Bedeutung von 1. Mai: Auch nur ein Tag

Meine Eltern freuen sich nicht so über den 1. Mai, wie ich mich Jahr für Jahr freue. Dabei ist der Tag der Arbeit doch ihr Tag und nicht meiner.

Demonstranten auf Fahrrädern fahren an einer Villa im Grunewald vorbei

Das Foto, das mit 1.-Mai-Grüßen an die Eltern ging: Fahrrad-Demo „MyGruni“ in Berlin Foto: Volkan Ağar

Feiertage sind nicht so meins. Aber es gibt Ausnahmen. Das muslimische Zuckerfest war als Kind lukrativ, weil es immer ein paar Euros für das Händeküssen bei Älteren gab. Seit meinen 20ern mag ich den 1. Mai sehr. Weil ich im Studium Texte gelesen habe, in denen steht, dass dieser Tag ein Tag für so Menschen wie mich und meine Eltern ist; ein Feiertag derer, die hart schuften, aber nicht viel haben, wobei diejenigen, die sie hart schuften lassen, viel haben, ohne selbst hart zu schuften. Zumindest der Theorie nach ist das unser Tag.

Meiner ist er eigentlich nicht, sondern der Tag meiner Mutter, die jahrelang als Reinigungskraft gearbeitet, und später, als ihre vier Jungs alt genug waren, sich den Traum von der Ausbildung zur Kindergärtnerin erfüllt hat. Es ist der Tag meines Vaters, der Nachtschichten in der Textilfabrik geschoben hat, bis es irgendwann einfach gesundheitlich nicht mehr ging.

Während mich der 1. Mai aber Jahr für Jahr mit Aufregung, Stolz und Kampfeslust erfüllt – ich höre dann auch „Arbeiter von Wien“ –, lässt er meine Eltern kalt. Auch dieses Jahr habe ich mir eine Demo ausgesucht und wieder das hübscheste Transparent abfotografiert: „Let the rich pay for the crisis“. Ich habe das Foto wieder mit 1.-Mai-Grüßen an meine Eltern geschickt. Und auch dieses Mal haben sie den Gruß mit wenig Leidenschaft erwidert.

Keine Demogeschichten

Damit habe ich mich aber, das war diesmal anders, nicht zufrieden gegeben, und gefragt, was sie denn an ihrem Tag unternommen haben. Die Antwort meiner Mutter: „Nichts. Ausgeruht.“ Mein Vater hat erzählt, er habe sich eine Demo „von der Seite aus“ angeschaut.

Warum nur von der Seitenlinie, Baba?

Ach, du weißt doch, Corona…

Aber das ist doch dein Tag!

Na ja, das ist doch eher was für Gewerkschaftsbosse und Studenten…

Wieder einmal lag dann dieser Widerspruch vor uns, mit dem wir heute leichter umgehen können als noch in meinem dritten Semester. Seine Euphorie hält sich zwar weiterhin in Grenzen, wenn ich das, was ich aus den Büchern kenne, heute mit etwas mehr Affektkontrolle auf den Tisch haue. Er begegnet mir mittlerweile aber sehr wohlwollend. Dabei geht es doch um seine Interessen!, denke ich trotzdem noch. Und er lacht milde: Ach, mein Sohn.

Weil wir dieses Mal aber nicht einfach das Thema gewechselt haben, als der Widerspruch sich nicht auflösen ließ, hat er doch noch Geschichten ausgepackt. Nicht von Demos, sondern von der Zeit als Betriebsrat. Bis letztes Jahr wusste ich nicht, dass er mal einer war. Er hat von einem Chef erzählt, der die Not der Belegschaft – prekärer Aufenthaltsstatus, Schulden, Familie – ausnutzte; der keinen Überstundenzuschlag und Nachtschichtzuschlag zahlen wollte. Aber irgendwann dann doch zahlen musste.

Aber wie habt ihr das gemacht, Baba?

Wir haben in einer Schicht drei Textilrollen fertig gemacht statt der sechs, die wir fertig machen konnten. Dann hat er gezahlt.

Einmal zahlen
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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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