Bestandsaufnahme der EU: Im europäischen Zwischenland
Die EU ringt um Stabilität. Am Ende der Pandemie zeigt sich, dass wir aufeinander angewiesen sind. Das ist eine Chance für engere Zusammenarbeit.
P olitische Stabilität ist keine Selbstverständlichkeit. Das hat die Erstürmung des Bundesparlaments in den USA vor einem Jahr nachdrücklich in Erinnerung gerufen, in einer mehr als 230 Jahre alten Union. Auch die wesentlich jüngere Europäische Union, Rechtsgemeinschaft und Friedensgarantin in der alten Welt nach den fürchterlichen Erfahrungen zweier Weltkriege, erscheint weniger denn je als dauerhaft gesichert.
Zurück zum Nationalstaat war vielerorts der erste Reflex nach Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020. Längst überwunden geglaubte Grenzen wurden wieder sichtbar, Schlagbäume, Grenzkontrollen, Einreisesperren. Die europäische Integration ist indessen nicht nur wegen der Pandemie in der Defensive.
Nach der Eurokrise ab 2010, der sich anschließenden Flüchtlingskrise, dem Endlosdrama um den britischen Austritt und nun der Rechtsstaatskrise insbesondere in Polen und Ungarn ist die europäische Integration seit mehr als einem Jahrzehnt im Krisenmodus, in ungesichertem Terrain – in einem Zwischenland. Keine der Krisen kann als sicher überwunden gelten. Vor allem die Rechtsstaatskrise in Polen betrifft die Substanz der EU als Rechtsgemeinschaft.
Es geht dort nicht um vereinzelte Rechtsverstöße, sondern den systemischen Umbau zu einem Land ohne unabhängige Gerichtsbarkeit. Den aktuellen Machthabern geht es dabei vorrangig um die Sicherung dieser Macht. Unabhängige Gerichte und europäische Beobachtung stören da nur. Eine unabhängige Gerichtsbarkeit ist aber Beitrittsvoraussetzung und damit Geschäfts- und Vertrauensgrundlage für das rechtliche Miteinander in der EU.
ist Professor an der Universität Bielefeld. Er arbeitet zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, zu Europarecht und zu Rechtspolitik.
Polen rauswerfen geht nicht
Schon deswegen kann von einer rein innerpolnischen Angelegenheit keine Rede sein. Es geht um die Frage, ob Polen in dieser Verfassung noch Mitglied der EU bleiben kann. Das große Problem der EU ist dabei, dass man einem Mitgliedstaat nicht einfach kündigen kann, anders als übrigens beim Europarat, dort ist ein Rauswurf möglich. Entsprechend macht die Europäische Kommission, was sie machen kann:
Sie geht mit den Mitteln des Rechts gegen den Rechtsstaatsabbau vor, mit Vertragsverletzungsverfahren und Zwangsgeldern. Bisher war dies nur begrenzt wirksam. Zwangsgelder in Höhe von 1 Million Euro pro Tag sind für einen Staatshaushalt gut verkraftbar, und selbst der zwischenzeitlich eingeführte, aber noch vom EuGH auf seine Kompetenzmäßigkeit zu prüfende Rechtsstaatsmechanismus, mit dem EU-Haushaltsmittel gesperrt werden können, dürfte nur begrenzte Reichweite entfalten.
Anders verhält es sich mit der Sperre der zur Pandemiefolgenbewältigung aufgelegten Wiederaufbauprogramme, wo es um Größenordnungen von 40 bis 60 Milliarden Euro geht. Dies würde in Polen spürbar sein. Die Eskalation des Streits kann zum Austritt führen, es besteht freilich auch das Risiko des „dirty remain“: der Nichtaustritt bei kontinuierlicher Sabotage aller innerunionalen Vorhaben, die Einstimmigkeit erfordern. Ein schneller Ausweg aus dem Dilemma zeichnet sich nicht ab.
Wirklich gefährlich an der Entwicklung in Polen ist vor allem die offen aggressiv beanspruchte bedingungslose Vorfahrt des Nationalstaates, gegen jede eingegangene rechtliche Bindung. Dieses Zurück zum Nationalstaat ist kein isoliertes Phänomen, was der Beifall aus Ungarn wie auch die verstörend nationalistischen Töne aus dem konservativen Spektrum in Frankreich indizieren. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung bezieht scheinbar klare Stellung in Sachen Rechtsstaatlichkeit.
Verstörende Töne aus Frankreich
Die Bundesregierung will bei den Entscheidungen über Mittel aus dem Wiederaufbaufonds nur zustimmen, „wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige Justiz gesichert sind“. Genau gelesen macht man dies aber abhängig von den Vorschlägen der Kommission. Auch sonst verliert der Koalitionsvertrag eher, je länger man die Europapassagen liest.
Dass die bisher in Deutschland weitgehend unbeachtet gebliebene, nur sehr schleppend in Gang gekommene Konferenz zur Zukunft Europas „in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“ sollte, lässt zunächst aufhorchen. Derartige legal science fiction findet sich für gewöhnlich eher in Grundsatzprogrammen, wo sie auch ihre Berechtigung hat, nicht im Regierungsfahrplan für die nächsten vier Jahre.
Aus europaverfassungsrechtlicher Sicht stellen sich sofort Fragen. Nicht nur weil es keine „nicht-föderalen“ Bundesstaaten gibt und man für einen Bundesstaat mindestens noch einen Mitstreiter bräuchte – unter den anderen Mitgliedstaaten weit und breit nicht in Sicht. Die Eingliederung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat ist zudem insbesondere mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG nicht vereinbar.
Es wäre also eine Grundgesetzänderung oder gar eine völlig neue deutsche Verfassung erforderlich – eine rechtliche Revolution. Wollte man das ernsthaft, dann würde man es doch weiter vorne im Text ansprechen, jedenfalls aber einen verfassungsrechtlichen Pfad zum Bundesstaat skizzieren. Noch befremdlicher ist der Koalitionsvertrag mit der Zielsetzung, der Europäische Gerichtshof solle nationales Recht ohne jeden EU-Bezug an europäischen Grundrechten messen können.
Koalition zeigt Gestaltungswillen
Auch dies käme einer rechtlichen Revolution gleich, aus verfassungs- wie europarechtlicher Perspektive, für die weder in Deutschland noch in der EU die erforderlichen verfassungs- und vertragsändernden Mehrheiten in Sicht sind. An diesen Stellen mangelt es dem Koalitionsvertrag an Ernsthaftigkeit.
Eine denkbare Erklärung dafür wäre, dass in den Verhandlungen viele EP-Abgeordnete die Feder geführt haben und dabei möglicherweise so etwas wie eine Wunschliste erstellten, die in der Folge dann asymmetrischerweise vor allem die nationalen Abgeordneten abzuarbeiten haben. Als positive Deutungsmöglichkeit bleibt immerhin, dass hier europäischer Gestaltungswille dokumentiert ist, der sich deutlich von der alten Regierung absetzt.
Deren Europapolitik kann im Wesentlichen als reaktiv passiv beschrieben werden. Auf Emmanuel Macrons Sorbonne-Rede zur Zukunft der EU 2017 hatte es aus Deutschland nie eine konzeptionelle Antwort gegeben. Für einen konkreten Gestaltungswillen jedenfalls in Teilen der Koalition spricht auch die Art und Weise, wie sich die Grünen in den Ministerien und im Bundestag die Europaschaltstellen gesichert haben. Dies wird aber nicht reichen.
Erstens weil der europäische Bundesstaat in Frankreich und anderswo eher als eine Art europapolitische „Dicke Bertha“ denn als ernst gemeinte konzeptionelle Antwort verstanden werden dürfte. Immerhin wird Macrons Leitmotiv von der europäischen Souveränität aufgegriffen. Das ist indes ein vor allem nach außen in die Welt gerichtetes Konzept, das für die innereuropäische Zukunftsdiskussion wenig aussagt.
Zweitens aber wird es wohl auch künftig für die europapolitische Positionierung Deutschlands zentral auf den Kanzler ankommen. Ob und was Olaf Scholz in Sachen Europa vordenkt, ist unklar. Mit der Sentenz vom Hamilton-Moment anlässlich der EU-Schuldenaufnahme, deutbar als Annahme einer Parallele zur Entstehung der amerikanischen Union, hat er im Frühjahr 2020 Aufsehen erregt. Das alleine geht als überzeugendes Gegenkonzept zu den Neonationalisten indes nicht durch.
Eine Antwort auf Macrons Sorbonne-Rede steht aus. In der Pandemie ist die EU dann ja doch noch sichtbar geworden. Am Ende des zweiten Pandemiejahres hat sich herumgesprochen, dass die EU im Bereich der Gesundheitspolitik deswegen wenig zu melden hat, weil sie von den Mitgliedstaaten ganz absichtsvoll mit mageren Zuständigkeiten ausgestattet wurde. Viel mehr als beobachten, informieren und koordinieren darf die EU nicht.
Entsprechend blass ist das „europäische RKI“, das ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control) bisher geblieben. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA kennt dafür mittlerweile fast jeder. Nach anfänglichem Ruckeln hat die gemeinsame Impfstoffbeschaffung wohl doch bessere Ergebnisse erbracht als ein nationaler Überbietungswettbewerb. Über die EU ist es gelungen, Wiederaufbaumittel für die Mitgliedstaaten in enormer Höhe zu generieren.
Die Pandemie kümmert Grenzen wenig
In der wechselseitigen Anteilnahme an den jeweils anderen nationalen Entwicklungen ist vielen Unionsbürgern auch die wechselseitige Abhängigkeit in der EU klarer geworden und dass eine weltweit wütende Pandemie sich nicht um Grenzen schert. Zu den Lehren aus der Pandemie wird gehören, dass sich der territoriale Nationalstaat mit seinen Bindungskräften und seinen Machtmitteln alles andere als überwunden gezeigt hat.
Dies wird als Argument für ein Zurück zum Vorrang des Nationalstaates verwendet werden, wie sich in Frankreich im beginnenden Präsidentschaftswahlkampf schon zeigt. Gleichwohl bleibt, was die Neonationalisten propagieren, eine Sackgasse. Es hat sich nämlich auch einmal mehr die relative Machtlosigkeit des Nationalstaates bei globalen Problem- und Gefährdungslagen bestätigt.
Dies gilt nicht nur für pandemische Gesundheitsgefahren, sondern auch für Fragen der Migration, Klimawandel, innere und äußere Sicherheit. Zwar kann europäische Zusammenarbeit auch bedeuten, dass Kompromisse nötig sind und wie auch sonst in der Demokratie andere Mehrheiten ertragen werden müssen, wie aktuell die Taxonomie-Debatte um die Einordnung der Kernkraft belegt.
Auch verfügt das rationale Projekt einer europäischen Rechtsgemeinschaft nicht über die Pathosvorräte des Nationalen und kann in diese Richtung wenig Halt anbieten. Insgesamt dürfte aber am Ende der Pandemie doch für die übergroße Mehrheit die Einsicht stehen, dass wir Europäer aufeinander angewiesen sind und dass es eher mehr als weniger verrechtlichter übernationaler Zusammenarbeit in Europa bedarf. Dieses Momentum gilt es zu nutzen.
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