Beerdigung ohne Angehörige: Der einsame Tod
In der Philipp-Melanchthon-Kirche in Neukölln wird Menschen gedacht, die einsam verstorben sind. Die Trauerfeier soll ihren Tod würdevoller machen.
taz |
Das sind jene Menschen, die keine Angehörige haben, die sich um eine angemessene Bestattung und Trauerfeier kümmern. Oder deren Angehörige schlicht nicht aufzufinden sind. Sie wären nämlich per Gesetz im Falle des Todes dazu verpflichtet für die Bestattung aufzukommen: Nach dem Bestattungsgesetz sind Ehegatten, volljährige Kinder, Eltern, volljährige Geschwister oder Enkelkinder dazu verpflichtet, die Beerdigung der verstorbenen Person zu bezahlen.
In diesen Fällen beauftragt das zuständige Bezirksamt ein Bestattungsunternehmen mit der Feuerbestattung. Allein in Neukölln wurden im Jahr 2021 knapp 200 Menschen auf diesem Wege ordnungsbehördlich bestattet. In ganz Berlin belaufen sich die Zahlen der anonymen Bestattungen auf über 2000.
Der Ablauf einer ordnungsbehördlichen Bestattung ist etwas glanzlos: Sind die Menschen obdachlos, werden sie von PassantInnen oder der Polizei auf der Straße tot aufgefunden – in anderen Fällen werden sie von Nachbarn oder Behörden in ihrem Zuhause gefunden. Ihr Tod wird dann dem Bezirksamt gemeldet. Dieses beauftragt meist das preislich günstigste Bestattungsunternehmen, um die Menschen unter die Erde zu bringen. Die Bestattung dieser Menschen läuft im kleinsten Rahmen und anonym ab. Ihre Urnen werden in großen Gemeinschaftsgräbern, versehen mit einem kleinen Namensschild, begraben.
Ein bekannter Name unter den Toten
Frau B., die nicht möchte, dass ihr Name öffentlich wird, hat lange als Psychotherapeutin in Neukölln gearbeitet und kommt immer wieder zur jährlichen Trauerfeier in die Kirche.
„Ich hatte schon in den vorherigen Jahren Angst, dass ich einen dieser Namen kenne. Als es dann am Sonntag aber tatsächlich geschah, war ich wie vom Donner gerührt“, erzählt die Psychologin.
Es sei fast 30 Jahre her, dass sie die Frau psychologisch betreut habe. Ihren Namen und ihre Persönlichkeit habe sie aber nicht vergessen. „Sie war damals sehr krank und hatte Brüche mit ihrer Familie. Ich bin sehr betroffen, dass sich das vermutlich nicht verändert hat“, sagt die Therapeutin. Über den weiteren Werdegang ihrer ehemaligen Klientin habe sie seit Abgabe der Betreuung nichts weiter gewusst. Jetzt nun überraschend die Nachricht über ihren einsamen Tod.
Die Psychologin unterscheidet zwischen allein sein und Einsamkeit: „Einsamkeit bedeutet für mich, dass jemand keinen Bezugsrahmen hat. Keine Gruppe zu der er oder sie sich zugehörig fühlt.“ Die Menschen, die ordnungsbehördlich bestattet wurden, haben eben diese Bezugsgruppe in den meisten Fällen nicht.
Ein Teil der Arbeit von PsychotherapeutInnen ist es, ihren KlientInnen dabei zu helfen, ihre Einsamkeit zu überwinden. Sie erzählt, dass sie in ihren Sitzungen versucht, die Menschen in soziale Beziehungen „einzubinden“ und so ihre Kontaktängste zu lösen.
Obdachlosigkeit und Einsamkeit
Zu den Verstorbenen gibt es nicht viele Informationen: außer, dass viele von ihnen vor ihrem Tod obdachlos waren und dass deutlich mehr Männer ordnungsbehördlich bestattet werden als Frauen.
„Dass das Ganze etwas kalt wirkt und die Toten entindividualisiert werden, kann man niemandem vorwerfen. Die Bestatter und der Bezirk sind keine kalt und böse handelnden Institutionen. Das Problem liegt oftmals eher bei zerrütteten Familienverhältnissen“, meint der Neuköllner Pfarrer Jan von Campenhausen, der diese Gedenkfeier in Neukölln seit drei Jahren durchführt. Die Veranstaltung soll den Verstorbenen einen würdevolleren Tod geben.
Obdachlosigkeit und Einsamkeit kommen oft zusammen. „Im Winter lassen wir Obdachlose bei uns in der Kirche übernachten“, erzählt von Campenhausen. „Sie bekommen hier einen Schlafplatz, etwas zu essen und medizinische Grundversorgung. Dabei lernt man einige kennen – auch ihre Namen. Es kommt vor, dass ich Menschen länger nicht sehe und dann wird ihr Name bei der Gedenkfeier verlesen.“
„Dein Name bleibt“
„Auch wenn die Winde tausend Tänze tanzen und wilder Wirbel zu zerstören droht, was nicht zerstörbar ist: Dein Name bleibt und wir nennen dich beim Namen“ steht poetisch in dem kleinen Programmheft, welches in der Kirche ausliegt. Die Nennung der Namen ist der zentrale Punkt der Gedenkfeier.
„Wenn Menschen einfach so verschwinden, passiert das ohne Respekt und Würde, wir sagen als Teil der Zivilgesellschaft: Wir möchten diese Namen laut aussprechen“, erzählt Jan von Campenhausen.
In dem geräumigen Kirchsaal haben sich etwa 20 Menschen eingefunden, die in corona-konformen Abständen mit Masken im Kreis sitzen. In der Mitte ist eine Spirale aus Kerzen aufgestellt: Die Kerzen wurden im Namen der Toten entzündet und sollen den Lauf des Lebens von der Geburt bis zum Tod symbolisieren.
Das Glockenläuten verstummt und der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Neukölln, Dr. Christian Nottmeier, eröffnet die Gedenkfeier. Die Namen der Verstorbenen werden in Blöcken von den Anwesenden reihum vorgelesen. Dazwischen wird Orgelmusik gespielt und sogar gesungen. Während die Namen langsam und laut vorgelesen werden, herrscht andächtige Stille. Der Klang der Namen hallt noch einen Moment lang in den Gewölben der Philipp-Melanchthon-Kirche nach. Die meisten der Anwesenden haben den Blick auf die Kerzen gerichtet.
„Hinter jedem dieser Namen steckt eine Geschichte“
„Hinter jedem dieser Namen steckt eine Geschichte. Eine Geschichte, die man nicht erlebt haben möchte“, sagt Jan von Campenhausen und fügt hinzu: „Jeder einzelne Name, ist ein Name zu viel. Die Namen legen den Finger auf die Wunde.“
Besonders freut sich von Campenhausen, dass jedes Jahr wieder auch VertreterInnen aus der Politik zu der Veranstaltung kommen. Einen Teil der Namen hat dieses Jahr beispielsweise Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) verlesen.
Nach der Gedenkfeier wünscht ihm eine ältere Dame ein gutes Durchhaltevermögen für seinen Job. Für sie ist die Gedenkfeier auch eine Möglichkeit über den Tod ihrer eigenen Tochter nachzudenken. Der Tod gehöre nun mal zum Leben dazu, in völliger Einsamkeit solle aber niemand sterben, sagt die Dame sichtlich betroffen nach der Trauerfeier.
Zur diesjährigen Gedenkfeier unter Pandemiebedingungen sagt der evangelische Pfarrer, dass er es schade finde, dass nur eine kleine Zahl zusammenkommen konnte. Aus der Vergangenheit wisse er, dass das Bedürfnis an der Teilnahme der Veranstaltung groß sei.
Gedenken im Online-Stream
Er verweist auch noch einmal auf ein Video, welches zu dem Anlass um 17 Uhr auf YouTube veröffentlicht wird – um trotz Corona eine breitere Anteilnahme zu ermöglichen. In dem Video laufen die Namen der Verstorbenen durch das Bild. Im Hintergrund ist erneut die Kerzenspirale zu sehen. Dazu singt ein Chor den Leonard Cohen-Song „Hallelujah“. Der Pfarrer setzt vor allem auf Projekte wie „Housing First“, mit denen Wohnungslosen ein Zuhause geboten werden soll. Denn oftmals ist die Kombination aus Obdachlosigkeit und Einsamkeit ein Teufelskreis.
Nachdem das letzte Orgellied in der Melanchthon-Kirche erklungen und die Gedenkfeier offiziell vorbei ist, bleiben alle Anwesenden noch einen Moment sitzen und halten inne. Im Stillen wird der Toten gedacht, auch wenn die wenigsten der Anwesenden wissen, wer sie genau waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren