Beginn des rechten Terrors: Ein katastrophischer Wendepunkt
Thomas Hüetlin erzählt den Mord an Walter Rathenau aus dem Kreis toxischer Männerbünde heraus und deutet Parallelen zur Neuen Rechten an.
Am Anfang steht der Mord. Allerdings nicht der an Reichsaußenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922, der sich bald zum hundertsten Mal jährt, sondern der am ehemaligen Finanzminister Matthias Erzberger am 26. August 1921. Schon daraus wird deutlich, dass die Geschichte der Weimarer Republik komplizierter ist, als es der Fokus auf ein einziges Datum vermuten lassen könnte.
So gesehen macht der Journalist Thomas Hüetlin alles richtig in seinem Buch „Berlin, 24. Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland“. Erzberger hatte 1918 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet und war so als vermeintlicher „Dolchstoß-Meuchler“ das erste Opfer eines rechtsmonarchistischen Mordkomplotts zum Sturz der Republik, das ein knappes Jahr später im Anschlag auf Rathenau seinen Höhepunkt fand.
Thomas Hüetlin: „Berlin, 24. Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 304 Seiten, 24 Euo
Doch auch hier beginnt Hüetlin von Anfang an, und zwar beim Marineoffizier Hermann Ehrhardt, der nach Bewährung beim Völkermorden in Afrika und beim Völkerschlachten im Ersten Weltkrieg sich schließlich 1919 als Führer einer Freikorpsbrigade im Auftrag von SPD-Wehrminister Gustav Noske darum verdient machte, revolutionäre Umtriebe von Wilhelmshaven bis zur Münchner Räterepublik niederzumetzeln.
Bierselig und blutdürstig beschreibt Hüetlin das Ambiente dieser halbstaatlichen Tötungstruppen, unter denen sich freilich auch Möchtegernliteraten wie die späteren Rathenau-Verschwörer Erwin Kern und Ernst von Salomon befanden, deren hassschwülstige Ergüsse ausführlich zitiert werden. (In der ansonsten nüchtern mitreißenden Lesung, die parallel als Hörbuch erscheint, erliegt Sprecher Richard Barenberg der Versuchung, diesen Ton genüsslich zu persiflieren – was teils etwas karikaturesk gerät.)
Charismatischste Figur der Weimarer Republik
Als infolge des Versailler Vertrags die Freikorps aufgelöst wurden und der Versuch, beim Kapp-Putsch 1920 eine Militärdiktatur zu errichten, scheiterte, musste Ehrhardt sich auf Untergrundterrorismus verlegen. In München half er Hitler beim Aufbau der SA, gründete die Organisation Consul (OC) nebst 120.000-Mann-Schattenarmee und wollte durch gezielte Attentate auf Regierungsmitglieder einen linken Volksaufstand provozieren, den seine Armee anschließend mitsamt der Republik niederschlagen sollte.
Nach Erzberger und Philipp Scheidemann (der den Blausäureanschlag auf ihn überlebte) war nun also Walther Rathenau an der Reihe, die wohl schillerndste und charismatischste Figur der Weimarer Politik. Obwohl der Erbe des Rüstungskonzerns AEG als kluger Leiter der Kriegsrohstoffabteilung einen harten Kurs unterstützt und 1918 sogar für eine Fortführung des Krieges plädiert hatte; und obwohl der überzeugte Nationalist sich seinerseits wiederholt antisemitisch geäußert hatte, wurde es ihm doch zum Verhängnis, dass er selbst Jude war.
Obwohl Rathenau inzwischen als Außenminister gerade im Vertrag von Rapallo seine „Erfüllungspolitik“ gegenüber den Siegermächten revidiert hatte, wurde der vielleicht größte Hoffnungsträger der Republik – der trotz höchster Bedrohungslage auf Polizeischutz verzichtete – am 24. Juni 1922 von OC-Mitglied Erwin Kern in seinem offenen Wagen erschossen.
Die Reaktionen auf den Mord waren zwar gewaltig, doch der von den Terroristen erhoffte Aufstand blieb aus. Stattdessen wurde noch am Tag der Tat das spätere Republikschutzgesetz auf den Weg gebracht und die Weimarer Demokratie erst einmal gestärkt. Ihr späterer Untergang erfolgte bekanntlich nicht in erster Linie durch Terrorismus, doch wurden nach 1933 die einst in ihrem Versteck von der Polizei erschossenen Attentäter Kern und Hermann Fischer zu Helden verklärt und andere Mitverschwörer amnestiert.
Sumpf des wilhelminischen Militarismus
Thomas Hüetlin schildert uns all das in glänzendem Reportagestil, mit lebhaften Details und zahllosen Originalzitaten. Er bringt uns den gärenden Sumpf der Veteranen des Grauens des wilhelminischen Militarismus ebenso nahe wie die Herrenmenschenarroganz der sie befehligenden monarchistischen Konterrevolutionäre oder das scheinbar über allem schwebende Grunewalder Großbürgertum Rathenaus.
Für eventuelle Parallelen zur Gegenwart muss Hüetlin es am Ende freilich bei Schlaglichtern belassen. Zwar macht es die Klaus Theweleits Klassiker „Männerphantasien“ von 1977/78 folgende, mehr psychologische als politisch-historische Erklärung der Weimarer Gewaltexzesse leichter, Verbindungen etwa zum Mord an Walter Lübcke 2019 durch den rechtsextremen Gewalttäter Stephan Ernst herzustellen.
Auch erlebt die völkische Rhetorik der sogenannten Konservativen Revolution der 1920er und 30er in der heutigen Neuen Rechten fraglos eine Renaissance und hat durch kluge Strategien immer breitere Gesellschaftsschichten erreicht.
Und doch besteht in der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie paradoxerweise auch eine Gefahr darin, die Gefahr der Neuen Rechten womöglich größer oder anders einzuschätzen, als sie wirklich ist. Um ihren Gefahren zu begegnen, mag eine Betrachtung der Unterschiede zu Weimar ebenso wichtig sein wie die der Gemeinsamkeiten. Hüetlins Buch bietet dazu reichlich Anschauungsmaterial.
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