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Bedeutung des AsylkompromissesDie Illusion der Kontrolle

Stefan Reinecke
Essay von Stefan Reinecke

Der EU-Asylkompromiss führt nicht zu weniger Migration, er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen. Die Grünen bezahlen für ihr Ja einen Preis.

Pragmatismus richtet Schäden dort an, wo es um Werte geht Foto: Katja Gendikova

D er Mann ließ im Bundestag kein gutes Haar an dem Asylkompromiss. „Anstatt das Asylrecht zu bewahren, soll es nun so weit eingeschränkt werden, dass das einer Abschaffung gleichkommt“, sagte der Bündnisgrüne. Man errichte „Mauern aus Gesetzen und Abkommen“, um sich die Geflüchteten vom Leib zu halten und sie schnell in Drittstaaten zu entsorgen. Wer aus einem Nachbarland kam, hatte kein Recht auf Asyl mehr. Das war ungefähr so, als wenn Irland beschließen würde, dass nur, wer zu Fuß kommt, Asyl beantragen darf.

Diese Szene spielte sich 1993 ab. Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90, redete vergeblich der SPD ins Gewissen. Das Grundgesetz wurde mit SPD-Stimmen geändert.

Der Asylkompromiss vor 30 Jahren und der EU-Asylkompromiss 2023 ähneln sich im manchem. Das Ziel ist: Migranten abschrecken. Dafür werden die Rechte von Asylbewerbern beschnitten, ohne das Asylrecht komplett zu streichen. Auch der Schmierstoff dieser Operation ist ähnlich: Es ist die Konstruktion der sogenannten sicheren Drittstaaten. Ein syrischer Flüchtling, der aus der Türkei in die EU kommt, kann künftig wieder zurückgeschickt werden – auch wenn er in der EU Anrecht auf Asyl hat.

Ob und wie oft das passieren wird, ist offen. Aber es ist möglich. Auch die Asylzentren, Kernstück der EU-Reform, folgen einem Vorbild, das 1993 in Deutschland erfunden wurde. Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen, landen seitdem nicht in Deutschland, sondern in einer Art Transitraum, in dem die „Fiktion der Nichteinreise“, so der juristische Ausdruck, gilt. Auch in den geplanten EU-Asylzentren finden sich Geflüchtete in einem fiktiven Europa wieder.

Remake von 1993

Bekannte Argumente, gemischte Gefühle. Das Ganze wirkt wie ein Remake. Nur die Grünen spielen diesmal nicht die tapfere Opposition, sondern die Rolle der SPD. Halb fallen sie, halb zieht es sie hin. Am Ende werden sie wohl, nach ausreichend öffentlich dargebotener Zerknirschung, dem stählernen Gebot der Realpolitik folgen.

Auch wenn die Rhetorik 2023 nicht so aggressiv und fremdenfeindlich klingt wie 1993, tauchen in dem Diskurs ähnlich suggestive Bilder auf. In Talkshows und Bundestagsdebatten werden – mehr oder weniger verklausuliert – drei Erzählungen bedient. Alle drei haben die gleiche Botschaft: Wir müssen uns schützen. Das erste Bild: „Nur ganz wenige Migranten sind Verfolgte. Das Gros sind Wirtschaftsflüchtlinge.“

So ist es nicht – jedenfalls derzeit. Im Jahr 2022 bekamen fast drei Viertel aller Asylsuchenden Schutz und wurden als Verfolgte anerkannt. Nur in 28 Prozent der Fälle wurde der Asylantrag als unbegründet abgelehnt. Trotzdem werden Flüchtlinge generell als Schwindler verdächtigt.

Das zweite Bild: „Die illegalen MigrantInnen kommen nach Deutschland – und arbeiten dann nicht.“ Auch das stimmt so nicht. Es ist kompliziert, die Daten etwas schütter. Aber: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist aus demografischen Gründen günstig. Auch Ungelernte werden verzweifelt gesucht. So gehen Experten davon aus, dass trotz Hürden wie der Sprache rund 55 Prozent jener Migranten arbeiten, die 2015/16 nach Deutschland kamen. Tendenz steigend. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist aufwendig und kostspielig. Aber Leute, die hier sind, auszubilden ist effektiver, als Arbeitskräfte in der Ferne zu umwerben, die dann lieber nach Kanada gehen. Das Bild vom Flüchtling, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, ist jedenfalls falsch.

Drittens: „Wir müssen an der Grenze durchgreifen und die illegalen Migranten (böse, weil Wirtschaftsflüchtlinge) von den verfolgten Asylsuchenden (nehmen wir auf, weil wir gute Menschen sind) trennen.“ Dieses Bild ist vielleicht das wirksamste. Und abgründigste. Es legt nahe, dass die Politik an der Grenze für Ordnung sorgen kann, wenn sie es nur will. Hart, aber fair. Repressiv, aber gerecht. Man muss nur entschlossen das richtige Anreiz- oder vielmehr Abschreckungssystem etablieren – schon lässt sich globale Migration steuern, und das Problem ist wenn nicht gelöst, so doch entscheidend gemildert.

Dieses Bild ist so fatal, weil es eingängig und schwer zu widerlegen ist. Migration ist ein vielschichtiger, komplexer, verwirrender, sich wandelnder Prozess. Gerade deshalb ist es attraktiv, an einfache, gerade Lösungen zu glauben, die man sich nur trauen muss.

Diesem Geist entspricht der EU-Asylkompromiss mit den geplanten haftähnlichen Lagern und verkürzten Verfahren. Er befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer weitgehenden Kontrolle unterwerfen kann.

Doch das wird nicht so sein – und das ist der Unterschied zwischen 1993 und 2023. Deutschland gelang es damals auch mittels Drittstaaten, Zahlen radikal zu senken: von fast einer halben Million im Jahr 1992 auf 19.000 im Jahr 2007. Die Bundesrepublik machte sich einen schlanken Fuß auf Kosten geduldiger Nachbarn. Als 2011 auf Lampedusa Tausende Flüchtlinge ankamen, erklärte CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einer bemerkenswerten Mixtur aus Dummheit und Arroganz, das sei Italiens Problem. Das kam 2015/16 als Bumerang zurück.

Die Lage in der EU ist 2023 anders. Denn die dienstbaren Drittstaaten, die Flüchtlinge abwehren, existieren so nicht. Die EU hat zwar moralisch abgründige Deals mit Autokraten in Afrika geschlossen, die rosafarben „Mobilitätspartnerschaften“ getauft wurden. Entwicklungshilfe und Handelsvergünstigungen für Länder wie Ägypten, Marokko und Niger wurden an die Bedingung gekoppelt, Migrantenrouten zu unterbrechen. Die EU hat kreativ ein komplexes Netz entworfen, um zweifelhafte Regime mit Geld dazu zu bringen, Abgeschobene wieder zurückzunehmen.

Staatsgrenzen zeichnen sich nicht mehr, wie der Staatstheoretiker Thomas Hobbes einst schrieb, dadurch aus, dass sie „bewaffnet sind und auf die anliegenden Nachbarn gerichtete Kanonen haben“. Grenzen im globalen Kapitalismus sind flexible, oft nach vorne verlagerte Systeme, mit denen sich die reichen Zentren die Zuwanderung aus den armen Peripherien vom Leib zu halten versuchen. Der Soziologe Steffen Mau hat diese Grenzen mit ausgefeilten Überwachungssystemen und diffusen Rechtsräumen griffig als „Sortiermaschinen“ beschrieben. Sie haben etwas Ausuferndes. Im Vergleich mögen die Grenzen der Ära der klassischen Nationalstaaten mit ihren Schlagbäumen wenn nicht harmlos, so doch verlässlich und übersichtlich erscheinen.

Sortiermaschinen

Doch so beängstigend diese Sortiermaschinen mitunter wirken – sie sind prekär, anfällig, fragil. Die EU ist auf die politischen Kalküle autokratischer Regime angewiesen. Die EU verfügt nicht über die imperiale Macht, den (nord)afrikanischen Staaten den eigenen Willen zu diktieren. Einzelne europäische Länder haben mehr als 300 Rücknahmeabkommen mit Staaten geschlossen, um Migranten wieder loszuwerden – mit durchwachsenem Erfolg. Fast 80 Prozent der Abschiebebefehle wurden 2021 in der EU nicht umgesetzt. Auch der gerade heftig umworbene tunesische Staatschef hat wenig Neigung, als Europas gekaufter Grenzpolizist zu gelten.

Die Sortiermaschinen funktionieren manchmal, mal stottern sie, mal fallen sie aus, dann laufen sie wieder auf Hochtouren. Migration ist nur bedingt regulierbar. Sogar die repressive Grenze zwischen Mexiko und den USA, an der Trump brutal Tausende Kinder von ihren Eltern trennte, funktioniert – aus US-Sicht – nur wie ein mehr oder weniger guter Filter. Auch unter Joe Biden werden Millionen festgenommen, abgewiesen, abgeschoben. Trotzdem leben in den USA mehr als elf Millionen sogenannte illegale Migranten.

Der Kompromiss befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer Kontrolle unterwerfen kann

In einem hoch vernetzten, weltumspannenden Markt mit extremem Wohlstandsgefälle, in dem Kapital und Waren, Informationen und Datenströme so frei und schnell wie nie zuvor fließen, ist es ein Kinderglaube, dass man Flüchtlinge nach Belieben stoppen und in brauchbare und lästige aufteilen kann. Im globalen Dorf weiß man auch in Ecuador und Nigeria, welche Migrationsrouten gerade funktionieren.

Die Idee, man werde mit dem EU-Kompromiss nun „die Zahlen in den Griff kriegen“, so CSU-Mann Manfred Weber, hat etwas Einfältiges. Denn wer in Westafrika viel Geld investiert, den Tod in der Sahara und das Ertrinken im Mittelmeer riskiert, sich Schlepperbanden anvertraut, Kriminelle und Frontex einkalkuliert, der wird sich kaum davon abschrecken lassen, dass die EU beschleunigte Verfahren einführt. Dieser Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration. Er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen.

Handelsübliche Doppelmoral

Dieser Asylkompromiss stützt den inneren Zusammenhalt der EU. Das Grenzregime wird, sollte es funktionieren, künftig weniger national und mehr von der EU bestimmt sein. Das ist ein Schritt hin zu einer staatsähnlicheren EU. Europa einigt sich mit sich selbst – auf Kosten der Migranten.

Und die Grünen? Die SPD hat ihr Ja zum Asylkompromiss 1993 nicht viel gekostet. Günter Grass trat aus – das war zu verschmerzen. Für die Grünen ist die Lage heikler. Denn die realpolitisch motivierte Zustimmung zum Asylkompromiss beschädigt ihr Selbstbild als Partei mit einem privilegierten Zugang zur Moral. Die FDP will mit Freiheit, die Union mit Christlichem, die SPD mit Gerechtigkeit assoziiert werden – die Grünen stehen für universelle Moral. Sie sind eine post­na­tio­na­le, globalisierungsaffine Partei. Auch deshalb haben sie eine besondere Nähe zu Flucht und dem Schutz individueller Menschenrechte. Und sind dort verletzlich.

Als staatstragende Partei werden die Grünen wohl zustimmen. Contre cœur und aus Pragmatismus. Pragmatismus aber richtet Schäden an, wo es um Werte geht, die dem politischen Spiel entzogen sein sollten. Die Grünen wird dieses Ja verändern, sie werden normaler und noch mittiger. Eine liberale Partei mit dem handelsüblichen Maß an Doppelmoral.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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23 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Kluge, sachliche Analyse, die ihresgleichen sucht.



    Erschreckend zu sehen, wie das no go keine Kinder und Familien in gefängnisartigen Lagern an der EU-Außengrenze, dem Trilog im Europaparlament überantwortet wurde, in der Hoffnung, hier sei noch etwas zu verbessern.



    Augen zu und durch, aber der grüne, moralische Markenkern in der Flüchtlingspolitik könnte schwer beschädigt werden, wenn das nicht klappt.



    Letztlich ist auch das schon eingepreist, denn sonst würden sich die Grünen der Zustimmung zum Asylkompromiss im Kabinett verweigern.



    Die NGO, die die Grünen versuchten rhetorisch zu umarmen, werden sich mit Grausen abwenden.

  • Der Asylkompromiss von 1993 war für mich übrigens der Grund, mein SPD-Parteibuch abzugeben. Ich habe damals u.a. argumentiert, dass die SPD nicht glaubhaft Politik gegen Rechts machen könne, wenn sie einen ihrer Grundsätze nach dem anderen aufgeben und sich von der Union wie eine Sau durchs Dorf treiben lasse. So gewinne man keine politischen Mehrheiten, verliere aber stattdessen seine Glaubwürdigkeit.



    30 Jahre später erlebe ich, dass die Grünen denselben Fehler wiederholen. Und fatalerweise mit demselben Thema.

  • Kommentar entfernt. Bitte halten Sie sich an die Netiquette. Die Moderation.

  • Wenigstens probehalber sollte man man den sigenannten Pragmatismus von der sogenannten Moral trennen. Man sollte Ziele definieren und die Mittel prüfen. Stattdessen werden Pseudo- Mittel beschlossen, die eigentlich hauptsächlich nach innen wirken.

  • Dass die Grünen für universelle Moral stehen, glauben wohl nur sie selbst und ihre Fans.



    In meinen Augen stehen sie eher für Bevormundung und Selbstgerechtigkeit.

    In der Asylfrage geht es aktuell weniger um Moral, als um Handlungsfähigkeit. Ein erheblicher Teil der europäischen Bevölkerung will die offensichtlich dysfunktionale Asylpolitik so nicht mehr hinnehmen.

    • @Elf:

      Und die europäischen Bürger werden von ihren gewählten Regierungen, auch den linken, gehört. Nur in Deutschland tut man sich schwer.

  • Sehr gerne würde ich Lösungsvorschläge hören! Es gibt soviele kluge Köpfe im Land.



    So wie es ist, kann es nicht bleinen. Es fehlen bezahlbare Wohnungen, es fehlt angemessene Versorgung, es fehlen Kita- sowie Schulplätze.Es fehlt Personal

    Wo sollen die zusätzlichen Menschen unterkommen? Sie werden dorthin gehen, wo es für sie die besten Möglichkeiten gibt. Dss sind nicht die Länder im Süden oder Bulgarien.



    Was tun ? Antworten dazu sind nötiger denn je.

    • @R.A.:

      Effektiv läuft diese Argumentation darauf hinaus Menschenrechte unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen. Was also wäre ihrer Meinung nach denn beispielsweise der kritische Quadratmeterpreis den bezahlbarer Wohnraum maximal erreichen darf bevor man Menschen die vor Krieg, Folter und politischer Verfolgung fliehen müssen Schutz und Hilfe verweigern sollte? Und wieviele dieser m² Wohnfläche deren pro Kopf Verbrauch sich seit den 70ern verdoppelt hat sollten wri uns ihrer Meinung nach selbst zugestehen bevor wir bereit sind etwas von unserem Wohlstand dafür einzusetzen das Leben anderer zu retten?

      • @Ingo Bernable:

        Man kann die Probleme wegdrücken. Aber dann wacht man vielleicht morgen mit einem Kanzler Höcker auf.

      • @Ingo Bernable:

        Konkret erkundigt sich @R.A. mit den Worten "Was tun?" nach Lösungsvorschlägen.

        Menschenrechte unter Finanzierungsvorbehalt stellen zu wollen, war nicht die Frage, sondern ist ausschließlich Ihre Interpretation dessen, und zwar gleich die denkbar negativste. Das ist natürlich effektiv, um argumentativ größtmögliche Angriffsfläche schaffen, aber eben auch rhetorisch ziemlich billig.

        Wie wär's mit konstruktiven Vorschlägen, anstatt sich nur moralisch zu inszenieren?

        • @phalanx:

          Mit Verlaub, ich halte diese Frage mindestens für eine rhetorische, wenn nicht für eine Suggestivfrage weil sie Flucht ausschließlich als angebliches Problem für das Sozialsystem und nicht als Menschenrecht begreift und die möglichen Antworten darauf auch schon seit Jahren immer wieder vorgebracht aber doch nicht gehört werden. Auf den Zusammenhang asymmetrischer Handelsabkommen und dem Elend im globalen Süden wies etwa schon die globalisierungskritische Bewegugn vor 20 Jahren hin.

          • @Ingo Bernable:

            Ich weiß nicht, was ich daran problematischer finde - die Selbstverständlichkeit, mit der Sie meinen, anderen zielsicher hinter die Stirn gucken zu können, oder die Larmoyanz, konkrete Lösungen zu vermitteln sei nicht mehr diskussionswürdig, sondern Holschuld des Gegenübers und scheitere allenfalls und wahlweise an dessen Unwillen, Unkenntnis oder Unvermögen.

            Angesichts der derzeitigen, generalisierten Verunsicherung in der Bevölkerung halte ich erklärende Politik eigentlich für unerlässlich, auch um explodierende AfD- Zustimmungswerte wieder einzufangen.

            • @phalanx:

              Problematisch ist meiner bescheidenen Meinung nach die Vorstellung die Zustimmungswerte der AfD seien lediglich Resultat mangelnder Erklärungen, letztlich also lediglich ein Kommunikationsproblem und ein Missverständnis. Wenn man die Wähler*innen für derart unselbstständig hält, steht damit letztlich in Frage ob die Grundlage eines demokratischen Systems überhaupt gegeben ist. Ich neige demgegenüber eher zu der Ansicht, dass man allgemein verfügbare Informationen auch als allgemein bekannt voraussetzen kann. Das bedeutet dann aber auch, dass es eben kein Irrtum oder Missverständnis ist wenn die Leute ihre Stimme einer proto-faschistischen Partei geben, die auch vor NS-Verharmlosung nicht zurückschreckt und öffentlich von Deportationsprogrammen spricht, sondern zurechenbarer Ausdruck ihrer politischen Überzeugung. Es ist eben nicht die Aufgabe einiger Spitzenpolitiker*innen den Menschen demokratische Mindeststandards pädagogisierend schmackhaft zu machen. Das hat der Demos schon selbst zu leisten und dazu gehört dann eben auch die Holschuld sich die notwendigen Informationen für eine verantwortliche Mitwirkung an der Urne zu beschaffen.

              • @Ingo Bernable:

                Im ZDF-Politbarometer am Freitag haben 75 % der potenziellen AfD-Wähler/innnen Protest als Hauptgrund ihrer Wahlentscheidung benannt und lediglich 18 % inhaltliche Überzeugung. Das Potenzial, mit konkreten und nachvollziehbar vermittelten Lösungsansätzen Stimmen zurückzugewinnen, ist also durchaus vorhanden und zudem recht beachtlich.

                Und losgelöst von der AfD kann es nur Aufgabe von Politik sein, für die Zukunftsängsten zugrunde liegenden Themen Lösungskonzepte zu definieren und zu erklären, andernfalls ließe sich die Bewerbung um einen Regierungsauftrag schwerlich ernstnehmen. Das entbindet die Wähler/innen zwar nicht von ihrer Eigenverantwortung, allerdings sollte dies mE auch mit dem realistischen Eingeständnis einhergehen, dass das Konzept der einen, höheren, unausweichlichen Einsicht, die sich zudem noch zwangsläufig und ohne jedes Zutun einstellt, nicht besonders gut funktioniert - insbesondere nicht, wenn das "ob" vielleicht grundsätzlich konsensfähig ist, das "wie" jedoch völlig im Unklaren liegt angesichts vielfältigster Ansätze, Alternativen und Möglichkeiten.

                Wenn hingegen bereits die Frage zur konkreten Umsetzung zum Anlass genommen wird, der Bevölkerung wahlweise ihre moralische Integrität abzusprechen oder gleich demokratische Untauglichkeit zu attestieren, und Erläuterungen als zu "pädagogisierend" abgelehnt werden, aber gleichzeitig die einzig verantwortliche Herangehensweise zur bekanntlich freien Wahlentscheidung in nicht minder paternalisierender Weise vorgegeben werden soll, dann scheint mir die entscheidende Frage vielmehr, ob überhaupt ein Interesse daran besteht, die Bevölkerung weiterhin als demokratischen Souverän zu betrachten, oder ob das Thema nicht lediglich dazu genutzt wird, erneut die Systemfrage zu stellen. Hier haben Sie sich ja schon mehrfach im Forum positioniert - und auf meine an anderer Stelle geäußerte Frage, welche anderen Modelle Ihnen denn so vorschweben, bin ich nach wie vor an einer Antwort interessiert.

                • @phalanx:

                  "75 % der potenziellen AfD-Wähler/innnen Protest als Hauptgrund ihrer Wahlentscheidung benannt"



                  Und damit ist dann für sie klar, dass das eigentlich alles überzeugte Demokraten sind die lediglich mit der gegenwärtigen Regierung unzufrieden sind? Ich denke schon, dass man es sehr wohl aus zurechenbaren Ausdruck von Ideologie und Gesinnung werten kann wenn es jemand für vertretbar hält als angeblichen Ausdruck von Protest eine proto-faschistische Partei zu wählen und damit ggf. auch an die Macht zu befördern.



                  "aber gleichzeitig die einzig verantwortliche Herangehensweise zur bekanntlich freien Wahlentscheidung in nicht minder paternalisierender Weise vorgegeben werden soll"



                  Was bitte soll an der Forderung, dass Demokraten sich selbstverantwortlich informieren und ihre Wahlentscheidung irgendwo innerhalb des demokratischen Spektrums irgendwo zwischen ganz links und ganz rechts, aber eben nicht anti-demokratisch treffen sollen paternalistisch? Die Erfahrung, dass Demokratie ohne Demokraten nicht funktioniert hat man ja zu Weimarer Zeiten schon einmal gemacht und es wäre wohl klüger seine Lehren daraus zu ziehen.



                  "Thema nicht lediglich dazu genutzt wird, erneut die Systemfrage zu stellen. Hier haben Sie sich ja schon mehrfach im Forum positioniert - und auf meine an anderer Stelle geäußerte Frage, welche anderen Modelle Ihnen denn so vorschweben, bin ich nach wie vor an einer Antwort interessiert."



                  Ich denke schon, dass meine Positionierungen durchaus gewisse Tendenzen erkennen lassen, aber ihnen hier irgendein Schlagwort zu präsentieren damit sie dann erklären können, dass das ja doch wahlweise komplett utopisch oder totalitär sei halte ich für müßig. Entweder man hat eben die geistige Offenheit um darüber nachzudenken, dass eine bessere Welt möglich sein könnte oder man meint eben, dass der status quo die beste aller mögliche Welten und die einzig legitime Ordnung sei.

                  • @Ingo Bernable:

                    "Und damit ist dann für sie klar, dass das eigentlich alles überzeugte Demokraten sind die lediglich mit der gegenwärtigen Regierung unzufrieden sind?"

                    Das ist Ihre Interpretation, und einmal mehr die Ihrem Gegenüber ungünstigste.



                    In erster Linie ist es mir Anhaltspunkt dafür, dass durchaus die Möglichkeit besteht, Stimmen für das demokratische Spektrum zurückzugewinnen, die bei vorherigen Wahlen noch genau dorthin gegangen sind.



                    Persönlich ist Protestwählen zwar ebenfalls keine Option für mich, weil ich a) keinen konstruktiven Lösungsbeitrag darin erkennen kann und mir b) die Gefahr einer tatsächlichen AfD-Regierung zu groß wäre. Aber gleichzeitig halte ich es eben auch für keine gute Idee, die Leute gleich ganz aufzugeben und damit sie in ihrer Opferrolle ("Für unsere Belange interessiert sich doch keiner") auch noch zu bestätigen.

                    "Was bitte soll an der Forderung, dass Demokraten sich selbstverantwortlich informieren und ihre Wahlentscheidung irgendwo innerhalb des demokratischen Spektrums irgendwo zwischen ganz links und ganz rechts, aber eben nicht anti-demokratisch treffen sollen paternalistisch?"

                    Allein die freie Wahlentscheidung - auch hinsichtlich der Informationstiefe - an Forderungen zu knüpfen, deren Nichterfüllung dann stante pede die Schlussfolgerung demokratischer Untauglichkeit nach sich zieht, erlebe ich als hochgradig paternalistisch - erst recht, wenn man dies noch dahingehend erweitert, bereits aus der - mE notwendigen und berechtigten - Frage nach konkreter Umsetzung auf dieses vermeintliche Defizit schließen zu wollen.

                    Und umso überraschender finde ich, dass genau diese doch zuweilen übergriffigen Argumentationsmuster diametral entgegenstehen zu den Anschauungen, die ich tatsächlich schon vermutet habe, auch anhand des Wortspiels Ihres Usernamens - da mag ich aber auch irren.



                    Wie dem auch sei, es hätte mich tatsächlich mal interessiert, auch wenn Sie im Ergebnis vermutlich Recht haben, dass wir da unterschiedlicher Ansicht sein werden.

                    • @phalanx:

                      Aber müsste man nicht, wenn man die Forderung einer gründlich informierten, mündig-selbstverantwortelichen Wahlentscheidung innerhalb demokratischer Parameter als paternalistisch verwirft, dann konsequenterweise auch die Wahl eines Kanzlers Höcke als legitimes Resultat akzeptieren und zwar selbst dann noch wenn damit das reale Risiko verbunden ist, dass eine derartige Wahl dann auch die letzte freie war?

                      • @Ingo Bernable:

                        Zunächst einmal müsste das Ergebnis der Bundestagswahl als solches wohl hingenommen werden.

                        Die Wahl eines Bundeskanzlers Höcke dürfte allerdings daran scheitern, dass bei realen Anhaltspunkten für eine Machtübernahme wohl kein glaubhaftes Bekenntnis zur FDGO anzunehmen ist, welches sowohl der Vorschlag als auch die Ernennung durch den Bundespräsidenten voraussetzen.

  • Das Geld, was für Frontex und Konferenzgedöns verschwendet wird, für Bildung und Umweltschutz ausgeben...

  • 8G
    80410 (Profil gelöscht)

    Wir leben in einer globalisierten Welt. Wir wollen alles von überall her haben, alles sehen, überall hinkönnen, mit allen reden, zu allem etwas sagen, auf alles Einfluss nehmen. Wir haben große Werte nach denen wir die Welt formen wollen, aber wenn dann die Welt zu uns getrieben wird, schlagen wir wie die letzten Hinterwäldler die Türe zu und tun so, als ob wir nichts mit ihr zu tun hätten - zumindest dann, wenn die Fluchtursache nicht fast vor unserer Haustür liegt.

    "Das ist ein Schritt hin zu einer staatsähnlicheren EU. Europa einigt sich mit sich selbst – auf Kosten der Migranten." Danke, auf so eine EU kann ich verzichten.

    • @80410 (Profil gelöscht):

      Wenn alle Länder der Erde die gleichen Sozialsysteme hätten wäre der Zuzug kein Problem. Leider ist es aber so, dass 95% (!) oder mehr keinen derart umfangreichen Sozialstaat wie Deutschland haben. Vielleicht noch Dänemark, Schweden oder Norwegen. Selbst die Reichen USA, Kanada oder Singapur haben keinen Sozialstaat. Ganz zu schweigen von China, Indien, Indonesien, Südamerika, Afrika etc.

      • @Alexander Hoe:

        Beim Asyl geht es darum Verfolgten Schutz zu gewähren, nicht darum ob es sich rechnet. Unabhängig davon könnte man dort einiges verbessern. Den Menschen die Aufnahme einer Arbeit zu verbieten oder oder auf bürokratischem Wege faktisch unmöglich zu machen und ihnen dann vorzuwerfen nicht zu arbeiten ist eben die reichlich zynische Normalität in diesem Feld.



        Und wenn ihnen etwas am Sozialstaat liegt, sollte langsam auch mal klar sein, dass sich überhaupt nur noch mit Migration vermeiden lassen wird, dass dieser in absehbarer Zukunft unter der Last der zunehmenden Rentnerpopulation kollabieren wird.

  • Danke für diesen Beitrag ! Wenn wir gerade die Nachtrabler des Länderrats verfolgen dürfen, zeigt sich das Dilemma, in das die unbedingt regieren wollenden die grüne Basis gebracht haben. Die echten Klebenden sitzen in den Spitzen einer Ampel-Regierung.