Baden trotz Kälte: Plädoyer für den Reset
Manche Leute finden Gefallen daran, im Winter im See zu schwimmen. Unsere Autorin gehört dazu – und fragt sich, warum eigentlich.
Vorgestern, gestern, heute habe ich schon auf den Resetknopf gedrückt. Ich bin zum nächsten See gefahren, in meinem Fall ist das der Plötzensee in Berlin, den ich im Sommer meide. Zu überlaufen. Ich zog mich aus, kletterte auf den rutschigen Steinen hinunter an den schmalen Einstieg und wanderte langsam in den See hinein. Früher bin ich ein paar Züge geschwommen, aber einfach im Wasser stehenzubleiben halte ich leichter aus.
Seit ich bei anderen gesehen habe, dass es sogar besser ist, beim Rumstehen die Hände auf den Kopf zu legen, mache ich auch das. Denn Hände und Füße sind am schlimmsten. Werden die kalt, hört der Spaß auf. Deshalb gehören neuerdings auch Neoprenfüßlinge zu meinem Outfit.
In meiner Vorstellung sollten diese dicht sein; das sind sie jedoch nicht, es läuft Wasser rein. Durch die Körperwärme erwärmt es sich allerdings etwas und puffert so die Kälte des Sees ab. Dann ist es auszuhalten. Bei den Neoprenhandschuhen klappt das nicht. Es läuft ebenfalls Wasser rein, erwärmt sich aber nicht. Zumindest nicht bei mir.
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Wo sind die Glückshormone?
Meine Ziele sind niedrig gesteckt. Wenn ich so in den See hineingehe, bis mir das Wasser über die Schultern lappt, zähle ich auf sechzig. „Eine Minute muss reichen.“ Da schmerzen die Oberschenkel schon. Andere halten es länger aus. Drei Minuten. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Inklusive Handyfoto.
Kaltbaden soll ungeheuer gesund sein, das Leben verlängern, Schmerzen lindern, beim Abnehmen helfen, Zellverklumpungen lösen, böses Fett in gutes Fett umwandeln, das Herz-Kreislauf-System aktivieren und vieles mehr. Und es soll Glückshormone freisetzen. Aber da bin ich mir nicht sicher, gespürt habe ich das bisher jedenfalls nicht.
Kaltbaden soll allerdings auch nicht ungefährlich sein. Herzstillstand droht. Das Gehirn unterversorgt mit Blut. Und ja, da ist etwas dran. Neulich ging meine Freundin mit mir ins Wasser und blieb relativ lange drin. Eigentlich schien alles okay, als sie wieder aus dem See stieg. Sie begann sich abzutrocknen. Plötzlich sagte sie, ich solle ihr mit den Füßlingen helfen. Und dann noch: „Warum habe ich die überhaupt an?“ Erst dachte ich, sie macht Witze. Dem war aber nicht so. „Weil du gerade im See warst“, antwortete ich. „Echt jetzt?“, fragte sie. Sie, deren Blutdruck notorisch niedrig ist, hatte einen Blackout. Erst als sie wieder angezogen war, ging es ihr besser. Seither war sie nicht mehr im See.
Der Pullover als Glück
Auch ich habe gemerkt, dass die Sache nicht so einfach ist, als ich noch ohne Füßlinge geschwommen bin. Selbst wenn es nur zehn Züge rein in den See waren; beim Zurückschwimmen wurde ich schon ganz langsam. Mein Atem stockte. Da war ein Moment von Bedrohung. „Warum tue ich mir das an?“, brülle ich.
Das An- und Ausziehen ist mit Abstand der nervigste Teil der Geschichte. Für eine Minute sich aus all den Lagen Kleidung schälen und sie nachher schnellstmöglich wieder anzulegen. Aber der für mich mit Abstand schönste Moment ist der, wenn ich dann die Wolle meines Pullovers wieder auf meiner Haut spüre und sich der Körper erwärmt. Ob das das Glück ist?
Herrscht draußen schlimmes Wetter, quäle ich mich mitunter, ob ich an den See gehen soll oder doch lieber nicht. Das jedoch ist noch viel schlimmer. Denn dann verbringe ich den Tag damit, mir zu überlegen, ob es nicht schön wäre, sich trotz des widrigen Wetters im Freien ein Bad zu gönnen. Das mache ich so lange, bis es dunkel ist und ich im rumpeligen Modus, der durch einen Reset aufgerichtet worden wäre, weiterexistiere.
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