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Ausblick zu SilvesterBöllerpflicht

Früher wollten alle wissen, was sie erwartet, heute haben die meisten schon von der Gegen­wart genug. Trotzdem: ein vorsichtiger Blick in die Zukunft.

Jahreswechsel im Jahr 2054 Foto: Marius Schwarz/imago

W ir schreiben das Jahr 2054. Der Jahreswechsel steht bevor, ein Ereignis, das immer mehr an Bedeutung gewinnt, denn allzu oft – da sind sich außer AFD, FDP, AFDP, ACAB, ADAC und PENIS alle einig – werden wir gar nicht mehr die Gelegenheit dazu haben.

Vielmehr könnte jedes Silvester das letzte sein; Neujahr ist daher zum höchsten weltlichen wie religiösen Feiertag geworden.

Und der wird natürlich entsprechend eingeläutet. Es herrscht sogar Böllerpflicht. Allerdings nur für die Alten, denn die Rentenkassen hegen die berechtigte Hoffnung, der Sprengstoff werde bei der Gelegenheit einen üppigen Blutzoll erheben.

Doch während die Senioren, versorgt mit einem angriffskriegsfähigen Arsenal kostenloser Staatskracher, von hauptamtlichen Feuerwerkslotsen auf die nächtlich vereisten Straßen unserer Städte getrieben werden, haben die Jüngeren Hausarrest.

Die Jüngeren haben Hausarrest

Denn die dürfen sich auf keinen Fall verletzen, zu unverzichtbar sind sie für die Gesellschaft. Deshalb sind für sie acht Stunden Schlaf, frische Apfelschnitze und tägliche Gymnastik vorgeschrieben; kontrolliert von der Gesundheitspolizei GesuPo. Darüber hinaus ist ihnen jegliche riskante Betätigung verboten, ob Skifahren, Reiten oder das sichtbare Tragen eines Davidsterns am Neuköllner Hermannplatz oder im Seminar für Postcolonial Studies.

Die eh schon löcherig gehäkelte Personaldecke ist derart kurz, dass absolut niemand mehr ausfallen darf: weder der 60-Jährige, der dem ganzen Land Essen auf Rädern bringt, noch eine der letzten drei Pflegekräfte der Nation, die gleichzeitig alle hunderttausend Monitore für die Pflegeroboter made in Nordkorea überwachen müssen.

Steuerfreiheit oder würdevolles Alter?

Auf sie kommt es mehr denn je an, seit man damals am Scheideweg stand, entweder Milliardären grundsätzliche Steuerfreiheit oder den Bürgern ein würdevolles Alter zu ermöglichen. Da fiel die Entscheidung leicht, denn zahnloses Lümmeln im Lehnsessel schafft kein Wirtschaftswachstum.

Ohnehin gelten in den posthumanen 2050er Jahren Werte wie Würde, Liebe und Gerechtigkeit als völlig überschätzt. Mein Futurologe Zbigniew findet dazu wie immer die passenden Worte: „Die Würde ist nur der Senf am Tellerrand der Werte.“

Und Senf braucht unsere Wirtschaftswurst nicht, die auch ein Tempolimit so schlecht verträgt wie unsere Straßen oder die Natur. Letztere würde auf das Fehlen der gewohnten Stressfaktoren, ähnlich einem Drogensüchtigen auf kaltem Entzug, bloß mit dem endgültigen Systemzusammenbruch reagieren – da sind sich die Experten aus Literatur, Comedy und Philosophie ausnahmsweise einig.

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Uli Hannemann
Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.
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