Belarus vor dem Verfassungsreferendum: Was hat Putin mit Belarus vor?
Auch aus Belarus sind russische Truppen in die Ukraine einmarschiert. Derweil ist die schleichende Annexion des Landes durch Russland in vollem Gange.
1 Im Rahmen von Russlands Großoffensive gegen die Ukraine sind russische Truppen in der Nacht zu Donnerstag auch von Belarus aus in das Nachbarland einmarschiert. Warum stehen russische Militäreinheiten derzeit in Belarus?
Unter dem Namen „Gemeinsame Entschlossenheit der Bündnispartner 2022“ läuft seit dem 10. Februar ein Manöver, für das rund 30.000 russische Soldaten nach Belarus eingerückt sind, darunter auch in die im Grenzgebiet zur Ukraine gelegene Region Brest. Die gemeinsamen Militärübungen sollten eigentlich am 20. Februar beendet sein, wurden dann aber auf unbestimmte Zeit verlängert. Offiziell begründet wurde dies mit zunehmenden militärischen Aktivitäten an den Grenzen zu Belarus und Russland sowie der Eskalation der Lage im Osten der Ukraine.
2 Laut Angaben des ukrainischen Grenzschutzes sollen an dem Einmarsch auch belarussische Militäreinheiten beteiligt sein. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko hat diese Information jedoch dementiert. Ist das glaubwürdig?
Obwohl das nicht überprüfbar ist, eher nicht. Lukaschenko steht stramm an Putins Seite. Am Dienstag dieser Woche und damit einen Tag vor Putins Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten forderte Lukaschenko Kiew auf, die Konfrontation mit Russland zu beenden. Im vergangenen November hatte er nach jahrelangem Zaudern die 2014 von Moskau völkerrechtswidrig annektierte Krim als „russisch“ anerkannt.
3 Lukaschenko hat sich als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine angeboten. Was steckt dahinter?
2014/15 war der Autokrat in Minsk bereits Gastgeber für Verhandlungen, die zum Abschluss zweier gleichnamiger Friedensabkommen für die Ostukraine führten. Damals ging es ihm vor allem darum, seine Rolle eines Parias auf internationaler Bühne gegen die eines Vermittlers zwischen West und Ost zu tauschen. Damit verbunden war auch die Hoffnung, von dem Flirt mit der EU finanziell zu profitieren. Heute scheint der Adressat dieser Offerte vor allem auch die eigene Bevölkerung zu sein. Die gefälschte Präsidentenwahl am 9. August 2020 und wochenlange Massenproteste, die Lukaschenko brutal niederschlagen ließ, haben sein Ansehen in der Bevölkerung stark beschädigt. Da bringt ein Auftritt als Vermittler vielleicht eine Dividende.
4 Am Sonntag findet in Belarus ein Referendum statt, das schon seit Längerem angekündigt ist. Was ist der Hintergrund dieser Volksabstimmung?
Auch diese Veranstaltung ist letztendlich eine Reaktion auf die Ereignisse von 2020. Das Referendum soll den Belaruss*innen signalisieren, Lukaschenko komme dem weit verbreiteten Wunsch nach Veränderungen in der Gesellschaft nach, ohne jedoch Neuwahlen anzusetzen. Diese sind immer noch eine zentrale Forderung der Opposition. Was mittlerweile vielfach nur noch eine Randnotiz ist: Massive Repressionen gegen die Zivilgesellschaft gehen unvermindert weiter. Aktuell führt die Menschenrechtsorganisaton Viasna (Frühling) 1.078 Personen als politische Gefangene (Stand: 24. Februar 2022).
5 Worum geht es bei dem Referendum genau?
Zur Abstimmung stehen unter anderem zentrale Änderungen der Verfassung, die sowohl den Posten des Präsidenten als auch weitere Verfassungsorgane betreffen. Demnach bleibt das Staatsoberhaupt weiterhin die zentrale Institution des Staates, doch wird seine Amtszeit auf zweimal fünf Jahre beschränkt. Diese Regelung greift jedoch erst nach dem Referendum. Eine massive Aufwertung erfährt die All-Belarussische Volksvertretung (BNS), die bislang in der Verfassung überhaupt nicht vorkommt. Sie soll zur „höchsten Form der Volksvertretung“ werden. In der BNS sitzen 1.200 Personen, die nicht gewählt werden, sondern aus dem Parlament, den Kommunen sowie gesellschaftlichen Organisationen entsandt werden. Ein amtierendes Staatsoberhaupt ist automatisch Mitglied der BNS und kann durch deren Mitglieder zum Vorsitzenden gewählt werden.
6 Ist auch die belarussische Außenpolitik von den geplanten Verfassungsänderungen betroffen?
In der Tat. So sollen die strategische Ausrichtung auf einen neutralen Status sowie die Atomwaffenfreiheit des Staatsgebietes ersatzlos gestrichen werden. Letztere geht auf das Budapester Memorandum aus dem Jahr 1994 zurück. Darin verpflichten sich Russland, die USA und Großbritannien gegenüber Belarus, Kasachstan und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität sowie die bestehenden Grenzen dieser Länder zu achten. Wie gut das geklappt hat, zeigte sich bereits 2014, als Moskau die ukrainische Halbinsel Krim annektierte. Warum sollte sich jetzt ausgerechnet Belarus an das Memorandum gebunden fühlen? Der belarussische Präsident Lukaschenko hat Putin übrigens unlängst angeboten, russische Atomwaffen bei sich zu stationieren, sollte die Nato ihre östlichen Mitgliedsstaaten weiter aufrüsten. Und die Aufhebung des Neutralitätsstatus macht künftig auch die Teilnahme an Militäroperationen im Ausland möglich. Noch 2019 hatte Lukaschenko einen Einsatz belarussischer Truppen in Syrien mit Verweis auf die Verfassung abgelehnt.
7 Wie bewerten Expert*innen diese Volksabstimmung?
Die meisten sind der Ansicht, dass das Referendum im Hinblick auf Lukaschenko eine Mogelpackung ist. Der könnte einerseits bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 erneut antreten und dann den Belaruss*innen auch noch für zwei weitere Amtsperioden erhalten bleiben. Oder er wird versuchen, an den Posten des BNS-Vorsitzenden zu kommen. In diesem Fall würde der oder die Nachfolger*in im Amt des Präsidenten unter verschärfter Kontrolle stehen – nicht nur vonseiten der BNS, sondern auch von deren Chef. Aber ein Verzicht Lukaschenkos auf das Präsidentenamt zeichnet sich derzeit nicht ab.
Erst kürzlich kündigte er an, so lange Präsident zu bleiben, wie es die äußeren Umstände erforderten. Zudem hat Lukaschenko wohl auch den Fall Kasachstan als abschreckendes Beispiel vor Augen. Der langjährige Präsident Nursultan Nasarbajew war 2019 zurückgetreten, hatte mit Kassim-Schomart Tokajew einen Nachfolger installiert, jedoch wichtige Posten und damit seinen Einfluss auf die Politik behalten. Im Januar 2022, nach landesweiten Protesten mit über 100 Toten, sägte Tokajew Nasarbajew kurzerhand ab. Das Modell eines geordneten Machttransfers, das auch als „Tandemokratie“ bezeichnet wird, war gescheitert.
8 Lukaschenko for ever – ist das der Grund, warum die Opposition die Belaruss*innen dazu aufgerufen hat, die Stimmzettel ungültig zu machen, indem sie sowohl Ja als auch Nein ankreuzen?
Nicht nur. Wie alle Wahlen und Volksabstimmungen in der 28-jährigen Amtszeit von Alexander Lukaschenko wird auch das bevorstehende Referendum massiven Fälschungen unterliegen. Abgestimmt werden kann bereits seit dem vergangenen Dienstag. In den sozialen Medien berichten Belaruss*innen, dass sie zur Stimmabgabe gedrängt und bei Widerstand mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht würden. Zudem können Belaruss*innen im Ausland nicht an dem Referendum teilnehmen, da dort keine Wahllokale eingerichtet werden. Die offizielle Begründung dafür lautet: Corona. Allein seit 2020 haben Zehntausende aus Angst vor Repressionen ihrer Heimat den Rücken gekehrt.
9 Sind nach dem Referendum erneut Proteste zu erwarten?
Das ist eher unwahrscheinlich, vor allem wegen des Angriffs Russlands auf die Ukraine. Die Belaruss*innen fürchten nichts mehr, als in einen Krieg hineingezogen zu werden. Und überhaupt: Der Einsatz von Truppen des Militärbündnisses „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ unter Führung Moskaus, die Kasachstan bei der Niederschlagung der Proteste im Januar Amtshilfe leisteten, dürfte auch nicht dazu angetan gewesen sein, den Widerstandsgeist der Belaruss*innen zu beflügeln.
10 Wie könnte sich Russlands Krieg gegen die Ukraine auf Belarus auswirken?
Das ist derzeit schwer zu sagen. Die Frage ist vielmehr, wie lange es Belarus als Staat überhaupt noch geben wird. Denn die schleichende Annexion durch Russland auf der Grundlage des Unionsvertrages von 1999 ist in vollem Gange. Lange Jahre hatte sich Lukaschenko gegen dieses Projekt gewehrt. Doch im vergangenen November unterzeichnete er – innenpolitisch bereits durch die Protestbewegung angezählt und komplett im wirtschaftlichen Klammergriff Moskaus – mit Putin einen Fahrplan zum Zusammenschluss der beiden Staaten inklusive einer gemeinsamen Militärdoktrin. Wann der „Anschluss“ kommt, ist nur noch eine Frage der Zeit. Und dieses Mal wird Putin keine Waffengewalt anwenden müssen.
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