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Befürchtungen der türkischen OppositionSelbstjustiz der Regierungsanhänger

In der Türkei sorgt ein Dekret von Präsident Erdoğan für Protest. Die Opposition warnt vor politisch motivierter Gewalt.

Festnahme sogenannter Terroristen am Tag des Putschversuches Foto: ap

Athen taz | Ein neues Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdoğan sorgt in der Türkei für heftige Kritik der Opposition und wichtiger gesellschaftlicher Organisationen. Danach sollen zivile Personen straffrei bleiben, die „terroristische Aktivitäten oder die Folgen dieser Aktivitäten bekämpfen“. Zur Erläuterung sagten Justizminister Abdulhamit Gül und der Sprecher der regierenden AKP, Mahir Ünal, damit sollten „Helden“ straffrei ausgehen, die während der Nacht des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 und dem darauffolgenden Tag aktiv in den Kampf gegen Putschisten eingegriffen hätten. Das Dekret beziehe sich also auf eine Situation in der Vergangenheit.

Das sieht die Opposition nicht so. Sowohl Oppositionschef Kemal Kılıçdaroğlu, Parteivorsitzender der CHP, als auch ein Sprecher der kurdisch-linken HDP bezeichnen das Dekret vielmehr als einen Blankoscheck für Regierungsanhänger, die Oppositionelle auch in Zukunft gewaltsam angreifen könnten. „Was passiert mit jemandem, der einen regierungskritischen Demonstranten erschlägt, der leicht als Terrorist denunziert werden kann?“, fragte Kılıçdaroğlu auf einer Pressekonferenz. „Der Mann geht straffrei aus, genauso wie diejenigen, die am 15. Juli 2016 bereits entwaffnete Rekruten gelyncht haben.“

Der Wortlaut des Dekrets, so sieht es der frühere Präsident Abdullah Gül, ein Gründungsmitglied der AKP und lange Verbündeter Erdoğans, sei nicht eindeutig auf die Vergangenheit beschränkt. „Der Text muss dringend präzisiert werden“, twitterte Gül. Der Kolumnist der Tageszeitung Hürriyet,Ahmet Hakan, befürchtet gar, durch das Dekret könnten bürgerkriegsähnliche Verhältnisse heraufbeschworen werden. „Was passiert, wenn jemand einen anderen erschießt und sagt: Ja, ich habe ihn erschossen, aber er war ein Terrorist?“. Er kann sich laut Ahmet Hakan auf das Dekret von Erdoğan berufen. „Damit“, so Hakan, „gibt der Staat sein Gewaltmonopol auf.“

Erstmals seit der Verhängung des Ausnahmezustandes am 20. Juli 2016 hat das Dekret für Straffreiheit ziviler „Terrorbekämpfer“ jetzt auch Organisationen, die bislang geschwiegen haben, zu einem öffentlichen Protest bewogen. Die türkische Juristenvereinigung und der Unternehmerverband Tüsiad forderten Erdoğan auf, das Dekret klarer zu formulieren, damit keine Missverständnisse entstehen.

Mit Stöcken und Döner-Messern

Die schärfste Kritik kommt von der HDP. Sie sieht in dem Dekret nicht nur die Absicht, einzelne gewaltsame Übergriffe von Regierungsanhängern gegenüber Oppositionellen zu legitimieren, sondern begreift es als Rechtsgrundlage für organisierte Parteimilizen der Regierung, die gezielt gegen Oppositionelle eingesetzt werden sollen. Bereits jetzt gebe es immer wieder Meldungen, dass die Regierung eigene Anhänger bewaffne. Offenbar, so die HDP, versuche Erdoğan eine schwindende Unterstützung in der Bevölkerung durch den Einsatz bewaffneter Banden zu ersetzen.

Viele Kommentatoren erinnern an den gewaltsamen Einsatz von Regierungsanhängern während der Gezi-Proteste 2013. Schon damals waren Erdoğan-Anhänger mit Stöcken und Döner-Messern auf Demonstranten losgegangen, ein Ladenbesitzer schlug einen Studenten so brutal, dass er starb.

Der türkische Staat gibt sein Gewaltmonopol auf

Ahmet Hakan, Kolumnist

Das umstrittene Dekret 696 enthält noch eine Anordnung, die für Proteste sorgt. Künftig müssen Männer, die angeklagt sind, Terror zu unterstützen oder Mitglieder einer Terrororganisation zu sein, in braunen oder grauen Overalls vor Gericht antreten. Der inhaftierte Parteichef der HDP, Selahattin Demirtas, kündigte an, dem niemals Folge zu leisten. „Lieber werden wir in Leichentüchern aus dem Gefängnis transportiert“, sagte er.

Das Dekret trat wie alle des Präsidenten im Ausnahmezustand in Kraft, ohne dass das Parlament gehört wurde. Nach Zählungen der Zeitung Cumhuriyetwurden 30 Dekrete erlassen, die zu 369 neuen Gesetzen geführt haben. Nur fünf Dekrete wurden im Parlament diskutiert.

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