Berlins Sozialdemokraten haben gewählt: Die zwei von der SPD
Mit sechs Monaten Verspätung lösen Franziska Giffey und Raed Saleh Michael Müller an der Spitze der SPD ab – auf einem denkwürdigen Parteitag.
Nur eines dieser Wahllokale gibt es pro Bezirk und Kreisverband. Und wenn das SPD-Büro, wie etwa in Steglitz-Zehlendorf, ziemlich am Rand in Lankwitz liegt, kann das schon mal 16 Kilometer Anfahrt von Wannsee aus bedeuten. Trotzdem tauchen auch die dortigen Delegierten samt jenen aus Nikolassee Freitagnacht um halb elf Uhr aus dem Dunkel auf. Der Parteitag war zuvor um genau 21.43 Uhr für die Wahl unterbrochen worden, fast zwei Stunden später als geplant.
Eigentlich soll sich vor dem Wahllokal keiner länger als nötig aufhalten. Aber immerhin stehen Kannen mit Glühwein und Kinderpunsch samt ein paar Schokoweihnachtsmännern bereit: Man muss sich schließlich auch ein bisschen austauschen, wie man das alles findet. Coronabedingt sitzen nur der Landesvorstand samt Parteitagspräsidium und ein paar Technikhelfer – insgesamt kaum mehr als 30 Menschen – im Kongresszentrum des riesigen Estrel-Hotels in Neukölln.
Der Rest der rund 270 Parteitagsdelegierten hockt über die Stadt verteilt vor dem Bildschirm. „Ich muss hier erst mal meine Ankunftsdepression überwinden“, erzählt SPD-Vizechefin Ina Czyborra am Telefon der taz, als sie den so untypisch stillen Ort erreicht.
Wobei mancher der virtuellen Parteitagsbesucher durchaus kundtut, dass das auch seine positiven Seiten hat: Endlich könne man beim Parteitag rauchen und Wein trinken, twittert Abgeordnetenhausmitglied Sven Kohlmeier und schickt als Beleg gleich ein Foto mit. Er findet es toll, in der Parteitagsaussprache den Landeschef reden zu hören und gleichzeitig mit seinen Kindern zu puzzeln.
Die gut 30 SPDler im Estrel und ihre Parteifreunde vor den Bildschirmen – ob mit oder ohne Wein und Puzzle – erlebten am Freitagabend einen emotionalen Abschied. Jedenfalls so emotional, wie das in dieser hybriden Form möglich ist. „Du warst mit zwölfeinhalb Jahren der am längsten amtierende Landeschef der Berliner SPD nach dem Krieg“, würdigt Innensenator Andreas Geisel den scheidenden Vorsitzenden Michael Müller. Zum Abschied gibt es einen Originaldruck von Andy Warhol mit dem Konterfei eines rauchenden Willy Brandt und von Geisel einen Satz, den man sonst nur aus der linken Szene kennt: „Michael, der Kampf geht weiter.“
Zweimal musste der Parteitag verschoben werden
Vor allem aber geht es an diesem Abend um die Kür der Nachfolger Müllers. Zweimal hatte die SPD ihren Landesparteitag wegen Corona verschieben müssen, ursprünglich war er für Mai vorgesehen. Zweimal musste Franziska Giffey darauf warten, zusammen mit Raed Saleh die Führung der SPD zu übernehmen. Und schon seit Langem galt als sicher, dass Giffey Noch-Regierungschef Müller, der in den Bundestag wechseln möchte, nach der Wahl auch im Roten Rathaus ablösen will.
Bloß war das noch nie von ihr selbst zu hören – bis zum Samstagmorgen, als die Abstimmung ausgezählt ist: „Ich will euch auch sagen, wenn ihr es wollt, dann bin ich auch bereit, Eure Spitzenkandidatin zu sein für das nächste Jahr“, sagt Giffey nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses. 89,4 Prozent der insgesamt 265 abgegebenen Stimmen waren auf Franziska Giffey entfallen, für Raed Saleh stimmten 68,7 Prozent.
In ihrer Bewerbungsrede hatte sie – in einem SPD-roten Kleid – noch einmal ihren politischen Werdegang nachgezeichnet und sich erneut als Anpackerin präsentiert. Zum Ärmelhochkrempel ruft sie auf, auch wenn das streng genommen in ihrem Kleid schlecht ginge. Und betont wie schon öfter das, was anderen oft als zu kleinteilig erscheint: So fordert sie etwa, dass es künftig nicht nur in jeder Schule wieder eine feste Reinigungskraft gibt, sondern gleich ein ganzes Reinigungsteam.
Dass die Freie Universität Berlin ihre umstrittene Doktorarbeit ein weiteres Mal prüft, erwähnt Giffey mit keinem Wort. Als Zusicherung, auch bei einer Aberkennung Landesvorsitz und Spitzenkandidatur nicht aufzugeben, lassen sich aber zwei Kernsätze ihrer Rede verstehen: „Ihr könnt euch auf mich verlassen, egal was passiert und was die Leute sagen. Ich bin da, und ich will gemeinsam mit euch, dass wir für die Sozialdemokratie in Berlin das Beste tun.“ Für Giffey ist die Affäre mit ihrer Entscheidung, den Doktortitel nicht mehr zu führen, also beendet.
Die Sicherheit betont
Inhaltlich bringt Giffey ihre Botschaft mit „fünf B“ an die Delegierten: Bauen, Bildung, Beste Wirtschaft, Bürgernähe und Berlin in Sicherheit. Letzteres, betont die 42-Jährige, bedeute nicht nur soziale Sicherheit, sondern auch innere Sicherheit. „Wer in Berlin lebt, soll sich sicher fühlen können. Wir müssen denjenigen den Rücken stärken, die sich dafür einsetzen.“
Schon im Vorfeld des Parteitags hatte sie sich mit Saleh dafür eingesetzt, mehr Polizei, unter anderem auch „gegen Linksextremisten“, einsetzen, neue U-Bahnen bauen und bei der Verkehrswende auch die Autofahrer nicht benachteiligen zu wollen.
Die neue SPD-Chefin Franzika Giffey ist beim Landesparteitag, der sich im Hotel Estrel, in zwölf Wahllokalen und vor vielen Bildschirmen stadtweit abspielte, auf ein Ergebnis von 89,4 Prozent gekommen. Co-Chef Raed Saleh erhielt 68,7 Prozent. Ihr Vorgänger Michael Müller hatte 2016 bei seiner Rückkehr an die SPD-Spitze 81,7 Prozent erhalten, 2018 noch 64,9. Unverändert ist die Stellvertreterriege: Alle vier Vizes bleiben im Amt. Das beste Ergebnis erhielt Innensenator Andreas Geisel, der wie Giffey auf 89 Prozent kam, vor Ina Czyborra mit 81,8 sowie Iris Spranger und Julian Zado mit je 62,6 Prozent. (sta)
Dass bei diesem von vielen als zu rückwärts gewandt empfundenen Programm auch die Parteibasis ein Wörtchen mitreden will, wird am Freitag deutlich. Ein Antrag der „AG Migration und Vielfalt“ fordert die Delegierten auf, das Wort „Clan-Kriminalität“ aus der sogenannten Konsensliste zu streichen. Begründung: Es sei als „Konzept des Racial Profiling“ ersatzlos abzulehnen.
Der Antrag, ein Affront nicht nur gegen Giffey, sondern auch Innensenator Geisel, der zuletzt mit Razzien gegen die organisierte Kriminalität mobil gemacht hatte, kommt zunächst durch, weil die Antragskommission seine Annahme empfohlen hatte. Geisel wiederum hat die Partei in seinen Lobesworten für Müller daran erinnert, dass man Führung auch zulassen müsse – was nahelegte, mancher SPDler sehe in seiner Spitze kaum mehr als einen Festausschuss samt Mitgliederverwaltung.
Für Giffey und Saleh ist der Antrag die erste Nagelprobe. Doch sie bestehen sie. Nach einer Intervention des Neuköllner Bürgermeisters Martin Hikel wird der Antrag wieder von der Konsensliste genommen. Später betont Giffey: „Die Bekämpfung der Clan-Kriminalität bleibt ein Schwerpunkt der Berliner SPD. Wer mich gewählt hat, weiß, wofür ich stehe. Ehrliche Politik beginnt damit, dass man sagt, was ist.“
Nun will die neue Landeschefin mit der Erarbeitung eines Wahlprogramms beginnen. Bis zum Frühjahr soll es fertig sein. Giffey nennt es ein Programm, von dem viele Berlinerinnen und Berliner sagen sollen: „Find ick jut.“ Vielleicht dann auch wieder in echt und nicht hybrid.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“