Autorin über modernen Antisemitismus: „Woke? No fucking way!“
Politisch zu sein ist mehr denn je von Coolness geprägt, sagt die Autorin Mirna Funk. Antizionismus habe sich sehr gut eingefügt in den Trend des Gerechtigkeitskämpfers.
taz: Frau Funk, in Ihrem jüngsten „Zeit“-Essay gingen Sie mit der jungen antirassistischen, intersektionalen Linken hart ins Gericht. Sie schrieben: „Für viele Juden und Jüdinnen der jüngeren Generationen, die leidenschaftlich Seite an Seite mit den woke warriors marschierten und sich für eine bessere Welt einsetzten, waren diese letzten Wochen krasser, als einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet zu bekommen. Für sie bedeutete es den Verlust der politischen Heimat.“ Können Sie das erläutern?
Mirna Funk: Ich selbst gehöre nicht zur Generation der Millennials, also jener, die sich insbesondere in den letzten Jahren stark im Social-Justice-Bereich engagiert haben. Aber natürlich habe ich auch viel mit jüngeren Jüdinnen und Juden zu tun. Und dass zum Beispiel in queerfeministischen Räumen schon seit Jahren Probleme herrschen, wenn da Jüdinnen und Juden auftauchen, ist bekannt und wird von Jüdinnen und Juden seit Langem kritisiert.
In den letzten Wochen aber ließ sich die gesamte Problematik noch einmal besonders deutlich beobachten: In dem Moment, in dem du in diesen Räumen als Jüdin oder Jude auftrittst, wirst du sofort nach deiner Beziehung zu Israel gefragt. Und wer sich dann nicht antizionistisch äußert, ist nicht willkommen. So einfach ist das. Denn die meisten dieser aktivistischen Räume sind schlichtweg antizionistisch.
In Ihrem Essay beschreiben Sie auch, wie sehr Antizionismus inzwischen mit popkultureller Coolness aufgeladen ist. Wie kam es dazu?
Antizionismus hat sich einfach sehr gut eingepasst in den allgemeinen Trend des woken Gerechtigkeitskämpfers. Früher waren linke Antizionisten vor allem klassische, und daher nicht besonders coole Linke. Jetzt aber hat sich das unter anderem durch Black Lives Matter, MeToo oder Fridays for Future vollständig geändert.
Wenn du heute cool sein willst, musst du politisch engagiert sein und dich gegen alle Formen von Ungerechtigkeit aussprechen. Das sehen wir unter anderem auch an Marken. Unpolitisches Social-Media-Geplänkel geht für Brands nicht mehr. Man muss sich im Social-Justice-Bereich verorten, sonst können Millennials nicht mehr erreicht werden. Politisch zu sein, ist heute cool. Das war vor 20 Jahren noch völlig anders.
Eigentlich keine per se schlechte Entwicklung – oder?
Absolut. In den Techno-Neunzigern- und den Sneaker-Nullerjahren war das überhaupt nicht so. Niemand wollte wählen, weil: Who cares? Doch viele der politischen Bewegungen sind extrem ideologisch. Auch weil sie auf der Grundannahme einer binären Welt basieren: Das System unterdrückt uns und wir sind die Unterdrückten, die den Unterdrückern gegenüberstehen und uns befreien müssen.
Da ist natürlich schon auch etwas Wahres dran, aber derart einfach gestrickt ist die Welt dann doch nicht. Es hilft, sie sich zu erklären und macht vor allem diejenigen, die sich gegen die Unterdrücker auflehnen, zu besseren Menschen. Darin liegt aber ein Riesenproblem.
Inwiefern?
Alles Schlechte und Böse wird nun externalisiert und auf andere projiziert: auf das System oder die White Supremacists oder SUV-Fahrer oder Banker. Das hilft dabei, sich selbst moralisch überlegen zu fühlen. Dabei wird vergessen, dass wir als Menschen immer zugleich gut und böse sind. Der Aufschrei war groß, als Hannah Arendt aus Eichmann einen Menschen machte. Aber das war er nun mal. Ob einem das gefällt oder nicht.
Eichmann war ein Mensch mit guten und ganz besonders schlechten Eigenschaften. Er selbst inszenierte sich beim Prozess in Jerusalem als Opfer des Systems. Damit behaupte ich natürlich nicht, die Wokies seien Eichmann, sondern damit sage ich, es fehlt aktuell an Selbstverantwortung. Die beginnt aber bei sich selbst und zeigt sich nicht in der Abgrenzung von den vermeintlich schlechteren Menschen. Moralische Selbstgerechtigkeit ist weit entfernt davon, gut zu sein. Das haben viele vergessen.
Woher aber kommt die Verknüpfung mit dem Antizionismus, die schematische Verortung von Israel und den Israelis aufseiten der Oppressors? Eigentlich wäre Israel doch ein hochinteressanter Ort für intersektional Interessierte. Denn immerhin leben dort doch zwanzig Prozent arabische Israelis, zahlreiche äthiopisch-jüdische Israelis oder misrachische Israelis, die über 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen und deren Vorfahren aus den arabischen Ländern, der Türkei und dem Iran fliehen mussten oder von dort vertrieben worden sind …
… weil das keiner weiß. Weil keiner weiß, dass es in Israel schwarze Juden gibt, und keiner die Geschichte der Misrachim kennt. Oder die der Sephardim. Jüdinnen und Juden gelten schlicht und einfach als weiß und werden damit zu Unterdrückern. Was wissen die Leute, die nun auf den antizionistischen Zug aufspringen, schon über die israelische Gesellschaft? Sie wissen ja auch nicht, was es bedeutet, Palästinenser zu sein und gleichzeitig israelischer Staatsbürger.
Sie wissen nicht, wie sehr sich die Lebenswelten von Palästinensern in Ostjerusalem, Gaza und dem Westjordanland unterscheiden. Oder in Ramallah oder Hebron. Die Leute wissen nicht, was die Fatah ist. Okay, Hamas, das haben sie mal gehört. Aber wenn Hamas sich auf die Fahnen schreibt, eine palästinensische Widerstandsbewegung zu sein, dann kann sie sich damit extrem gut verkaufen – denn Widerstand ist eben sexy und cool im Moment.
Das alles wäre eigentlich einfach zu recherchieren.
Natürlich, aber man will es einfach nicht. Weil man selbst – ohne es zu wissen – antisemitisch ist. Und das habe ich versucht mit meinem Essay zu erklären: Der Antisemitismus ist schlicht und einfach internalisiert – von allen meinen drei Kunstfiguren. Von Paula, die ein Problem mit der Klimaerwärmung hat und ihren internalisierten Rassismus jeden Morgen durch das Hören von Podcasts bekämpft; von Farid, der sich in der Migrantifa engagiert und gegen Antideutsche wettert; sowie von Tara, die eine schwarze Mutter und einen weißen Vater hat und in einem Reihenhaus im Odenwald aufgewachsen ist und seit George Floyds Tod nicht mehr ohne ihr Malcolm-X-T-Shirt das Haus verlässt.
Sie alle haben den Blueprint eines Juden im Kopf, der jetzt auf Israelis projiziert wird, völlig egal, ob das auf allen möglichen Ebenen hinten und vorne nicht passt. Die Realität vor Ort im Nahen Osten interessiert doch niemanden wirklich. Die Ereignisse dort fallen nur auf sehr fruchtbaren Boden – auf einen über 2.000 Jahre alten antisemitischen Boden. Anstatt sich zu informieren, will man den eigenen internalisierten Antisemitismus ausleben – getriggert von den Ereignissen in Nahost.
Wie haben Sie die Ereignisse und Entwicklungen aus den letzten Wochen im Vergleich zu 2014 erlebt?
Nach jahrelanger bezahlter und unbezahlter Bildungsarbeit bin ich nun realistischer geworden. Wie viele andere hatte ich in den Maiwochen das Gefühl, dass das, was wir machen, Sisyphusarbeit ist. Wir machen und machen ohne Ende – und letztlich gibt es so viele und so massive Enttäuschungen, auch bei Leuten, die ich eigentlich anders eingeschätzt hatte. Anders als 2014 war ich im Mai aber nicht in Tel Aviv, wo ich über drei Monate hinweg den Raketenalarm, den Raketenhagel und das damals schon online stattfindende antisemitische Aufbegehren erlebte.
geboren 1981 in Ostberlin, studierte Philosophie und Geschichte. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin und schreibt über Kultur und ihr Leben zwischen Berlin und Tel Aviv. Im Jahr 2015 erschien ihr Debütroman „Winternähe“, für den sie mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 für das beste deutsch-sprachige Debüt ausgezeichnet wurde.Vor Kurzem ist ihr neuer Roman erschienen: „Zwischen Du und Ich“, dtv, 304 Seiten, 22 Euro.
Mit dem ganzen Antisemitismus und Antizionismus musste ich mich damals im Alltag nicht wirklich auseinandersetzen, allenfalls online. Ich fühlte mich damals vor Ort, in Tel Aviv, sogar sicherer als in den Maiwochen hier in Deutschland. Denn dieses Mal habe ich eine Erfahrung gemacht, die ich noch nicht kannte: Angst zu haben, das Haus zu verlassen und mir von fremden Leuten auf der Straße dummes Zeug zu Israel anhören zu müssen.
Als öffentliche Person, die sich gegen Antisemitismus klar positioniert, stehe ich noch mehr im Fadenkreuz als im Sommer 2014. Das führte auch dazu, dass ich Hunderte Nachrichten auf Instagram bekam, in denen ich beschimpft oder mir gedroht wurde.
2014 sind Sie als Reaktion auf die antisemitischen Ausschreitungen nach Israel ausgewandert. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus den Erfahrungen der letzten Wochen?
Ich finde es berührend, wie junge Menschen kämpfen. Auf Miriam Yosef und Ina Holev von der großartigen Bildungsinitiative Jüdisch & Intersektional bin ich zum Beispiel total stolz. Mir fehlt es mittlerweile völlig an Idealismus. Ich glaube, dass der Kampf nicht zu gewinnen ist. Dafür bin ich pragmatischer, habe realistischere Erwartungen an meine eigene Arbeit. Allerdings bin ich eines nicht mehr, obwohl ich das vor drei Jahren noch war: links. Eine Liberalistin? Ja! Aber woke? No fucking way!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge