Konflikte in Bergkarabach: Droht ein Völkermord?

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan schwelt, die kleine Region Bergkarabach ist zwischen den Gegnern eingekeilt und gefährdet wie nie.

Sicherheitskräfte schleppen einen Mann fort

Die aktuelle Zuspitzung ist eine Folge erneuter kriegerischer Auseinandersetzungen vom Herbst 2020 Foto: Alexander Patrin/Itar-Tass/imago

In der südkaukasischen Region Bergkarabach bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Was genau passiert dort gerade?

Die Bevölkerung in Bergkarabach (armenisch: Arzach), derzeit noch rund 120.000 Armenier*innen, droht zu verhungern. Jüngst wurde über einen 40-Jährigen berichtet, der an Unterernährung gestorben sei. Es fehlt nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern auch an Medikamenten, Benzin wird knapp, Strom und Gas gibt es, wenn überhaupt, nur stundenweise.

Der Grund: Bergkarabach ist seit Monaten von seinem Hauptversorger Armenien abgeschnitten. Luis Morena Ocampo, Ex-Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, sprach in der vergangenen Woche vom „Hunger als unsichtbarer Waffe“ eines Genozids, den Aserbaidschan vorbereite. Ohne dramatische Veränderungen würden die Ar­me­nie­r*in­nen in Bergkarabach binnen weniger Wochen sterben.

Hintergrund der Krise ist ein territorialer Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien. Woher rührt der Streit?

Zu Sowjetzeiten hatte Bergkarabach einen autonomen Gebietsstatus innerhalb der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion – 1991 erklärte sich Bergkarabach für unabhängig – kam es zwischen Aserbaidschan und Armenien in den 1990er Jahren zu einem Krieg.

Zehntausende Soldaten und Zi­vi­lis­t*in­nen wurden getötet, mehr als eine Million Menschen wurde vertrieben. 1994 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der allerdings brüchig blieb. Armenien kontrollierte fortan außer Bergkarabach auch noch eine Pufferzone um die Region herum. Der „Quasi-Staat“ Bergkarabach ist international nicht anerkannt, völkerrechtlich gehört er zu Aserbaidschan.

Warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt?

Die aktuelle Zuspitzung ist eine Folge erneuter kriegerischer Auseinandersetzungen vom Herbst 2020, die 44 Tage dauerten und etwa 7.600 Tote forderten. Aserbaidschan eroberte, auch mit militärischer Hilfe der Türkei, in Bergkarabach die strategisch wichtige Stadt Schuscha sowie weitere Orte. Am 10. November 2020 sah sich Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan gezwungen, ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen.

Teile Bergkarabachs sowie die sieben Dis­trikte aus der umliegenden Pufferzone fielen an Aserbaidschan. Eine 2.000 Mann starke russische Friedensmission soll nicht nur den Waffenstillstand für zunächst fünf Jahre überwachen, sondern auch den sogenannten Latschin-Korridor kontrollieren, der für die Karabach-Armenier*innen von existenzieller Bedeutung ist. Er stellt die einzige Landverbindung und Versorgungsroute zu Armenien dar.

Wieso hat Russland in Bergkarabach Friedenstruppen stationiert und wie kam es zur Blockade des Latschin-Korridors?

Moskau betrachtet auch Armenien als seine Einflusssphäre, es unterhält in der zweitgrößten armenischen Stadt Gjumri seine einzige Militärbasis im Südkaukasus. Dort sind rund 3.000 russische Soldaten stationiert. Doch seit Ende 2022 ist das bilaterale Verhältnis merklich angespannt. Die Regierung von Nikol Paschinjan wirft Moskau vor, seine Verpflichtungen nicht wahrgenommen und eine Blockade des Latschin-Korridors durch Aserbaidschan zugelassen zu haben – für die desaströse Situation in Bergkarabach also mitverantwortlich zu sein.

Zur Blockade des Landkorridors kam es, nachdem aserbaidschanische Um­welt­ak­ti­vis­t*in­nen im Dezember 2022 dort Straßensperren errichtet hatten, um gegen die Rohstoffplünderungen durch Ar­me­nie­r*in­nen zu demonstrieren. So die Darstellung aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku.

Trotz massiver Verkehrsbehinderungen eskortierten Angehörige der russischen Truppen Warenlieferungen durch den Korridor, auch das Rote Kreuz konnte Hilfsgüter nach Bergkarabach bringen und Kranke medizinisch versorgen. Am 23. April 2023 errichtete Aserbaidschan einen Grenzkontrollpunkt, was die Versorgung der Karabach-Armenier*innen weiter erschwerte. Am 12. Juli kündigte der aserbaidschanische Grenzschutz die vorübergehende Schließung des Checkpoints „Latschin“ an, offiziell begründet mit angeblichen armenischen „Schmuggelaktivitäten“. Derzeit ist der Korridor so gut wie dicht.

Welche Ziele verfolgt Aserbaidschan?

Nach Lage der Dinge will Baku die komplette Kontrolle über Bergkarabach übernehmen. Die Ar­me­nie­r*in­nen könnten ja aserbaidschanische Pässe bekommen, heißt es. Dieses „Angebot“ dürfte kaum auf Gegenliebe stoßen, da die Ar­me­nie­r*in­nen ein Leben unter aserbaidschanischer Kontrolle mit Unterdrückung und Schlimmerem gleichsetzen. Als Alternative, nicht zuletzt, um dem Hungertod zu entgehen, bliebe ihnen dann nur, Bergkarabach zu verlassen – was einer ethnischen Säuberung ohne direkte Waffengewalt gleichkäme.

Ein zweites Ziel Bakus ist die Schaffung eines Korridors nach Nachitschewan – eine autonome Republik Aserbaidschans, die an Armenien, Iran und auf einer Länge von 17 Kilometern auch an die Türkei grenzt. Nachitschewan ist nur durch einen knapp 50 Kilometer breiten und zu Armenien gehörenden Landstreifen von Aserbaidschan getrennt. Im September 2022 beschossen aserbaidschanische Soldaten Grenzgebiete im Süden Armeniens, es gab hunderte Tote. Dies war unstrittig ein Angriff auf die territoriale Integrität des Landes.

Ist die Internationale Staatengemeinschaft in den Konflikt um Bergkarabach involviert und wenn ja, wie?

In den vergangenen Monaten kam es mehrmals zu Gesprächsrunden zwischen den Konfliktparteien, mit internationaler Beteiligung. Auf Bitten Armeniens hat eine zivile Mission der EU (Euma) im Februar ihre Arbeit aufgenommen, ihr gehören 100 internationale unbewaffnete Mitglieder an. Das Mandat ist auf zwei Jahre befristet und sieht Patrouillen auf armenischer Seite entlang der gesamten armenisch-aserbaidschanischen Grenze vor.

Am 22. Februar 2023 forderte der Internationale Strafgerichtshof Baku dazu auf, „eine ungehinderte Bewegung von Personen, Fahrzeugen und Frachten“ durch den Latschin-Korridor in beide Richtungen zu gewährleisten. In dieser Woche war der Konflikt Thema bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats, alle 15 Mitgliedstaaten drängten Baku erneut, den Latschin-Korridor umgehend zu öffnen. Die Konfliktparteien müssten sich um eine diplomatische Lösung bemühen, hieß es – das war’s. Eine gemeinsame Erklärung? Fehlanzeige.

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Armenien fühlt sich von den westlichen Staaten im Stich gelassen. Es wünscht sich deutlich mehr Druck auf Aserbaidschan. Warum geschieht das nicht? Gibt es überhaupt Perspektiven für einen Friedensvertrag?

Aserbaidschan ist reich an Rohstoffen und daher als Handelspartner höchst attraktiv – vor allem in Zeiten des Ukraine-Krieges. Im Juli 2022 unterschrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Abkommen über die Verdoppelung von Gaslieferungen ab 2027. Dafür kann man auch schon mal über ein paar Defizite in Sachen Menschenrechte hinweg sehen, so scheint es. Was Friedenshoffnungen angeht: Immerhin reden die Konfliktparteien noch miteinander, weitere Treffen sind bereits in den USA, auf EU-Ebene und in Russland geplant. Viele Ar­me­ni­er*n­nen sind indes pessimistisch, eine Journalistin sagt: „Spätestens in 30 Jahren wird es Armenien auf der Landkarte nicht mehr geben.“

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