Ausstellung zum Thema Wohnungslosigkeit: „Viel Zeit mit den Unbehausten“
Mit der Schere zwischen Arm und Reich beschäftigt sich Jana Sophia Nolle. Sie stellt im Haus am Kleistpark inszenierten Fotografien aus.
Die Künstlerin Jana Sophia Nolle baut die Behausungen von Obdachlosen in den Wohnzimmern wohlhabender Menschen nach und fotografiert sie. Sie begann das Projekt 2017 in San Francisco und hat es in Berlin fortgesetzt. Ein Buch ist entstanden und ihre Fotografien sind im Haus am Kleistpark zu sehen.
taz: Frau Nolle, Ihre Fotografien folgen einem festen Schema: In der Mitte eines repräsentativen Raumes steht eine improvisierte und selbst gebaute Unterkunft. Was bedeutet „Wohnzimmer“ für die Menschen, die Sie im Laufe des Projekts getroffen haben?
Jana Sophia Nolle: Das Wohnzimmer ist ein Rückzugsort, wo wir sein können, wie wir sind. Es ist aber auch ein Raum, in dem wir Gäste empfangen und gesellig sind. Die doppelte Bedeutung von „Living Room“ als „Wohnzimmer“ und „Lebensraum“ trifft besonders auf obdachlose Menschen zu, deren Behausung Schlaf- und Wohnraum zugleich ist. Uns allen gemeinsam ist, dass wir diesen Raum gestalten. Wenn man Obdachlose sieht, denkt man vielleicht, ihre Unterkunft sei willkürlich. Meine Erfahrung ist eine andere. Unser aller Bedürfnis, sich von den Blicken der anderen zurückzuziehen oder vor Geräuschen zu schützen, lässt sich auf der Straße nicht umsetzen. Es gibt dort keine Privatsphäre.
Sie adressieren mit Ihrer Arbeit gesellschaftspolitische Probleme wie Ausgrenzung, Ungleichheit, Wohnungsnot und Gentrifizierung. Was kann Kunst hier leisten?
Jana Sophia Nolle
(*1986) hat Fotografie an der Ostkreuzschule studiert, neben der Kunst ist sie international als Wahlbeobachterin tätig.
Gegenüber den teilnehmenden Personen ist es mir wichtig, transparent zu sein, damit alle um die Grenzen des Projekts wissen. Kunst kann die Ursachen dieser Probleme nicht lösen und ich kann das Leben der Individuen nicht ändern. Ich kann aber Themen wie Wohnungslosigkeit eine Plattform geben. Ich bin davon überzeugt, dass Künstler:innen, Gruppen und Institutionen, die sich mit sozialpolitischen Themen beschäftigen, in der Summe eine Kraft hervorbringen können, durch die ein Dialog entstehen kann. Wir sind durch die Medien täglich mit erschreckenden Nachrichten und der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich konfrontiert. Das kann zu einer Realität werden, die die Armut um uns herum in gewisser Weise unsichtbar macht. Ich glaube, Kunst kann auf eine andere Art bewegen, den Alltag unterbrechen und die Menschen auf einer unterbewussten Ebene erreichen.
„Living Room“ ist eine Typologie von temporären Behausungen, die ein genaues Hinschauen ermöglicht, wo wir sonst oft wegschauen. Den Fotografien voraus geht ein performativer Akt, in dem Sie das Szenario für das eigentliche Bild erst herstellen. Warum haben Sie sich gegen einen dokumentarischen Ansatz entschieden?
Ich interessiere mich für die Verschachtelung von Realitäten, die so nicht zusammenkommen, aber ganz nah beieinander sind. Für meine eigenen Recherchen habe ich auch dokumentarisch fotografiert. In meinem Buch gibt es ein Kapitel mit Porträts und Abbildungen der Originalunterkünfte. Das ist für mich die Vorarbeit zur eigentlich konzeptuellen Arbeit. Ganz zentral ist der performative Akt, wenn ich mich als eine Mittlerin vom öffentlichen in den privaten Raum bewege und mich die Wohlhabenden in ihre Häuser lassen – und mit mir die Materialien, die Armut repräsentieren. Es geht nicht nur um ein Foto, es geht um mehr.
Ihr Projekt basiert auf Kooperation und Partizipation. Die Menschen teilen ihr Wissen, wählen Requisiten aus, gewähren Zugang, vermitteln Sie weiter. Wie haben Sie die Personen für Ihr Projekt gewinnen können?
Die Wohnzimmer zu finden war das schwierigste, es gibt nichts Privateres als den Wohnraum. Es hat Jahre gedauert und bedeutet, Beziehungen aufzubauen. Viele der teilnehmenden Personen sind an Kunst interessiert, möchten Teil einer künstlerischen Arbeit sein oder haben ein ausgeprägtes Interesse an gesellschaftlichen Themen. Oft ist es die Neugier oder das soziale Engagement, das mir die Türen öffnet. Mit dem Lockdown hat das Wohnzimmer als virenfreier Raum eine weitere Bedeutung bekommen. Das hat es mir sehr erschwert. Für mich ist die Arbeit in Berlin nicht abgeschlossen. Ich suche noch nach Wohnzimmern.
Ausstellung Jana Sophia Nolle: „Living Room“, bis 17. Oktober, Haus am Kleistpark
Publikation Jana Sophia Nolle: „Living Room, San Francisco 2017/2018“. Kerber Verlag, Berlin 2020, 64 S., 48 Euro
Sie rekonstruieren die temporären Bauten hinsichtlich Material und Machart mit viel Sorgfalt. Wie gehen Sie dabei vor und wie reagieren die involvierten Personen auf Ihre Initiative?
Ich verbringe sehr viel Zeit mit den Unbehausten, um Vertrauen aufzubauen und von ihnen zu lernen. Manche waren über mein Interesse an ihrer Unterkunft irritiert, haben dann aber Skizzen und Materiallisten erstellt. Anschließend habe ich diese Dinge, wie die meisten Obdachlosen auch, auf der Straße gesucht. Einige spezielle Sachen konnte ich nur Dank ihrer Hilfe finden, andere habe ich mit ihnen getauscht. Einige der Obdachlosen haben erzählt, dass sie unter der Situation leiden, nicht wahrgenommen zu werden. Sie verbinden mit dem Projekt den Wunsch, dass man auch sie und ihr Bedürfnis nach einem Schutzort sieht.
Das Projekt begann 2017 in San Francisco, eine Stadt mit der weltweit höchsten Millionärsdichte, aber auch viel Obdachlosigkeit. Nun arbeiten Sie an der Fortsetzung in Berlin. Wie unterscheiden sich die Städte in ihrem Umgang mit Armut und Reichtum?
In San Francisco sind Armut als auch Reichtum extrem und auch extrem sichtbar. Die wohlhabenden liberalen Menschen, die ich in Kalifornien kennengelernt habe, gehen selbstbewusst mit ihrem Reichtum um. In Berlin hingegen gibt es eine gewisse Scham, denn Wohlstand ist immer mit der Frage verbunden, woher das Geld kommt. Im Silicon Valley sind viele durch den Tech Boom zu Geld gekommen. Dieser Reichtum wird mit Arbeit assoziiert und die Leute sind offener als jene, die reich geerbt haben. Ich habe das Gefühl, in Deutschland hält man sich eher bedeckt. Die Menschen hier rechtfertigen oder erklären sich, warum sie reicher sind als andere. Es gibt eine gewisse Angst vor der Öffentlichkeit.
Neben Ihrer Ausbildung an der Ostkreuzschule für Fotografie haben Sie Politikwissenschaft studiert. Außerdem sind Sie als Wahlbeobachterin tätig und haben in Nepal, Myanmar, Weißrussland, Albanien und der Ukraine gearbeitet. Wie beeinflussen diese Erfahrungen ihre künstlerische Herangehensweise?
Als Wahlbeobachterin spreche ich mit der ganzen Bandbreite von Akteur:innen, die in politische Prozesse eingebunden sind: Personen in politischen Ämtern, Zivilbevölkerung oder auch bewaffnete Gruppen in Konfliktgebieten. Ich muss in der Lage sein, alle Menschen gleich zu behandeln. Diesen Grundsatz habe ich auch bei „Living Room“ verfolgt. Ich habe keinerlei Berührungsängste, aber immer den Anspruch, allen gleich zu begegnen und nicht zu bewerten, wie sie leben.
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