Argentiniens WM-Sieg gegen Kroatien: Messi vor der Heiligsprechung
Argentinien schlägt Kroatien und steht im WM-Finale. Lionel Messi könnte dafür sorgen, dass das Turnier nicht als Skandal-WM in Erinnerung bleibt.
Tränen waren zu sehen, ein paar nackte Oberkörper und viele Tattoos, als Argentiniens Nationalspieler vor ihren einmalig leidenschaftlichen Fans den Einzug ins WM-Finale feierten. Lionel Messi sang aus voller Brust mit. Dann blickte er die Tribüne des gigantischen Lusailstadions hoch. Hätte er das wirklich gedacht? Dass ihm der Fußball noch diese Chance gibt, alles miteinander zu versöhnen?
„Es ist meine letzte Gelegenheit, den Traum zu verwirklichen, den wir alle haben: die WM zu gewinnen“. So hatte er es selbst am Tag vor Turnierstart formuliert und sich gerührt gezeigt, dass es große Teile des ballsportinteressierten Planeten dieses Mal mit Argentinien halten. Nur seinetwegen, wegen einer Frage von fast schon historischer Gerechtigkeit, von Fußballgerechtigkeit jedenfalls. Man muss ihn persönlich nicht mögen, man konnte in der Nacht von Doha sogar sein Gegner gewesen sein wie Luka Modric, der in diesem Halbfinale 0:3 geschlagene Kroate von Real Madrid, dem ewigen Rivalen von Messis Lebensklub FC Barcelona, um zu sagen: „Hoffentlich gewinnt Messi diese WM, er ist der beste Spieler der Geschichte, und er hat es verdient.“
Am Sonntag wird der siebenfache Weltfußballer derjenige mit den meisten WM-Einsätzen sein (26, einen vor Lothar Matthäus). Wenn er ein Tor schießt oder eine Torvorlage gibt, wird er die meisten WM-Scorerpunkte haben (aktuell 19, wie Miroslav Klose, Gerd Müller und Ronaldo, der Brasilianer). Wenn er nach vier teils knapp (2014), teils unglücklich (2006), teils krachend (2010, 2018) missratenen Anläufen tatsächlich gewinnen sollte, dann wird ihn keiner mehr hinter Pelé und Maradona einreihen können, den ewigen Referenzen des weltbeliebtesten Sports. Und dann wird diese im Westen so umstrittene WM von Katar, ob es gefällt oder nicht, für immer ikonisch sein.
Nach seiner Sangeseinlage ging Messi im Lusailstadion langsam in Richtung Kabine. Auf seinem Weg umarmte er jeden einzelnen aus der im heutigen Fußball so beträchtlichen Entourage, Assistenten und Analysten, Mediziner und Medienleute. Als Letzter war Nationaltrainer Lionel Scaloni an der Reihe. Scaloni zuckte immer noch ein bisschen, er hatte geweint, nur wenige im Fußball sind so ergriffen, auch von sich selbst, wie die Argentinier.
Messis Freunde
Messi steht also im WM-Finale, aber natürlich wusste er nach all dem Scheitern der Vergangenheit, nach aller Verzweiflung und sogar einem zwischenzeitlichen Rücktritt: Es brauchte dafür ein bisschen Hilfe von seinen Freunden. Da ist zuvorderst Scaloni, 44, der jüngste Trainer des Turniers, der in seinem ersten Job die Trümmer nach der WM 2018 in ein harmonisches Team überführte. Es gewann die Südamerikameisterschaft 2021, Argentiniens ersten Titel seit 1993, reihte bis zum WM-Beginn eine Serie von 36 Spielen ohne Niederlage aneinander und zerfiel nicht am Schock der Auftaktniederlage gegen Saudi-Arabien. Scaloni baute die Mannschaft in aller Ruhe um, gab ihr die emotionale Stabilität, um schon früh im Turnier um alles oder nichts zu spielen. Jetzt muss er nur noch fürs Finale die richtige Taktik finden, so wie im Halbfinale, als er entgegen der sonstigen Spielweise auf Konter setzte, um die vorher erkannte „Unordnung“ (Messi) der Kroaten nach Ballverlusten zu nutzen. Und der Trainer muss nur noch einmal die richtige Aufstellung wählen so wie zuletzt mit Julián Álvarez.
Luka Modric, Mittelfeldgenie Kroatiens
Der junge Mittelstürmer von Manchester City galt schon bei River Plate als großes Talent, der Wechsel zu Pep Guardiola im Sommer hat ihn gewiss nicht schlechter gemacht, und doch konnte „niemand erwarten, dass er so eine WM spielt“ (Messi). Vier Tore in vier Partien hat Álvarez erzielt. Zwei waren es gegen Kroatien, eines nach einem so wuchtigem Lauf über das halbe Feld, dass ihm die gegnerischen Verteidiger nur comicartigen Slapstick entgegenzusetzten hatten (39. Minute). Das andere nach einem einzigartigen Solo von Messi durch Raum und Zeit gegen den gefeierten Abwehrmann Josko Gvardiol (69.). Im Gegenzug holte Álvarez für Messi den Strafstoß heraus, den dieser zum 1:0 verwandelte (32.).
Später gingen sie kurz nacheinander aus dem Stadion, die „Bestie“ (Messi) Álvarez mit Fön-Tolle und seiner noch jugendlichen Akne und ein 35-Jähriger, der am Sonntag seinen Traum verwirklichen kann. Der Planet Fußball träumt mit ihm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen