Bestseller über Entscheidungsfähigkeit: Kaum Verlass auf die Urteilskraft

„Noise“ verzerrt menschliche Entscheidungen. Nobelpreisträger Daniel Kahneman zeigt, was Entscheidungsrhythmen verbessert.

Illustration einer Silhouette eines Kopfes, in dem Arbeiter diesen mit Werkzeug bearbeiten

Zahlreiche Faktoren spielen bei der Entscheidungsfindung eine Rolle Foto: Gary Waters/Ikon Images/imago

Und weil der Mensch ein Mensch ist und keine Maschine, pflegt er oft zu irren. Menschen haben vorgefasste Haltungen zur Welt, die ihre Urteile beeinflussen; sie haben Körper, deren Befindlichkeiten sich unbemerkt auf Entscheidungen auswirken; sie unterliegen Stimmungsschwankungen und verschiedenen Tagesformen.

Bei Ersterem handelt es sich um Bias, vulgo Vorurteile. Bias trägt dazu bei, dass in den USA mehr dunkel- als hellhäutige Menschen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt werden, und Bias führt dazu, dass Menschen mit fremdländisch klingenden Nachnamen in Deutschland überdurchschnittliche Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche haben. Bias ist relativ gut erforscht.

Es gibt daneben aber noch zahlreiche andere Faktoren, die menschliche Entscheidungen verzerren und die dazu führen, dass in praktisch jedem Bereich, in dem eine Entscheidung oder Beurteilung getroffen werden muss, eine große Streuungsbreite von Ergebnissen festzustellen ist.

Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein: „Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2021, 480 S., 30 Euro

Das betrifft Gerichtsurteile ebenso wie medizinische Diagnosen, Wetterprognosen, Leistungsbewertungen oder Versicherungsleistungen. Und natürlich betrifft es geschäftliche Entscheidungen innerhalb von Unternehmen. Dieses breitgestreute Grundrauschen, Noise genannt, haben Daniel Kahneman und seine Co-Autoren Olivier Sibony und Cass R. Sunstein jetzt erstmals umfassend beschrieben.

Nicht identisch mit sich

Noise hat viele Ursachen und liegt, sehr allgemein gefasst, darin begründet, dass Menschen verschieden und auch mit sich selbst nicht von einem Tag zum anderen hundertprozentig identisch sind.

Die „Weisheit der Menge“ – ein faszinierendes Phänomen, das 1907 zum ersten Mal gezielt erfasst wurde

Die Autoren führen frappierende Noise-Beispiele aus sehr verschiedenen Bereichen an. So berichten sie etwa über eine Studie über die Urteile von Asylrichtern. Dabei „kam heraus, dass ein Richter 5 Prozent der Asylsuchenden anerkannte, während ein anderer 88 Prozent anerkannte. Der Titel der Studie sagt alles: ‚Flüchtlingsroulette‘.“ (Im übrigen fallen Gerichtsurteile grundsätzlich strenger aus, wenn RichterInnen hungrig sind, Verhandlungen also etwa kurz vor der Mittagspause stattfinden.)

Eine Studie, die sich mit medizinischer Diagnostik befasste, brachte zutage, dass bei der Begutachtung von Mammografie-Aufnahmen zwar manche ÄrztInnen fast jeden Fall von Brustkrebs richtig diagnostizierten, andere dafür aber in mehr als der Hälfte der Fälle irrten. Und sogar in als absolut eindeutig geltenden Disziplinen wie der kriminalistischen Forensik gibt es ein bedenkliches Grundrauschen.

Der britische Kognitionswissenschaftler Itiel Dror untersuchte in mehreren Studien, ob auch bei der Auswertung von Fingerabdrücken sogenanntes Occasion Noise vorkommt. Der Begriff bezeichnet das Phänomen, dass ein und dieselbe Person dieselben Fragestellungen nicht immer gleich entscheidet, sondern je nach Gelegenheit möglicherweise unterschiedliche Einschätzungen vornimmt.

Zweimal derselbe Fingerabdruck

In nicht vorher bekanntgegebenem zeitlichem Abstand wurde den an der Studie teilnehmenden ExpertInnen zweimal derselbe Fingerabdruck zur Analyse vorgelegt – das erste Mal ohne, das zweite Mal mit darüber hinausgehenden fiktiven, den Fingerabdruckinhaber entlastenden Informationen. (Tatsächlich werden auch im kriminalistischen Alltag oft solche Informationen an die Forensik weitergegeben.)

Das Ergebnis fiel erschreckend aus: „In der ersten Studie änderten vier von fünf Experten ihre frühere Identifikationsentscheidung, als sie starke kontextuelle Informationen erhielten.“

„Noise ist ein unsichtbarer Feind“, schreiben die Autoren. Ein entscheidungsverzerrendes Grundrauschen ist schwieriger zu fassen als Bias, da es ganz verschiedene, zudem auch völlig zufällige Ursachen haben kann. Doch gibt es durchaus Wege, Noise zu reduzieren, was allerdings voraussetzt, sich dessen Existenz bewusst zu sein. Kahneman & Co. empfehlen Unternehmen und Organisationen, ein „Noise Audit“ durchzuführen, und geben dazu auch konkrete Hinweise und Hilfen.

Tatsächlich gibt es ein paar einfache Methoden der Noise-Reduzierung (neben dem Einsatz von Algorithmen, die zwar auch ihre Tücken haben, aber zumindest bei einfachen Sachentscheidungen durchschnittlich besser abschneiden als Menschen).

Ich und die Gruppe

Gruppenentscheidungen sind zum Beispiel extrem anfällig für Noise. Das lässt sich minimieren, wenn die Entscheidungen nicht in offener Diskussion gefällt werden, sondern jedes Mitglied der Gruppe die Möglichkeit hat, allein zu seinem persönlichen Urteil zu kommen. Aus allen individuellen Einschätzungen kann ein einigermaßen gerechter Mittelwert gebildet werden.

Ein noch besseres/gerechteres Ergebnis kommt dann zustande, wenn alle Begründungen für die individuellen Ansichten öffentlich gemacht werden und anschließend eine weitere geheime Entscheidungsrunde absolviert wird.

Diese Methode bildet im Kleinen die sogenannte „Weisheit der Menge“ nach, ein faszinierendes Phänomen, das 1907 zum ersten Mal gezielt erfasst wurde: Von 787 Bewohnern eines englischen Dorfes, die damals gebeten wurden, das Gewicht eines Ochsen zu schätzen, traf zwar keine einzige Person genau den richtigen Wert. Der Mittelwert aller Schätzungen aber lag lediglich um ein Kilo daneben.

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