Berliner Wochenkommentar I: Scheitern? Bitte woanders!
Die Debatte über Obdachlose aus Osteuropa, die vor allem im Tiergarten campieren, treibt seltsame Blüten. Über Vor- und Nachteile einer globalisierten Welt.
Dass es für Waren und Menschen innerhalb der EU quasi keine Grenzen gibt, gehört definitiv zu den feinen Sachen. Oder sagen wir mal zu denen, von denen wir alle nur zu gern profitieren: vom T-Shirt, günstig genäht in Rumänien, von der Pflegekraft aus der Slowakei, die einen Job macht, für den sich hier einfach nicht mehr genug finden. In Zeiten der wachsenden Stadt wäre auch der derzeitige Berliner Bauboom undenkbar ohne Arbeitskräfte aus Ost- und Südosteuropa.
Nun gibt es zwischen der Freiheit im Warenverkehr und der sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeit einen wesentlichen Unterschied. Die Lebensgeschichten, die mit billig produzierten Konsumgütern verbunden sind, verbleiben im Heimatland: Menschen, die krank werden oder Leistungsvorgaben nicht mehr schaffen, die Gescheiterten, die Elenden. Dem T-Shirt für neunneunundneunzig haften sie höchstens imaginär an.
Ganz anders verhält es sich mit Menschen, die aus ärmeren EU-Ländern kommen und in einem wirtschaftlich florierenden Deutschland nach Arbeit suchen. Die allermeisten tragen wie gesagt einen gehörigen Teil dazu bei, dass diese und andere Städte überhaupt funktionieren. Aber auch die, die es aus persönlichen oder gesellschaftlichen Gründen nicht schaffen, sind dann erst einmal hier.
Und nachdem diese Gruppe von der Stadt jahrelang ignoriert wurde, sind es jetzt plötzlich – oh Wunder – eine ganze Menge: Weit mehr als die Hälfte aller Berliner Obdachlosen kommt inzwischen aus anderen EU-Ländern, so die Schätzung der Wohlfahrtsorganisationen. Nach Jahren ohne ausreichende Betreuung fallen jetzt einzelne von ihnen als aggressiv auf. Und nun rufen Politiker nach Abschiebung und bloß nicht zu viel Hilfe, das könnte Anreiz für noch mehr Obdachlose aus Osteuropa sein.
Arbeiten hier, Scheitern bitte woanders? Dazu lässt sich nur sagen: Es ist von jeher ein schmutziges Geschäft, wenn man sich an den Vorteilen einer globalisierten Welt bereichert, sich aber mit den Nachteilen nicht befassen will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts