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Armutsbericht der WohlfahrtsverbändeMehr Arme trotz Wirtschaftsboom

Auch der Mindestlohn ist kein Gegenmittel. Alleinerziehende und Rentnerinnen sind von Armut besonders betroffen.

Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen Foto: dpa

Berlin taz | Der Anteil der Menschen mit Armutsrisiko ist in Deutschland auf einen neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung gestiegen. 15,7 Prozent der Bevölkerung droht laut offizieller Statistik die Armut, beklagte der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag bei der Vorlage seines neuen Armutsberichts.

„Wir haben es wieder mit einem zunehmenden Trend zu tun“, sagte Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider. Die sogenannte Armutsgefährdungsquote war im Jahr 2014 im Vergleich zum Vorjahr auf 15,4 Prozent gesunken gewesen. Im Jahre 2006 hatte sie nur 14,0 Prozent betragen.

Der Verband bezieht sich auf Zahlen des Mikrozensus von 2015. Danach gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens hat. Die Gefährdungsschwelle für einen Alleinstehenden betrug in dieser Statistik 942 Euro Nettoeinkommen im Monat. Für ein Paar mit einem Kleinkind liegt sie bei 1696 Euro netto im Monat.

Schneider allerdings spricht bei Leuten unterhalb dieser Schwelle nicht mehr von „Armutsgefährdung“, sondern konkret von „Einkommensarmut“. Er ging auf eine häufig gehörte methodische Kritik an dieser Statistik ein, dass sich der Armutswert auch auf Menschen beziehe, die sich gar nicht als ausgegrenzt fühlen, zum Beispiel StudentInnen, die oft mit weniger als 900 Euro im Monat auskommen müssen. Es stimme, dass auch Studenten unter diesen Armen seien, so Schneider. Andererseits aber würden Hunderttausende von Wohnungslosen, Flüchtlinge ohne eigenen Hausstand und Heimbewohner von den Umfragen nicht erfasst.

„Sehr viele arme Menschen gehen gar nicht ein in die Statistik“, so Schneider. Die Armutsgefährdungsschwelle bezieht sich auf den „Median“, das „mittlere Einkommen“. Der Median ist die Einkommensgrenze, unter der die ärmere Hälfte der Bevölkerung liegt und ist nicht zu verwechseln mit dem „Durchschnittseinkommen“. Nimmt das Einkommen in der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zu, steigt auch der Median und damit die Armutsgefährdungsschwelle, die ja 60 Prozent dieses Medians beträgt. Im Jahre 2014 hatte die Schwelle, unter der jemand als armutsgefährdet gilt, noch bei unter 917 Euro für einen Single gelegen.

Arm trotz Mindestlohn

Der Anstieg der Armutsgefährdungsquote wirft Fragen auf, denn im Jahr 2015 wurde der Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde eingeführt, die Wirtschaft lief gut. Der Mindestlohn sei aber für die Armutsstatistik nicht von „hoher Relevanz“, weil er die Menschen „nicht über die Armutsschwelle hieve“, so Schneider.

Mit einer Vollzeitstelle kommt ein alleinstehender Mindestlöhner auf ein Nettoeinkommen von über 1.000 Euro. Wer mit einer Vollzeitstelle und Mindestlohn einen Partner maßgeblich miternähren muss, dessen Haushaltseinkommen rutscht aber schnell unter die Armutsschwelle für Paare. Wer eine 30-Stunden-Stelle hat – im Pflegebereich üblich – erreicht damit nur einen Verdienst von 850 Euro netto im Monat, bleibt also arm.

Dass Arbeit allein nicht immer das Armutsrisiko bannt, zeigt sich auch bei den Alleinerziehenden. Obwohl die Zahl der erwerbstätigen alleinerziehenden Mütter zunehme, steige deren Armutsrisikoquote, erklärte Erika Biehn, stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) am Donnerstag bei der Vorstellung des Armutsberichts. Viele der erwerbstätigen Mütter müssten ihren Verdienst mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken.

Zu den Risikogruppen für Armut zählen inzwischen auch RentnerInnen. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Quote der armutsgefährdeten Alten von 10,7 auf 15,9 Prozent. In Bayern und Baden-Württemberg liegen die Armutsrisikoquoten am niedrigsten, in Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt am höchsten. „Es ist gut, dass die Frage von Ungleichheit, Ausgrenzung und sozialer Gerechtigkeit wieder zum Wahlkampfthema wird“, sagte Schneider.

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11 Kommentare

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  • Also der Mindestlohn von €8,50 ist nicht armutsfest und dazu kommen ja noch sehr viele Ausnahmen. Und Armut definiert sich entlang des Wohngebietes, der Anzahl der Kinder, oder ob Familienangehörige unterstützt werden müssen und vieler anderer Faktoren - da ist auch ein Arbeitnehmer schnell arm oder schneller arm als ihm lieb ist. Außerdem liegen auch einige Menschen über dieser Linie und sind trotzdem arm. Die Löhne und der Mindestlohn müssen stärker steigen, sonst wird die Armut und Armutsgefährdung weiter zunehmen.

  • "Nimmt das Einkommen in der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zu, steigt auch der Median und damit die Armutsgefährdungsschwelle, die ja 60 Prozent dieses Medians beträgt."

    Nein, genau desshalb nimmt man den Median und nicht das arithmetische Mittel. Dieses würde genau wie beschrieben reagieren, der Median verhält sich gegenüber Veränderungen der "äußeren" Werte neutral. https://de.wikipedia.org/wiki/Median

  • "Mehr Arme trotz Wirtschaftsboom"???

    Mehr Arme wegen Wirtschaftsboom, dank der relativen Armutsgrenze des paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Denn mit dem Wirtschaftswachstum wächst auch die Armutsgrenze immer höher. Raffiniert.

  • "Mehr Arme trotz Wirtschaftsboom" - oder aber, richtiger: "Wirtschaftsboom weil immer mehr Arme"?

    Die neoconservative/neoliberale Umverteilungs-Dampfwalze rollt ungehindert weiter.

  • Das relative Armut auch in einer wohlhabenden Gesellschaft nur mit Millionären allein aus statistischen Gründen vorhanden wäre, wird im Artikel wenigstens angedeutet. Auf die Überschrift und den Grundtenor des Artikels hat es leider keinen Einfluss.

    Wenn heute deutlich mehr Menschen alleine leben und insbesondere alleine Kinder erziehen, ist das zunächst mal eine gesellschaftliche Entwicklung und ein Zeichen von Reichtum einer Gesellschaft. Früher wäre des finanziell einfach nicht gegangen. Heute gibt es (zum Glück) finanzielle Hilfen, so dass man nicht zum Zusammenleben gezwungen wird. Negativer Effekt: Es gibt mehr relativ Arme.

    • 1G
      10236 (Profil gelöscht)
      @André Schlebes:

      "Das relative Armut auch in einer wohlhabenden Gesellschaft nur mit Millionären allein aus statistischen Gründen vorhanden wäre, wird im Artikel wenigstens angedeutet."

       

      Stimmt nicht. Abgesehen von der Realitätsferne dieser Behaptung - statistisch gesehen gibt es keine Zwangsläufigkeit für eine Verteilung mit einem Anteil im Bereich weniger als 60% vom Median.

       

      Um es aber richtig einzuschätzen braucht's noch eines Vergleichs mit der für die Gruppe relevanten Inflation (Miete, Strom, Lebensmittel)

       

      Jetzt gucken sie sich die tolle Entwicklung vom *realen* Medianeinkommen an:

      http://www.jjahnke.net/index_files1/18567.gif

       

      Ich habe mir mal früher die Mühe gemacht den offiziellen Inflationswarenkorb zu bereinigen - bei Essentials kommt man in dem Zeitraum auf mind. 10% mehr. Ergo: die 60% vom Median werden kontinuierlich real ärmer. Rechnungen für z.B. Hartz IV gibt es genug.

  • Wer Arm ist, der muss früher sterben! - in der deutschen Reichtumsrepublik.

     

    Die Armen zahlen für die Wohlhabenden!

     

    Was sagte schon die vormalige Bundesarbeitsministerin Frau von der Leyen: Um die gesetzliche Grundsicherung [zuvor Sozialhilfe] als eigenständige Altersrente zu erhalten, müssten sie über einen Zeitraum von 35 Jahren in Vollzeitarbeit monatlich im Durchschnitt ein Bruttoarbeitseinkommen von 2.500 Euro beziehen. [Frau von der Leyen korrigieren Sie mich, wenn das so nicht stimmen würde, mit ihrer damaligen inhaltlichen Aussage.]

     

    Bei einem Mini-Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro-Std. brutto, muss die erwerbstätige Frau bzw. Mann, über einen Zeitraum von 55 bzw. 56 Jahren in Vollzeit arbeiten, ohne Fehlzeiten und ohne Arbeitslosigkeit, um im Alter von 71 bzw. 72 Lebensjahren, eine eigenständige Armutsrente in Höhe der Sozialhilfe [heute „gesetzliche Grundsicherung“] zu erhalten.

     

    Berücksichtigen wir hierbei auch die Tatsache, dass die Armen im Durchschnitt eine um zwölf Jahre geringere Lebenserwartung haben, dann dürften die Armen selbst noch mit ihrem geringen Rentenansprüchen die hohen Beamtenrenten mitfinanzieren!

  • 3G
    36855 (Profil gelöscht)

    Ist doch alles nur "gefühlt" lt. Politik und manchen Medien.

    Wahlkampfthema? Das gab es doch schon oft und nachher heisst es immer, dies sei mit dem jeweiligen Ko.partner nicht umzusetzen.

    Ach ja, die Grünen möchten auch nichts an der Agenda 2010 ändern.

    Hat mann/frau eine Wahl?

    • @36855 (Profil gelöscht):

      Ja, die hat man. Man könnte zum Beispiel mal die Linkspartei ausprobieren. (Ich höre schon das Aufheulen der Kollegen hier.)

  • Die Armen zahlen für die Wohlhabenden!

     

    Was sagte schon die vormalige Bundesarbeitsministerin Frau von der Leyen: Um die gesetzliche Grundsicherung [zuvor Sozialhilfe] als eigenständige Altersrente zu erhalten, müssten sie über einen Zeitraum von 35 Jahren in Vollzeitarbeit monatlich im Durchschnitt ein Bruttoarbeitseinkommen von 2.500 Euro beziehen. [Frau von der Leyen korrigieren Sie mich, wenn das so nicht stimmen würde, mit ihrer damaligen inhaltlichen Aussage.]

     

    Bei einem Mini-Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro-Std. brutto muss die erwerbstätige Frau bzw. Mann, über einen Zeitraum von 55 bzw. 56 Jahren in Vollzeit arbeiten, ohne Fehlzeiten und ohne Arbeitslosigkeit, um im Alter von 71 bzw. 72 Lebensjahren, eine eigenständige Armutsrente in Höhe der Sozialhilfe [heute „gesetzliche Grundsicherung“] zu erhalten.

     

    Berücksichtigen wir hierbei auch die Tatsache, dass die Armen im Durchschnitt eine um zwölf Jahre geringere Lebenserwartung haben, dann dürften die Armen selbst noch mit ihrem geringen Rentenansprüchen die hohen Beamtenrenten mitfinanzieren!