Armut in Deutschland: No money, no Zins
Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht die Vermögensbildung durch Niedrigzinspolitik gefährdet. Und erzielt so einen Propagandaerfolg.
Vor ein paar Jahren kursierte im Freundeskreis eine Liste. Es ging darum, was man noch unternehmen kann, wenn gar kein Geld mehr da ist: also zum Beispiel sich in die Bibliothek setzen (soweit keine Pandemie das verhindert) oder gar ein Buch ausleihen (soweit die Ausweisgebühr bezahlt ist).
Für viele Menschen ist das Total-abgebrannt-Sein nur eine Phase, die zum Erwachsenwerden dazugehört und auf die man im gesetzteren Alter sentimental zurückblickt. Für andere ist die Dauerpleite Lebensbegleiter. Zu den Promis dieser Kategorie gehört etwa der Dichter Dante Alighieri, dessen siebenhundertsten Todestags wir, wie es der Zufall will, nächste Woche am 14. September gedenken können. Dante spricht, in den höchsten denkbaren Höhen, also im Paradies angekommen, davon, wie versalzen die einem von den Reichen hingeworfenen Brotbröckchen schmeckten und welch bitterer Weg es sei, als ewiger Bittsteller die Treppen anderer erst hoch- und dann wieder hinuntersteigen zu müssen.
Deutschland ist bekanntlich eine Klassengesellschaft. Deswegen ist Hellhörigkeit angesagt, wenn ein von den Arbeitgebern finanzierter Thinktank sich in einer Studie plötzlich Sorgen um ärmere Haushalte macht. Erstellt hat die diese Woche erschienene Studie „Der Einfluss der EZB-Geldpolitik auf die Vermögensverteilung in Deutschland“ das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), herausgegeben wurde sie von der Stiftung Familienunternehmen.
Das IW ist im Nebenberuf übrigens auch zuständig für die arbeitgeberfinanzierte Propagandaorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die INSM fiel jüngst durch ihre mindestens geschmacklose, wenn nicht „antisemitische Anspielungen in Kauf“ nehmende – so der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn – Negativkampagne gegen die Grünen im Wahlkampf auf.
Keine Vereinigung netter Mittelständler
In der Studie kommen die Verfasser zu dem Schluss, die niedrigen Zinsen im Euroraum erschwerten den „Vermögensaufbau und die Altersvorsorge für diejenigen Haushalte, die aufgrund ihrer niedrigen Einkommen und niedrigen Vermögen auf risikoarme Anlageformen angewiesen sind“. Oder noch mal anders formuliert: „Nachteile ergeben sich vor allem für Haushalte, die nicht in eine Immobilie investiert haben beziehungsweise konnten und ihre Vermögensanlage über Zinsprodukte gestalteten.“
Da die aus solchen Sätzen generierte und unbeschwert durch die Medien schwingende Botschaft die ist, dass die EZB schuld daran sei, wenn „arme“ Familien kein Vermögen aufbauten oder kein Häuschen mehr bauen könnten, muss noch nachgetragen werden, dass es sich bei der Stiftung Familienunternehmen mitnichten um eine Vereinigung netter Mittelständler handelt, sondern um eine – selbstverständlich gemeinnützige – Lobbyorganisation von Superreichen, die unermüdlich gegen Mindestlohn und höhere Erbschaftsteuern kämpft.
Wenn wir nun zu den einleitenden Worten zurückkehren, dann ist zumindest eines klar: Wer kein Geld hat, bekommt auch keine Zinsen drauf. „Das reichste Zehntel in Deutschland verfügt über 67,3 Prozent des gesamten Nettovermögens. Für den großen Rest der Bevölkerung bleibt also wenig übrig, und die ärmere Hälfte besitzt fast nichts“, kommentierte Ulrike Herrmann in der taz die 2020er-Zahlen des – zu einem Großteil öffentlich finanzierten – Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Wem nichts zum Sparen bleibt, wer wie sehr viele Menschen nichts hat außer Kleidung, ein paar Haushaltsgeräten und, wenn es gut läuft, einem zur Hälfte abbezahlten Auto oder, wenn es schlecht läuft, einem zu bedienenden Kredit – wem es so ergeht, der wird der EZB eher dankbar sein müssen, dass sie durch den Niedrigzins wenigstens den Arbeitsmarkt am Laufen hält. Die lockere Geldpolitik stütze Wirtschaft und Konjunktur und sorge so für eine Verringerung der Arbeitslosigkeit und höhere Einkommen: Zu diesem Schluss kommt jedenfalls die Notenbank selbst. Von der Senkung der Arbeitslosenquote profitiere das einkommensschwächste Fünftel der Haushalte in besonderem Maße.
Worum es eigentlich geht
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich angesichts des spekulationsbedingt völlig losgelösten Immobilienmarkts keines mehr. Wer zur Miete wohnt, ist einem System ausgeliefert, das es nicht schafft, Wohnraum zu angemessen Preisen zur Verfügung zu stellen.
Aber auch wer eine – also genau eine – Immobilie besitzt, kann sie nicht einfach verkaufen und Reibach machen, denn irgendwo will Mensch ja auch noch wohnen. „Für einen erschwinglichen Immobilienerwerb“, heißt es in der IW-Studie zum Thema, „ist vor allem eine Ausweitung der Bautätigkeit erforderlich. Dadurch würde ein höheres Angebot an Immobilien entstehen und die Immobilienpreise senken.“
Das ist nicht nur sprachlich auf niedrigem, sondern auch auf gegenwärtigem SPD-Kampagnen-Niveau (Plakat: „Mehr Wohnungen – bezahlbare Mieten“). Ein Gang durch eine inzwischen fast schon beliebige deutsche Gegend zeigt aber, dass es haufenweise spekulativen Leerstand gibt; und ein Blick in die Immobilienportale beweist, dass jede Menge Wohnungen verfügbar wären, nur nicht die, die tatsächlich gebraucht werden.
Selbstverständlich ist es legitim, die europäische Zinspolitik kritisch zu untersuchen. Unter falscher Flagge segelt allerdings, wer in ihr den Grund festmachen will für die obszöne soziale Spaltung; und jedenfalls einen propagandistischen Erfolg hat verbucht, wer es mit dieser unreflektiert wiedergegebenen Einschätzung in die „Tagesschau“ und den Deutschlandfunk schafft.
Am Schluss der Studie wird dann noch deutlich, worum es eigentlich geht: Es soll „von der Einführung einer Vermögensteuer abgesehen werden“. Da sind wir dann gleich mitten im Wahlkampf; und wenn nicht alles täuscht, dann hat dieser zuletzt eine bemerkenswerte Wendung erfahren. Fragen der Besteuerung, der Verteilung, ja der Enteignung stehen im sonst so geldscheuen Deutschland auf ungewohnte Art im Mittelpunkt: Wenn sogar Dante im Paradies die unerträgliche Arroganz der Reichen einen Vers wert war, sollten wir hier auf Erden nicht zurückstehen.
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