Armenier fliehen aus Bergkarabach: Von der Heimat bleiben zwei Gräber

Anja wartet in Bergkarabach auf eine Ausreisemöglichkeit nach Armenien. Ihre Tochter wird vermisst, auf dem Friedhof bleiben Ehemann und Sohn zurück.

Männer heben den Sargdeckel hoch bei einer Beerdigung auf dem Friedhof

Beerdigung von Kämpfern der Truppen von Bergkarabach, Stepanakert, 24. September 2023 Foto: David Ghahramanyan/reuters

„Nehmt mir mein Leben, aber holt mein Kind da raus“, sagt Tante Anja während des Telefonats. Sie wendet sich dabei an alle und niemanden. In der Hoffnung, dass jemand sie hört.

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Schon seit einigen Tagen lebt die 62-jährige Anja mit ihren Enkeln und ihrer Schwiegertochter am Flughafen von Stepanakert. Hier versammeln sich seit dem aserbaidschanischen Überfall auf Bergkarabach – auf die Republik Arzach, wie das Gebiet von Armeniern genannt wird – einige Tausend Zivilisten, die gezwungen waren, ihre Häuser zu verlassen, um ihre Leben zu retten. „In der Nähe von Russen ist es sicher“, sagt sie, mehr, um sich selber davon zu überzeugen.

In ihrer kleinen Heimatstadt Martuni hat Anja ihre Jugend zurückgelassen, ihr mit Schweiß und Tränen gebautes Haus, die Gräber ihres im ersten Bergkarabach-Krieg verstorbenen Ehemannes und ihres Sohnes, der im 44-Tage-Krieg 2020 fiel. „Ich vermisse mein Kind, der Rest ist mir egal“, sagt sie. Das ist es, was Anja vom Leben bleibt, von ihrer Heimat und den zwei Kriegen: Zwei Gräber von unschätzbarem Wert.

Tausende werden noch vermisst

Anjas Tochter Marietta ist im 9. Monat schwanger. Seit dem 19. September, als Aserbaidschan Bergkarabach angriff, hat sie nichts mehr von Marietta gehört. Ihre Tochter gehört zu den Tausenden in Bergkarabach, die als vermisst gelten. Die Einwohnerschaften ganzer Dörfer sind verschwunden. Entweder wurden sie umgebracht, oder der Kontakt zu ihnen ist abgerissen.

Dutzende Dörfer sind bis jetzt noch eingekesselt: Ohne Nahrung, Trinkwasser und Strom. Anja möchte an ein Wunder glauben: „Kindchen, ach mein Kindchen“, murmelt sie und versucht, das Weinen zu unterdrücken, damit die Menschen um sie herum es nicht bemerken. Sie schämt sich.

Sie sagt, am Flughafen seien Leute im Alter ihrer Kinder, die versuchen, Bestatter ausfindig zu machen, die ihre Kinder beerdigen, weil es in den Leichenhallen keinen Platz mehr gibt. „Eine Frau hat ein großes Grab bekommen, sie hat dort ihre zwei Kinder gemeinsam bestatten können, die haben dort beide reingepasst“, sagt Anja und fängt wieder zu weinen an. „Niemand der Menschen hier weiß, ob sie jemals die Gräber der eigenen Kinder werden besuchen können.“

Am Flughafen von Stepanakert und an allen anderen Zufluchtsorten der Stadt wird die Hoffnung der Menschen mit jeder Minute kleiner. Nach der neunmonatigen Blockade von Bergkarabach gibt es in der Stadt keine Lebensmittel mehr, nicht einmal Brot. Trinkwasser ist Luxus. Anja sagt: Während all dieser Monate haben die Mütter gelernt, keinen Hunger zu haben, damit ihre Kinder nicht des Hungers sterben.

Fluchtmöglichkeiten sind beschränkt

„Jetzt habe ich nur eine Bitte: Holt uns hier raus“, sagt Anja. Es sei für sie unmöglich, noch länger dort zu bleiben, sie könne nicht mit Aserbaidschanern zusammenleben. Gleichzeitig fragt sie sich aber, wohin sie nun denn gehen können. Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan sagt, sein Land könne 40.000 Menschen aufnehmen. Aber was soll man mit den anderen 80.000 machen? Wer garantiert die sichere Evakuierung derjenigen, die weg möchten? Und – noch wichtiger – wer garantiert denjenigen ein sicheres Leben, die in der Heimat bleiben wollen?

Aserbaidschan hat schon bekannt gegeben, dass es einer Reihe von Personen nicht erlauben werde, Bergkarabach zu verlassen: ehemaligen und jetzigen politischen Führungspersonen, hochrangigen Militärs und all denjenigen, die 2020 am 44-Tage-Krieg teilgenommen und ihre Heimat verteidigt haben.

„Das heißt: alle Männer“, sagt Anja und fängt wieder zu weinen an. Jetzt müssten alle Frauen um sie herum entscheiden: Sollen sie gehen, um die Kinder zu retten? Dafür aber den Vater, Bruder, Ehemann und Sohn zurücklassen? Und wie kann man dann weiterleben?

Plötzlich verstummt sie. Durchs Telefon sind Schreie zu hören. Kurz darauf fällt ihr das Telefonat, das wir gerade führen, wieder ein. „Ich muss gehen“, sagt sie. „Sie haben gerade die Leiche eines Kindes gebracht. Draußen ist etwas explodiert, mein Herz zerspringt vor Angst. Was soll ich sagen? Holt uns raus aus dieser Hölle. Wir wollen nicht viel, wir wollen einfach nur nicht sterben.“

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September 2022 herausgebracht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

Diese Kolumne ist nur möglich dank Ihrer finanziellen Hilfe. Spenden Sie der taz Panter Stiftung und sorgen Sie damit für unabhängige Berichterstattung von Jour­na­lis­t:in­nen vor Ort.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.