostocker Rathaus. Vorne standen der Oberbürgermeister und zehn Senatoren – so viele gab es damals noch in Rostock. Und ich und Herr Thinh, der Sprecher der Vietnamesen. Eine Journalistin hat jeden Einzelnen gefragt, welche Fehler sie gemacht hätten. Und alle haben nacheinander geantwortet, sie hätten keine Fehler gemacht. Einer sagte, er hätte keine „wesentlichen“ Fehler gemacht. Aber auf die Nachfrage, welche unwesentlichen Fehler das waren, fiel ihm auch nichts ein. Aber selbstverständlich wurden Fehler gemacht, auch von mir, und das habe ich dort auch gesagt. Jede Menge Fehler sogar. Sonst kann so etwas doch gar nicht passieren.
Temiz-Unvar: Verantwortung zu übernehmen ist wichtig. Unser Oberbürgermeister war zwar von Anfang an sehr sensibel im Umgang mit uns. Aber es sollte in Hanau ja ein Denkmal für unsere ermordeten Kinder geben. Und für uns war klar: Das muss im Stadtzentrum sein, auf dem Marktplatz. Unsere Kinder gehörten ja zu Hanau, wurden dort getötet, innerhalb weniger Minuten.
Aber die Stadtversammlung stimmte dagegen. Ihr Argument: Eine Mehrheit der Hanauer*innen wolle ein Denkmal, aber nicht an dieser Stelle.
Temiz-Unvar: Wo soll es denn sonst hin? In eine Ecke, in einen Wald? Ich finde das respektlos.
Richter: Das ist furchtbar.
Temiz-Unvar: Unsere Kinder verdienen einen guten Platz. Und wir Menschen müssen uns daran erinnern, weil wir schnell vergessen. Und dann passiert so etwas noch mal, dann sterben noch mehr Menschen. Die deutsche Gesellschaft muss hier Verantwortung übernehmen.
ist Gründerin der Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Ihr Sohn Ferhat wurde am 19. Februar 2020 bei dem rassistischen Anschlagin Hanau ermordet.
Herr Richter, wie steht es denn um das Gedenken in Rostock?
Richter: Natürlich gibt es die, die damit endlich in Ruhe gelassen werden wollen. Oder die sagen, es musste ja Gewalt passieren, sonst hätten die Behörden diese Missstände auf der Wiese vor der Aufnahmeeinrichtung nie behoben. Das hören die Journalisten auch immer gerne, wenn sie dorthin fahren. Aber es gibt auch viele ganz andere Stimmen und eine Zivilgesellschaft, die das Geschehene wach hält und zum Beispiel in die Schulen trägt. Auch die später Geborenen müssen ja erfahren, was in ihrer Stadt passiert ist. Aber das mit dem Denkmal hat sich bei uns auch über 20 Jahre hingezogen. Dann sollte es eine Tafel am Sonnenblumenhaus geben, dagegen hat der Ortsbeirat von Lichtenhagen protestiert: Das trage zur Stigmatisierung bei. Heute haben wir eine gute Lösung, finde ich, aber auch das war ein Prozess.
Wie sah der aus?
Richter: Vor sieben oder acht Jahren wurde sehr entschlossen gehandelt. Eine Kommission hat sich damals mit Gedenken in Rostock generell beschäftigt. Es wurde ein europaweiter Wettbewerb ausgeschrieben, über 70 Künstlerinnen und Künstler haben sich beworben mit Entwürfen für das Gedenken im öffentlichen Raum. Gewonnen hat ein Entwurf für fünf Stelen, die an unterschiedlichen relevanten Punkten der Ereignisse aufgestellt wurden.
Wo denn?
Richter: Eine steht vor dem Rathaus, für das politische Versagen. Eine vor der Polizeistation, für das Polizeiversagen. Eine vor der Ostseezeitung, stellvertretend für das Versagen der Lokalmedien. Eine steht in Lichtenhagen und eine dort, wo damals das Jugendalternativzentrum war, von wo die jungen Leute kamen, die damals als Unterstützer im Haus waren. Im Jahr darauf hat dann aber ein Verein, den ich mitgegründet hatte, darauf hingewiesen, dass eine wichtige Stele fehlt: Und zwar die, die unmittelbar den betroffenen Migrantinnen und Migranten gewidmet ist. Wir haben als Verein dann die Finanzierung organisiert und die gleichen Künstler gebeten, eine sechste Stele zu fertigen. Und die steht heute mitten in Rostock an einem sehr zentralen Platz. Über den Standort gab es auch keine Diskussion mit der Stadt, dass sie genau dort stehen darf.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Nun haben wir seit Herbst 2021 eine Regierung, die das erste Mal eine Beauftragte für Antirassismus ernannt hat, deren Innenministerin Rechtsextremismus als die größte Gefahr im Land benennt und deren Mitglieder beim Gedenken in Hanau präsent waren – während Bundeskanzler Helmut Kohl in den 1990er Jahren nicht Teil von „Beileidstourismus“ sein wollte. Frau Temiz-Unvar, haben Sie Hoffnung, dass sich im Umgang mit rechter Gewalt etwas verändert?
Temiz-Unvar: Natürlich, wie bei jedem Neuanfang. Und in Reem Alabali-Radovan, die Antirassismusbeauftragte, setze ich wirklich große Hoffnungen. Sie hat uns ein paar Mal besucht. Sogar als am Jahrestag die Züge nicht fuhren, ist sie mit dem Auto gekommen. Nicht alle sind unsensibel, es gibt viel Gutes – aber es muss mehr werden.
Richter: Und vor allem müssen die Probleme pragmatisch angegangen werden. Da reicht es nicht, wohlfeile Reden zu schwingen, das kennen wir ja zu Genüge von Politikern. Sondern da muss geguckt werden: Was kann denn konkret geändert werden? Und da muss man dann vielleicht auch realistisch sein und schauen: Was kann man im Lokalen erreichen, was im Überregionalen, was im ganzen Land?
Temiz-Unvar: Ja, da haben Sie Recht.
Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Maßnahmen, um in dieser Hinsicht ganz konkret etwas zu erreichen?
Temiz-Unvar: Zuerst mal muss das Waffengesetz geändert werden. Wenn dieser Rassist keine Waffe gehabt hätte, hätte er auch niemanden töten können.
Richter: Der hat offiziell eine Waffe besessen?
Temiz-Unvar: Ja. Das ist unglaublich. Und dann brauchen unbedingt die migrantischen Selbstorganisationen mehr Unterstützung. Wir engagieren uns mit der Bildungsinitiative Ferhat Unvar, aber das allermeiste müssen wir selbst finanzieren, mit Spendengeldern. Und da, wo wir Unterstützung beantragen können, ist die Bürokratie viel zu kompliziert – dabei brauchen wir das dringend, für die Miete und die Möbel für das Büro, für zwei halbe Stellen. Tausende Papiere ausfüllen, Anträge schreiben … Unsere Initiative besteht aus den Jugendlichen von Hanau und mir, einer alleinerziehenden Mutter. Wir verstehen von so Papierkram nichts. Aber wir machen wichtige Arbeit, eigentlich sollte die Stadt uns Danke sagen und uns unterstützen.
Richter: Das habe ich schon ein paar Mal gedacht, während Sie erzählt haben – dass die Stadt Hanau Ihnen eigentlich den roten Teppich ausrollen sollte für das, was Sie tun. Und ich stimme zu, wir müssen daran arbeiten, dass Migrantinnen und Migranten in dieser Gesellschaft immer stärker öffentlich präsent sind. Ich denke, da tut sich auch etwas. Wenn Sie zum Beispiel mal schauen, wer inzwischen so alles in politischen Gremien sitzt, das ist deutlich vielfältiger geworden. Wie viele Generationen muss man in Deutschland leben, um dazuzugehören? Da muss man auch dafür sorgen, dass es eine Chance gibt, dazugehören zu können. Das fängt in der Kita schon an und zieht sich dann durch alle Lebensstationen. Es geht nicht um Bevorzugung – sondern schlicht einen Ausgleich von Nachteilen. Es ist die verdammte Pflicht der Politiker, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass das möglich ist.
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