Beirut, Berlin und Washington: Dankbar für ein bisschen Staat
Im Libanon klagen die Menschen über den schwachen Staat. In Deutschland und den USA kann einigen der Kampf dagegen nicht schnell genug gehen.
I m Englischen gibt es die Redewendung – Winston Churchill soll sie über Stalins Russland gesagt haben –, etwas sei ein Rätsel, das in ein Geheimnis gehüllt ist, welches von einem Mysterium umgeben ist. Der Libanon ist seit dieser Woche ein Unglück, das von einer Katastrophe umhüllt ist, welche ganz tief im Schlamassel steckt. Da fliegt die halbe Hauptstadt in die Luft, während die dort Lebenden ohnehin schon nicht wissen, wie sie mit einer Pandemie, einer Wirtschaftskrise, einem Staatsversagen und einer Million Flüchtlinge aus dem vom Bürgerkrieg zerstörten Nachbarland Syrien fertig werden sollen.
Und das alles nur, weil ein alter Seelenverkäufer, der allenfalls für die Ostsee tauglich wäre, vor sieben Jahren mit einer Ladung hochgefährlicher Chemikalien vom Schwarzen Meer nach Mosambik schippern wollte, aber schon vor der libanesischen Küste außer Puste geriet und den Hafen von Beirut anlief.
Was dann geschah, liest sich wie das Drehbuch für einen billigen Agententhriller: Das Schiff hatte nicht die erforderlichen Papiere für seine Fahrt und wurde festgesetzt. Die Besatzung wurde vom Schiffseigner nicht weiter bezahlt, durfte aber lange nicht von Bord, weil dann niemand mehr für die Ladung verantwortlich gewesen wäre. Und der Eigner, ein russischer Geschäftsmann – was eindeutig eine beschönigende Beschreibung ist –, erklärte Insolvenz und antwortete nicht mehr auf Anfragen.
Er soll heute mit seiner Frau auf Zypern leben. Es ist nicht klar, ob das Foto einer sibirischen Zeitung, das ihn in Jeans und T-Shirt grinsend mit breiter Sonnenbrille auf einem fetten Motorrad zeigt, auf der Mittelmeerinsel entstanden ist. Wie ein Mensch mit schlechtem Gewissen sieht dieser Mann jedenfalls nicht aus.
Die Ladung jedenfalls wanderte vom Schiff in eine Lagerhalle am Kai des Beiruter Hafens und wurde dort neben einer größeren Menge Feuerwerkskörper aufgestapelt. Die Leute, die dann vor ein paar Tagen mit Schweißarbeiten an der Lagerhalle anfingen, wussten offenbar nicht, in welche Gefahr sie sich begaben.
Beirut bezahlt den Preis. Auch wenn ich es selbst nie dorthin geschafft habe, erscheint mir die Stadt vertraut von so vielen Erzählungen von Kolleginnen und Kollegen, die in den vergangenen 40 Jahren dort tätig waren. Sie berichteten über die Jahre, in denen die PLO dort ihren Hauptsitz hatte, bis sie 1982 aus dem Libanon abziehen musste.
Richtig unter die Haut ging mir Beirut dann bei dem Massaker von Sabra und Schatila, als Milizen der christlichen Falangisten mehr als tausend Palästinenser:innen umbrachten. Ich weiß noch, wie mir der mit dem Libanon sehr vertraute taz-Sonderkorrespondent Reinhard Hesse seine Recherche per Telefon durchdiktierte. Es wurde eine Doppelseite, die genau rekonstruierte, wie der Hass der Falangisten in schiere Mordlust umgeschlagen war.
So belauern sich seit Jahrzehnten die Konfessionen und Clans misstrauisch, dass niemand sich etwas davon greift, was jemand anderem vermeintlich als Pfründe zusteht. Diesen Donnerstag erzählte der wunderbare Regisseur Volker Schlöndorff, der Beirut seit den 60er Jahren kennt, im Deutschlandfunk Kultur von den Dreharbeiten dort für seinen Film „Die Fälschung“, der von einem in den Libanon entsandten Journalisten handelt. Ein 13-jähriger Knirps habe damals ihre Drehgenehmigung in kleine Schnipsel zerrissen. „Jeder klaut sich ein Stück vom Staat, wenn es keine Zentralmacht gibt.“
Jetzt, das sah man diese Woche in der „Tagesschau“, organisieren junge Aktivist:innen das, wozu man eigentlich einen Staat hat, also die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, mit Brot, mit Wasser, mit Medikamenten. Wie es aussah, gelingt ihnen dies trotz aller Widrigkeiten erst einmal recht gut. Unglaublich, was Menschen schaffen, wenn sie an einem Strang ziehen.
Wahrscheinlich wären die Libanes:innen dankbar für auch nur eine Vorspeisenportion von dem Staat, den ein kleines Segment vornehmlich schwäbischer Demonstrant:innen am vorigen Wochenende in Berlin als so unerträglich unterdrückerisch dargestellt hat. Da sorgen unsere Behörden für ein paar Regeln im Umgang mit einer Gefahr, die erst mal abstrakt erscheint, aber dennoch real ist. Eine Maske tragen? Das ist Diktatur! Ach je.
Nein, Covid-19 haben sich nicht Jens Spahn oder Angela Merkel ausgedacht, liebe Hygiene-Demonstrant:innen, um ihre Macht über euch auszuweiten. Sie hatten auch ohne das Coronavirus genug Probleme.
Auch in den USA gibt es viele, die nichts vom Staat halten. Der konservative Lobbyist und Besteuerungsgegner Grover Norquist sagte einmal, er wolle den Staat so klein kriegen, dass er ihn in der Badewanne ertränken kann. Donald Trump hat ihn als Präsident jedenfalls so weit der Lächerlichkeit preisgegeben, das heute kaum jemand darüber traurig wäre, wenn sein Regierungsapparat gurgelnd im Abfluss verschwände.
Da kann Joe Biden, sollte er Trump im November tatsächlich aus dem Weißen Haus verdrängen, jede Hilfe gebrauchen, um zu retten, was zu retten ist. Eine schlaue Frau möge mit ihm ins Weiße Haus einziehen! Dazu müssten einfach nur die Hälfte der Wähler:innen in den USA einen Tag lang an einem Strang ziehen. Das sollte doch zu schaffen sein.
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