Buch über ikonische Denkerinnen: Dem Leid mitleidlos begegnen
Deborah Nelson porträtiert sechs ikonisch gewordene Denkerinnen und Künstlerinnen, die bis heute polarisieren.
Das Leid, das die Coronapandemie jenseits unserer Wohlstandsinseln im Schlepptau führt, ist in seiner Massivität schwer fassbar. Eine nackte Zahl von 15 Millionen Toten in den Jahren 2020/21 lieferte Anfang Mai eine Schätzung der Weltgesundheitsorganisation. Doch ging diese Meldung irgendwie unter, sind wir doch derzeit mehr damit beschäftigt, uns an die atemraubenden Kriegsbilder von Gewalt, Tod und Zerstörung aus der Ukraine zu gewöhnen.
Addiert man zu diesem Horror das permanente Grundrauschen einer noch viel größeren Bedrohung für das menschliche Überleben – den Klimawandel –, kommt einem das Vorstellungsvermögen gehörig abhanden, wie diese Realität noch händelbar sein soll und wendet den Blick vielleicht lieber fatalistisch ab. Oder läuft sich, dem mitfühlenden Geist unserer Zeit entsprechend, in sozialmedienverstärkter emotionaler Überhitzung tot.
Die Protagonistinnen in Deborah Nelsons Buch „Denken ohne Trost“ – Diane Arbus, Hannah Arendt, Joan Didion, Mary McCarthy, Susan Sontag und Simone Weil – würden einem solche Empfindungen vielleicht als (selbst)mitleidiges Mimimi um die Ohren hauen.
Polarisieren bis in die Gegenwart
Deborah Nelson „Denken ohne Trost“. Aus dem Amerikanischen von Birthe Mühlhoff. Wagenbach Verlag, Berlin 2022, 240 Seiten, 22 Euro
Bei ihnen handelt es sich um solitäre Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, die sich in der westlichen Auseinandersetzung mit den Traumata des 20. Jahrhundert einen Ruf eminenter Bedeutung erstritten und die bis heute ihr Lesepublikum polarisieren. Von den einen kultisch verehrt ob ihres kühlen Weltzugangs, sahen andere bei ihnen vor allem Gefühl- und Herzlosigkeit am Werk, was nicht selten in dem Vorwurf ad feminam gipfelte, dass die Damen wohl unter charakterlicher Deformation litten.
Neutraler spricht man besser von einer Haltung der Unsentimentalität, die diese Frauen in der Konfrontation mit dem Leid ihrer Gegenwart einnahmen. Der Auslotung dieser Haltung, der damit verbundenen Erkenntnispraxis und einem von gefühligen Schlacken befreiten Stil, widmet sich Nelson in ihrem ebenso voraussetzungsreichen wie lektüre-intensiven Gruppenporträt in fünf Kapiteln.
„Wir sind ästhetisch, politisch und moralisch verpflichtet, uns der Realität zu stellen, so schmerzhaft sie auch sein mag, und zwar ohne dabei den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen“, bringt Nelson die unsentimentale Haltung der Denkerinnen ohne Trost auf den Punkt.
Damit bewegen sie sich auf einem schmalen Grat zwischen Coolness und ironiegepanzerter Kälte einerseits und einer von Traumastudien beeinflussten, empathievollen und solidarisierungsbekennenden Leidenseinfühlung andererseits, die sich als Bewältigungsstrategien im Umgang mit den Verheerungen des 20. Jahrhunderts etablierten.
Arendt und Co. dagegen, so eine zentrale Differenzierung Nelsons, zeichnet aus, dass sie dem Schmerz gegenüber nicht gleichgültig bleiben, dass sie vielmehr auf einer mutigen, ungeschützten, für Selbstveränderung offenen Auseinandersetzung mit dem Leid bestehen. Während sie sich gleichzeitig weigern, dieses Leid zu sakralisieren. Wohlüberlegt und reflektiert misstrauen sie den Gefühlen und dem Tröstlichen, weil sie uns daran hindern, der schmerzhaften Realität ins Gesicht zu sehen.
Es ist bei dieser Skizze des Unsentimentalen nicht unbedeutend, dass es sich um Frauen handelte, die diese Haltung einnehmen. Denn von Frauen erwartete man, dass sie sich qua Frausein empathieprall und mitfühlend der Welt und den Anderen gegenüber zeigten. Weigern sie sich, dieser Erwartung zu entsprechen, noch dazu recht furchtlos öffentlich exponiert, so ist das oben erwähnte Verdikt der Kälte und charakterlichen Deformation schnell ausgesprochen.
Aufgrund der Häufung des Katastrophischen gewinnt Nelsons Analyse und gewinnen die Arbeiten der sechs Denkerinnen ohne Trost an weiterlesenswürdiger Aktualität. Nicht nur schärft sich der Blick auf die eigene Gefühligkeit, mit der man dieser Wirklichkeit so wenig realitätstauglich begegnet. Darüber hinaus ist dies ein wohltuend unsentimentaler Einspruch gegen den Geist unserer Zeit.
Es ist keine Aufforderung, gefühllos durch die Welt zu marschieren, wohl aber eine, den Gefühls- und Empathieanrufungen, den ständigen Solidarisierungs- und Identitätsbekenntnissen, von denen unsere öffentliche Sphäre überquillt, mit etwas Skepsis zu begegnen. Denn Emotionalität macht uns nicht zwangsläufig zu besseren Menschen. Und Empathie ist kein Garant für die Rettung unserer Welt.
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