Asylsuchende in Baden-Württemberg: „In Belgrad ist es wärmer“
Einen Winterabschiebestopp gibt es in Baden-Württemberg nicht. Rot-Grün schickt Flüchtlinge auch im Januar in ihre Herkunftsländer zurück.
TÜBINGEN taz | Eine Frau, an Hepatitis B erkrankt, und ihre sechs Kinder, kleinwüchsig und unterernährt, sind in dieser Woche nach Serbien abgeschoben worden. In Freiburg, wo sie zuletzt lebten, schwappte die Welle des Protests direkt in den grünen Neujahrsempfang. Demonstranten stürmten die Veranstaltung am Mittwochabend und riefen: „Grün-Rot schiebt ab, wir haben’s satt.“
Insgesamt 140 Menschen wurden am Dienstag vom Flughafen Karlsruhe/Baden-Baden aus nach Belgrad und Skopje abgeschoben, 57 davon aus Baden-Württemberg. Am 6. Januar lief der von Grün-Rot über Weihnachten verhängte Abschiebestopp aus. Seither wurden nach Angaben des Stuttgarter Innenministeriums bereits rund 100 Menschen abgeschoben.
In Bundesländern, in denen die Grünen in der Opposition sind, etwa in Brandenburg, fordern sie vehement einen Winterabschiebestopp. Im grün mitregierten Thüringen sind Abschiebungen auch tatsächlich ausgesetzt. In Stuttgart stellen sie den Ministerpräsidenten und beißen sich in Sachen Abschiebung doch am SPD-geführten Innenministerium die Zähne aus.
Bei der Protestaktion in Freiburg sprachen die Teilnehmer von verantwortungslosem Vorgehen. Die Grünen hätten ihre Ideale verraten. Albert Scherr vom Freiburger Forum gegen Ausgrenzung hält das Bekenntnis von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zu einer „humanitären Abschiebepolitik“ nur für ein Etikett.
Probleme mit der Ressortkompetenz
Die Grünen im Ländle reagieren ebenfalls mit Unverständnis und schieben die Schuld auf Innenminister Reinhold Gall (SPD). Fraktionschefin Edith Sitzmann sagte in Freiburg, sie hätte sich gewünscht, dass das Innenministerium von einer Abschiebung der Freiburger Familie absieht. Sie fordert vom Innenministerium „transparente, verbindliche Kriterien für eine humanitäre Einzelfallprüfung“. Ein Machtwort Kretschmanns gegen Gall verbiete sich aber, weil man auf Augenhöhe miteinander regiere und die Ressortkompetenz nicht untergraben wolle, heißt es aus Kreisen der Grünen.
Das Ministerium teilt auf Anfrage mit: „Die Forderungen nach einem Winterabschiebungsstopp sind für uns nicht nachvollziehbar. Zu einem generellen Stopp besteht angesichts des besser geeigneten flexiblen Instruments der Einzelfallprüfung keine Veranlassung – zumal in Belgrad nicht selten wärmere Temperaturen als in Baden-Württemberg herrschen.“ Das Regierungspräsidium Karlsruhe nehme bei der Einzelfallprüfung das „eingeräumte Ermessen sehr gewissenhaft, angemessen und differenziert wahr“. Im Fall der Freiburger Familie sei die Abschiebung angekündigt worden, der Anwalt der Familie habe nichts dagegen unternommen.
Der Freiburger Fall zeigt nach Ansicht der Grünen Jugend dennoch, dass die Einzelfallprüfung nicht funktioniere. Die Grünen wollen die Kriterien, die bei der Prüfung angewandt werden, konkretisieren, eine Art rote Linie zeichnen, wenn nicht abgeschoben werden darf. Dabei gilt Niedersachsen als Vorbild: Dort hat SPD-Innenminister Boris Pistorius in einem Rückführungserlass unter anderem festgelegt hat, dass Jugendliche, die ein Jahr vor dem Abschluss ihrer Ausbildung stehen, nicht abgeschoben werden. Bis die Grünen einen Konsens mit der SPD gefunden haben, dürfte der Winter vorüber sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten