: Spuren des Verbrechens
Zu Gast bei einem Experten für Kriminal- und Zeitgeschichte
VON GABRIELE GOETTLE
Harald Seyrl, Mag., Gründer u. Betreiber (u. a.) d. Wiener Kriminalmuseums. 1948 Einschulung i. d. Volksschule Bad Hall, Wechsel z. Höheren Technischen Lehranstalt Steyr, Abschluss m. d. Hochschulreife 1960. 1960–1965 Studium d. Konservierung und Technologie a. d. Akademie der Bildenden Künste zu Wien. Abschluss d. Ausbild. z. Konservator m. e. Magisterarbeiter über den Maler Claudio Ridolfi. 1967 Erwerb von Schloss Scharnstein i. Oberösterreich, allmähl. Instandsetzung, 1973 Gründung u. Eröffnung eines Strafrechtsmuseums daselbst. 1976 Beherbergung d. Landesausstellung „Der Oberösterreichische Bauernkrieg 1626“. 1980 wesentliche Erweiterung d. kleinen Strafrechtsmuseums z. e. Museum f. österreichische Kriminalgeschichte, d. Justiz- u. Sicherheitswesens v. Mittelalter bis z. 20 Jh. 1982 Mitbegründer d. Instituts f. Historische Kriminologie, Sitz Schloss Scharnstein. Seit 1986 Vortragender zu diesem Themenbereich i. Rahmen d. polizeilichen Ausbildung, u. a. an d. Sicherheits-Akademie. 1991 Gründung d. Wiener Kriminalmuseums unter Verwendung d. traditionsreichen Sammlung d. Bundespolizeidirektion Wien, d. ehemal. k.k. Polizeimuseums (Dokumentation d. Wiener Polizei- u. Kriminalgeschichte d. letzten 300 Jahre). Im Jahr 2000 Fertigstellung d. Museums d. Österreichischen Zeitgeschichte (20. Jh.) auf 800 qm Ausstellungsfläche a. Schloss Scharnstein. Auszeichnung m. d. Denkmalsschutz-Medaille d. UNO (als erste Privatperson). Mitbegründer (u. einer d. 3 Präsidenten) d. Instituts z. Erforschung d. Europäischen Sicherheitsgeschichte. Publikationen u. a.: „Der Wiener Pitival“ (Hg.); „Mit Bomben und Granaten“ (Dokumentation alter u. neuerer Sprengstoffanschläge i. Österreich); „Tatort Wien“ (wichtigste Kriminalfälle Wiens v. Mittelalter b. Gegenwart, Edelbacher/Seyrl); „Die Wiener Polizei“ (Chronik i. Bildern). Harald Seyrl ist a. 7. 3. 1942 i. Wels/Österreich geboren. Der Vater war Arzt, die Mutter arbeitete i. medizin. Bereich. Herr Seyrl ist mit d. Medizinerin Regina Norman verheiratet und hat zwei Töchter.
In Wien herrscht eine Hitzeperiode, und als ob das nicht schon genug wäre, findet auch noch ein europäischer Kardiologenkongress statt. 20.000 Kardiologen, kenntlich an blauen Taschen mit rotem Herz, durchströmen Tag und Nacht die Straßen, Plätze, Kaffeehäuser und Restaurants der Stadt, sorgen für Bettennot, Verkehrschaos und schlechtes Essen. Nur in Bratislava sind noch Zimmer frei.
Und in winzigen Wiener Pensionen mit Gemeinschaftsdusche im Flur. Da trifft man keine Kardiologen. Auch nicht im Kriminalmuseum. Es liegt im II. Wiener Bezirk Leopoldstadt, in der großen Sperlgasse, zwischen Donaukanal und Augarten. Das Haus Nr. 24 ist schönbrunnergelb, hat grüne Fensterläden und schmiedeeiserne Laternen über dem Sandsteinbogen des Eingangstores. Als eines der ältesten Häuser der Leopoldstadt ist es mit seinen zwei Stockwerken und den Dachgauben zugleich auch das niedrigste. Es tritt ein wenig hervor aus der Linie der Häuserzeile, so als wolle es dem Besucher einen Schritt entgegenkommen.
Herr Seyrl öffnet nach längerem Klingeln das Tor, formvollendet begrüßt er uns und bittet näher zu treten. Im Innern des Hauses ist es kühl, dämmrig und still. Es ist Montag. Das Museum ist heute geschlossen, wir werden es nachher bei der Besichtigung ganz für uns allein haben. Zuerst aber steigen wir über eine steile Treppe hinauf und werden von unserem Gastgeber in einen Biedermeier-Salon gebeten. Sessel und Couch sind grüngelb gestreift, an den Wänden hängen große Familiengemälde, auf den ungeheuer breiten, alten Dielenbrettern liegt ein großer, stark geflickter Orientteppich. Dies ist nicht der Tatort eines Verbrechens. Wir befinden uns in den Privaträumen der Familie Seyrl, bekommen Kaffee in edlem Porzellan gereicht und werden von unserem Gastgeber mit der Geschichte des Hauses vertraut gemacht.
„Also, die Große Sperlgasse, wo unser Haus liegt, hat ursprünglich mitten im jüdischen Getto gelegen – des zweiten Gettos in Wien, das erste wurde ja mit einem furchtbaren Massaker aufgelöst. Und diese Hauptgasse war also die wichtigste Straße im selbst verwalteten Getto, damals im 17. Jahrhundert, das war eine absolute Nobelgegend. Hier hat auch der Kantor seinen Sitz gehabt, an dieser Stelle, er konnte durchgehen in die alte Synagoge. Es war eine sehr interessante Gegend. 1670 ist das Getto wiederum aufgelöst worden. Auslösend war, neben anderem, ein Kriminalfall“, er lacht, „und heute ist das Kriminalmuseum hier … es ist nämlich 1665 die zerstückelte Leiche eines jungen Mädchens in unmittelbarer Nähe dieses Hauses gefunden worden, und man hat zuerst versucht herauszufinden, wer ist die Unbekannte, um dann leichter den Täter zu finden – so wie heute auch. Denn bevor man nicht weiß, wer das Opfer ist, findet man auch kaum den Täter. Aber diese Sache konnte nicht geklärt werden, und dann ist das Gerücht gestreut worden, es handle sich um einen so genannten Ritualmord. Und man fürchtete natürlich auch sehr stark schon eine beginnende Bedrohung durch die Türken, und man hat sich gesagt, dieser unkontrollierbare Personenkreis vor denToren der Stadt stellt einen Unsicherheitsfaktor dar …
Möchten sie Wiener Hochquellwasser zum Kaffee, bitte?“. Er schenkt ein und stellt uns die sich beschlagenden Gläser in bequeme Reichweite. „Der Kaiser Leopold hat also angeordnet, das Getto aufzulösen. Aber nicht mehr so wie 200 Jahre zuvor, diesmal wurden die Juden nur zur Auswanderung bewegt. Und sie sind also, teils zu Fuß, teils mit Donauschiffen, nach Ungarn gebracht worden. Und das Vermögen wurde also einverleibt dem Staate, und das prosperierende Viertel wurde mit Handwerkern besiedelt und bekam den Namen Leopoldstadt. Und das alte jüdische Gemeindehaus, also unser Haus, in dem heute das Kriminalmuseum drin ist, das wurde zuerst mal eine Ölerei, dann eine Seifensiederei – den Namen hat es bis heute, immer noch wird es das ‚Seifensiederhaus‘ genannt – dann kam eine Tischlerei im 18. Jahrhundert, und im frühen 19. Jahrhundert ist dann, wie aus einer Operette entstiegen, ein Fleischhauer namens Tschippan aus Ungarn gekommen und hat also hier das alles erworben. Der wollte das Haus so haben, wie es ist, weil er hat den Hof gebraucht und den tiefen Keller.“
Frau Seyrl, nebst einem Töchterlein, begrüßen uns kurz, Herr Seyrl schenkt Kaffee nach, lehnt sich zurück, legt die Fingerspitzen beider Hände vor der Brust aufeinander und fährt fort: „Dieser Fleischhauer hat also die Rinderherden nach Wien getrieben – Direktimporte – hierher, in dieses Haus. Die wurden unten im Hof geschlachtet … ja, also unvorstellbar! Bis 1910 ist es immer wieder vorgekommen, dass irgendwelche Ochsen entwichen sind, durch die Straßen galoppiert sind … erst mit der Gründung des großen Zentralschlachthofs St. Marx – womit ja die Einzelschlachtung verboten wurde – war das dann vorbei, aber bis dahin …
Der Fleischhauer hat hier auch sein Geschäftslokal gehabt und seine Wohnung. Und eben den sehr tiefen Gewölbekeller, der mit Eis gefüllt war, mit riesigen, im Winter aus der Donau gesägten Eisblöcken, mit denen man also den ganzen Sommer lang so manche Waren kühlen konnte. Die Keller existieren noch und sind heute Teil des Museums. Die Fleischhauerei Tschippan war eine bodenständige Einrichtung, die eigentlich bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts geblieben ist, ja und dann ist diese Familie ausgestorben. Das Haus fing an zu verfallen, beim Dach hat’s reingeregnet, die Terrasse ist eingestürzt, und in dieser Situation hat es dann ein Altwarenhändler gekauft und wollte den rückwärtigen Teil überhaupt abreißen. Meine Frau hat das Haus 1988 gekauft, wir hatten unglaublich viel Schutt und Müll zu beseitigen, es hat nicht nur überall hereingeregnet, es gab auch keine geordnete Stromversorgung, nichts. 1991 war es aber dann doch fertig, und es konnte auch das Kriminalmuseum eröffnet werden, was sehr erfreulich war, denn wir mussten ja in Scharnstein aufgrund der niedrigen Temperaturen das Museum im Winter geschlossen halten. In Wien haben wir mit dem Heizen kein Problem, wir halten das ganze Jahr lang offen. Ja, das ist also ein Haus mit Geschichte, ein Gettohaus, das übrig geblieben ist. Alle anderen Häuser sind im 19. Jahrhundert ausgebaut worden, sind Zinskasernen geworden. Und nun sind wir das offizielle Polizeimuseum Wien, aber privatwirtschaftlich geführt. Gestaltet und organisiert wurde das alles in enger Zusammenarbeit mit der Wiener Polizei. Aus den Beständen haben wir ein komplett neues Museum geschaffen, das war ja ein polizeiliches Novum, denn zum ersten Mal wurde das alles ohne jede Einschränkung jedermann zugänglich gemacht. Wir haben auch sehr engen Kontakt zu Deutschland“, er zeigt auf seine Krawatte. Erst jetzt sehe ich, dass sie das Emblem des hässlichen Bundesadlers trägt und die Aufschrift „Bundeskriminalamt“.
„Im Juni waren die deutschen Polizeipräsidenten und Direktoren“, er stottert, „Kriminaldirektoren Deutschlands da, und ihr Berliner Polizeipräsident war genauso da … Durch das Zusammenwachsen Europas werden die Kontakte immer wichtiger … Gäste, die bis zum Bundespräsidenten hinauf offiziell empfangen werden, die führt man auch zu uns, und wir machen dann ein kleines Büfett – für den gemütlichen Teil – man ist eben auch ein bissl stolz auf die österreichische Geschichte auf diesem Gebiet.“
Er fasst uns etwas genauer ins Auge. Als wir schweigen, fragt er: „Bitte, wollen Sie noch ein Schluckerl Kaffee?“ Wir danken, und er fährt fort: „Sie kommen ja an sich zu einem ganz historischen Termin. Am 8. September vor genau 80 Jahren wurde die Interpol in Wien gegründet. Es hat ja zuvor immer wieder Versuche gegeben, das Polizeiwesen gesamteuropäisch oder sogar weltweit zu koordinieren. 1914 hat es einen ersten Polizeikongress in Monaco gegeben ohne Ergebnis, und erst 1923 – obwohl das eine Zeit der großen politischen Unsicherheit war – ist es dann gelungen, komischerweise.
Es hatten sich natürlich auch die Verbrechensrate und die Mobilität der Täter erhöht, die Modernisierung der Verkehrsmittel ermöglichte raschen, anonymen Ortswechsel. Aber zum Thema Interpol erzähle ich Ihnen noch Genaueres in Scharnstein. Jetzt würde ich Sie gerne zu einem Rundgang durchs Museum bitten.“ Im Vorbeigehen zeigt er uns ein großes, düsteres Arbeitszimmer. Es geht hinten zum Hof hinaus, die hohen Regale sind prall gefüllt mit Ordnern und Büchern, es herrscht kreatives Chaos. Herr Seyrl findet weder eine Visitenkarte noch einen Prospekt, den er uns zeigen will.
Die pfeifenden Meerschweinchen der Kinder in einem Käfig am Boden, eine englische Sitzgruppe aus Leder und zwei große Schreibtische fallen ins Auge. Seiner ist überladen mit Papieren, den anderen Schreibtisch benutzt die Gattin, sie ist Schulärztin, kümmert sich aber auch um die anderen Belange. Ein schönes Esszimmer im Biedermeierstil wird uns gezeigt, der große Tisch hat zierliche Einlegearbeiten, es gibt Gemälde an der Decke, schönes, altes Parkett, eine Spazierstocksammlung und diverse Bilder.
„Die Bilder, die Sie hier sehen, sind alle aus Familienbesitz. Der Familie Seyrl … Wir waren eine Gutsbesitzerfamilie, Kleinadlige, in Oberösterreich. 400 Jahre gibt es unsere Familie, aber da hat’s große Lücken. In der Familie meiner Frau waren drei Fürst-Erzbischöfe.“ Wir steigen die steile Treppe hinunter zum Museum. „Da sitzt sonst eine Kassenkraft beim regulären Betrieb. Hier unten ist also der Museumsteil“, sagt Herr Seyrl mit einer einladenden Handbewegung, „normalerweise gibt’s da eine strenge Trennung, aber es kommen natürlich immer wieder Leute aus der Direktion, von Berlin bis München, die haben wir dann natürlich auch oben …“
Unser Gastgeber schaltet das Licht an und führt uns, hier und da Geschichten erzählend, durch sein Museum. Untergliedert in etwa 20 Abteilungen, werden Delikte und Relikte aus den letzten 300 Jahren präsentiert. Mit dem Sicherheits- und Justizwesen im alten Wien fängt der Rundgang an, führt durch Barock- und Biedermeierzeit ins 48er-Jahr, durch die letzten Jahrzehnte des 19. und mitten hinein ins 20. Jahrhundert, den Abschluss bildet eine kleine Geschichte der Todesstrafe in Österreich mit echtem Würgegalgen, wie er bis 1950 zur Praxis der Justiz des Landes gehörte. Das Museum ist herzergreifend altmodisch. Es hat noch ein bisschen von dem spröden Charme, der Asservatenkammern und Lehrmittelsammlungen eigen ist, und auch ein Hauch von Panoptikum liegt über den liebevoll arrangierten Folterinstrumenten, Tatwerkzeugen, Schädeln, Skeletten, Gipsabformungen und Moulagen. Man wird aber zur Ordnung gerufen durch die Strenge der schwarz gehaltenen Vitrinen und das kräftige Rot, das den Hintergrund bildet, von dem sich die Objekte lebhaft abheben.
Zur Illustrierung der Zeit und zum Lückenbüßen gibt es teils lebensgroße Paneele. Die nach alten Stichen plakativ gemalten, auf Holz aufgezogenen und ausgesägten Szenen und Figuren geben dem Ganzen zusätzlich etwas Theatralisches. Der pädagogische Teil ist erfreulich unaufdringlich und farblich markiert. Im Zeitalter virtueller Horrorwelten ist die magische Anziehungskraft des Authentischen immer noch wirksam. Der mumifizierte Kopf eines Hingerichteten (eines flachsblonden, jungen Mannes mit schlechten Zähnen), der mit dem Mienenspiel eines Seufzenden unter seinem Glassturz ruht, verbürgt sich ebenso für die Wirklichkeit wie der Schädel des geköpften Jakobiner Hebenstreidt und der halb verkohlte Kopf eines der Opfer vom Ringtheaterbrand. „Es hat fast 400 Tote damals beim Ringtheaterbrand 1881 gegeben, aber es hat fast 700 Meldungen gegeben, nachdem bekannt wurde, dass eine Entschädigung bezahlt wird. Drum versuchte man in jedem einzelnen Fall die Identität zu klären, und zwar mit Hilfe der Gerichtsmedizin. Das war das erste Mal, dass Polizei und Gerichtsmedizin so eng miteinander verwoben waren, und diese gewaltige Aufgabe, die war so etwas wie der Ausgangspunkt für die später weltberühmte ‚Wiener Schule der Kriminalistik‘ “, erklärt Herr Seyrl, zeigt dann im Vorbeigehen auf berühmte Frauenmörder, auf Einbruchswerkzeuge, pornografische Zeichnungen (Originale aus einem ausgehobenen Bordell), auf Falschgeld und Druckstöcke. Er verweist auf die Einführung der Fotografie in die Kriminologie, und wir spazieren an diesen letzten Zeugnissen grauenvoller Morde vorbei: Eine Trafikantin liegt in ihrem Blut, ein kräftiger Mann wurde von einer Frau zersägt.
An der Stirnwand eines Raums ist, fast schon fototapetengroß, das Bild einer nackten Frauenleiche ohne Arme zu sehen, auch die Beine wurden unterhalb der Knie von der Mörderin abgetrennt. „Das ist die Näherin Luise Weis“, sagt Herr Seyrl, auf die Wand zeigend, „die Arme hat einen Buckel gehabt und konnte nicht zum Heurigen gehen und nichts. Sie fiel in die Hände einer Betrügerin, der Maria Bartunek, die wirksame Mittel gegen den Buckel versprochen und dafür das Ersparte erhalten hat. Der Buckel blieb natürlich, und am Ende kommt die Betrügerin in Zugzwang und ermordet ihr Opfer, will es zerstückeln, verbrennt die Arme und Beine und steckt die Leiche dann in einen Korb, bedeckt alles mit einem Teppich und alten Zeitungen und stellt’s ins Vorhaus. Man fand eine Kronen Zeitung im Korb vom Vortag, wo ein Stückerl fehlt, und dieses Stückerl hat sich bei den Ermittlungen dann im Nachtkastl der Täterin gefunden.“
Die meisten Morde wurden, wie dieser, aus Gewinnsucht begangen, einige waren Lustmorde, nur einige wenige hatten politische Motive. Auf der anderen Seite ist der Gegenspieler dargestellt, die Kriminologie, die mit immer ausgetüftelteren Methoden zur Überführung der Täter beiträgt, und zwar mit der Einführung erkennungsdienstlicher Methoden wie Moulage, Zahnabdruck, Vermessung, Daktyloskopie, Fotografie, Phantombildzeichnung bis hin zum Suchwerkzeug Interpol.
Das österreichische Polizeisystem galt eine Zeit lang als das fortschrittlichste weltweit, es wurden sogar Wiener Polizeiexperten nach Chicago geholt zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Wir kommen in den Eiskeller, dem aus Ziegeln gemauerten Tonnengewölbe des ehemaligen Schlachters Tschippan. Er ist durch Metalltraversen in zwei Geschosse unterteilt: Oben kann man die Verbrechen der Zwischenkriegszeit und schöne Moulagen von Opfern und Tätern betrachten; im Untergeschoss wird die Polizei- und Kriminalgeschichte nach 1945 dargestellt. Dazwischen die Nazizeit, hier sind natürlich nicht die Verbrechen der Polizei gegen die nicht reinrassige oder unbotmäßige Bevölkerung dargestellt. Stattdessen eines der Justiz, repräsentiert durch das Fallbeil, das 1938 von Berlin nach Wien gebracht wurde und mit dem man bis 1945 mehr als 1.000 Todesurteile vollstreckte.
Zum Schluss betrachten wir den Würgegalgen, durch den ein letzter Delinquent 1950 in Österreich hingerichtet wurde. „Das war die beste Methode“, sagt Herr Seyrl, „zwischen drei und sieben Minuten, die anderen Methoden, mit Falltür usw. dauern wesentlich länger. Da sind drei Personen tätig, der Henker steht oben, unten stehen die beiden Scharfrichter und ziehen am gefesselten Delinquenten. Das gab’s also in allen Nachfolgestaaten der Monarchie, 1998 war die letzte Hinrichtung dieser Art in Prag.“ Wir verlassen die Museumsräume und werfen noch einen kurzen Blick in den gepflasterten Innenhof, auf die Pawlatschen und in den Brunnenschacht. Wir danken und verabschieden uns von Herrn Seyrl, der uns für den nächsten Tag plus Übernachtung auf sein Schloss Scharnstein eingeladen hat.
Wir spazieren noch ein wenig durchs Viertel, das abseits der geschäftigen Taborstraße eher still und teils ärmlich wirkt. Viele Läden sind geschlossen, manche scheinen nach kurzem Versuch aufgegeben zu haben. Es gibt einige stark bewachte jüdische Institutionen, aber auch kleine jüdische Geschäfte, sogar einen Supermarkt, wo es all die Dinge zu kaufen gibt, die man sonst nur in Israel bekommt. Erst später, zu Hause, erfahre ich von einem alten Freund, der Österreicher ist, dass in der Sperlgasse eines der Sammellager war, von dem aus 40.000 jüdische Bürger Wiens in die Vernichtungslager deportiert wurden.
Am nächsten Tag fahren wir mit dem Zug nach Wels, von wo aus die 100 Jahre alte Lokalbahn durch eine eher karge, ländliche Gegend rattert, vorbei an gesichtslosen Eigenheimen und einigen alten Höfen bis ins Almtal ganz im Osten des Salzkammerguts. Hausfrauen und Schulkinder sitzen vereinzelt im Wagen und steigen an den unbemannten, kleinen Bahnhöfen nach und nach aus.
Herr Seyrl holt uns an der Station Scharnstein-Mühldorf mit dem Auto ab. Nach kurzer Zeit erreichen wir das Schloss, ein ländlich einfaches, aber schmuckes Renaissancegebäude mit schwerem Eisentor, alten Bäumen im Innenhof und einem plätschernden Brunnen. Auch eine Schlossschänke gehört zum Gebäude, der Hausherr kann sie durch eine eigene Tür betreten. Herr Seyrl führt uns zuerst hinauf in den verwirrend umfangreichen Gästetrakt, wir folgen ihm von Zimmer zu Zimmer – nein, man muss sagen, von Gemach zu Gemach – überall Gewölbedecken, Ziegel- und Dielenböden, zerschlissene, edle Teppiche.
In jedem der Gemächer steht ein schmales oder matrimoniales Bett nebst diversen Antiquitäten, auf jedem Kopfkissen liegt ein gefaltetes Handtuch. In Öl gemalte Offiziere blicken streng von den Wänden und halten ihre Handschuhe oder Degengriffe umklammert, in jedem Raum gibt es einen Schreibtisch oder Sekretär, diverse Lampen, Ausgestopftes, Geweihe, Bücher, sogar eine Bibliothek mit Kamin und den seltsamsten Buchbeständen. Es ist einfach überwältigend. Hier hat sich jemand einen Traum erfüllt!
Wir dürfen uns je ein Gemach aussuchen. Elisabeth wählt eins mit einem repräsentativen vergoldeten Korbbett und einem Gemälde mit Schäferszene, der Blick durchs Fenster geht auf die Berge. Ich wähle ein kleines Zimmer zum Innenhof mit dem plätschernden Brunnen, über dem Bett hängt ein hoch dekorierter Offizier, er sieht ein wenig aus wie der junge Stalin, und das Bett hat eine enorm dicke, mit Kapok gefüllte, wunderbare Matratze, auf der ich aber wenig Schlaf finde in der Nacht, weil ich nicht aufhören kann, im „Handbuch für Untersuchungsrichter“ zu lesen, das der Kriminologe Hans Gross 1904 veröffentlicht hat. Herr Seyrl zeigt uns noch die moderne Küche, Bad und WC, wirkt dann ein wenig verlegen, erzählt, dass er am morgigen Tag eine wichtige Delegation erwarte. „Da kommt der Chef der französischen Gendarmerie, also der Gendarmeriegeneral, und es kommt der Direktor der Budapester Polizei usw. zur Gründung dieses EU-Projekts ‚Leonardo‘, das ist die ‚Gesellschaft zur Erforschung der Europäischen Sicherheitsentwicklung‘, es wird drei Präsidenten geben, einer soll ich sein, der Zweite ist der Franzose, der Dritte der Ungar. Die Herren werden hier nächtigen, und nun wollte ich Sie bitten … ob Sie so freundlich wären, Ihre Betten morgen wieder glatt zu ziehen … man muss ja nicht merken, dass schon wer drin geschlafen hat.“ Wir versprechen es hoch und heilig. Danach besichtigen wir gemeinsam das Kriminalmuseum und das Museum für Österreichische Zeitgeschichte nebst den Exponaten zur Geschichte der Gendarmerie. Ähnlich wie in Wien ist alles sehr liebevoll gestaltet, die historischen Räume sind weitläufig und wunderbar geeignet zur Präsentation der umfangreichen, absolut sehenswerten Sammlung.
Einige Zeit später sitzen wir im Kaminzimmer des privaten Wohntrakts, das Feuer brennt, zwischen den Holzscheiten nagen die Flammen auch an einer Architektenrolle samt Plastikverschluss. Der Raum ist groß, durch eine Flügeltür vom Nebenraum voller Bücher getrennt. An den Wänden hängen Waffen, Bilder, Jagdtrophäen, es gibt eine schöne Standuhr und rechts und links der Flügeltür je ein wandhohes, desolates und düsteres Papstgemälde.
Herr Seyrl sitzt in einem Ohrensessel, führt zierlich ein Tässchen zum Munde und sagt: „Schaun Sie, bis das alles gesammelt und überlegt wurde, das hat mehr als 35 Jahre gedauert. Wir haben ja hier auch Ausstellungen gemacht, aus dem Osten Europas, aber auch Nordamerika, auch zeitgenössische Künstler, und so sind wir im Laufe der Jahre immer bekannter geworden. Und im Jahr 1980 hat ein Freund von mir, der Gerichtsmediziner Universitätsprofessor Dr. Jarosch, gesagt, machen wir doch eine Ausstellung zur Gerichtsmedizin, kulturgeschichtlich, und so kam’s dann zu einer einjährigen Sonderausstellung. Viele dieser Exponate, wie die Obduktionstische, die ganzen Präparate, so auch die gefesselten Hände in Formalin, für die Sie sich so sehr interessiert haben, und auch die mumifizierte Wachsleiche, haben wir damals übernommen.
Von da an hat es immer stärkere Kontakte auch zur Wiener Polizei gegeben, auch zur Gendarmerie in Oberösterreich. Damals war ich ja Mitte 30, noch unverheiratet – mit 25 hatte ich das Schloss gekauft – ja und durch diese intensiven Kontakte, besonders zur Wiener Polizei, bin ich dann auch auf die Sammlungsbestände gestoßen, so kam das. Und eben dadurch, dass ich seit Jahren mich mit Polizeigeschichte befasse, mit der kulturgeschichtlichen Beleuchtung des Polizeiwesens, bin ich dann auch engagiert worden damals als Vortragender bei der Polizei. Und auch meine Verbindungen zur Justiz waren gut. Es waren alle Ressortminister auch immer da, Inneres und Justiz, ein Verhältnis, das bis heute sehr gut ist.“
Im Kaminfeuer ereignen sich kleine Explosionen, Funken sprühen. Herr Seyrl schaut zerstreut in diese Richtung und fährt dann fort: „Gestern hab ich Ihnen ja versprochen, noch was zur Interpol zu erzählen, die 1923 in Wien gegründet worden ist. Der Präsident war also zuerst Schober bis zu seinem Tod, schnell haben erst mal mehr als 30 europäische Länder ihre Mitgliedschaft erklärt, dann kamen später auch die USA, Brasilien usw. dazu, man hat sich ausgetauscht, ein gemeinsames Funksystem entwickelt. Es war zum ersten Mal gelungen, ein Abkommen zu schließen, mit dem sich die Länder gegenseitig garantieren, dass sie die Strafverfolgung bzw. Ausforschung und Auslieferung von Straftätern, die aus einem anderen Staat kommen, auf ihrem Territorium dulden, ermöglichen und durchführen. In einer Zeit, wo die Mobilität der Täter sich durch den Gebrauch von Schnellzügen und auch schon dem Flugzeug, wie gesagt, stark verändert hat, wurde eine solche Organisation dringend benötigt.“ Das Kaminfeuer gerät etwas außer Kontrolle, Herr Seyrl stochert vorsichtig, „ich habe absichtlich dieses Holz erst jetzt genommen und nicht während wir weg waren …“
Wir fragen, was im Faschismus aus der Interpol wurde. Herr Seyrl sagt: „Es war so: 1938 ist Steinhäusl Polizeipräsident in Wien geworden und damit Chef der Interpol – wobei Vizepräsidenten immer ein Franzose und ein Berliner waren – Steinhäusl war ein altgedienter Polizeidirektor, der durch mehr oder weniger zufällige Verwicklung in den 34er-Juli-Putsch in Wien hineingekommen ist, er war zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde dann begnadigt und von den Nazis als Polizeipräsident eingesetzt. Aber seine fachlichen Leistungen waren unumstritten, die hatten mit politischer Verfolgung nichts zu tun gehabt, weil er nicht zuständig war, zuständig dafür war die Gestapo. Und im Jahr 1940, äh, 42, wurde dann der Sitz der Interpol, der ja mit Kriegsbeginn nurmehr auf dem Papier war, nach Berlin verlegt. Es hat nur noch eine Stelle funktioniert, den ganzen Krieg hindurch bis in die Nachkriegszeit, das war die Zentralstelle gegen Banknoten- und Wertpapierfälschung. Da hat man über Schweden und die Schweiz auch Kontakte mit feindlichen Staaten aufrechterhalten während des Krieges.
1946 ist die Interpol dann in Brüssel neu gegründet worden, nunmehr mit Sitz in Paris. 1967 wurde der 100. Mitgliedstaat aufgenommen, 1971 begann die Zusammenarbeit mit der UNO, 1989 wurde der Sitz nach Lyon verlegt. Was noch wichtig ist: Die Interpol hält sich streng an ihre Aufgaben, und sie verbietet sich selbst jede Art von Ermittlungen, die sich auf den Bereich von Politik, Militär, Religion und Rasse beziehen, das sind die Statuten. Und das Großartige bei der Interpol war ja, dass man so gut zusammengearbeitet hat, dass man das Austauschen von Fingerabdrücken vorgenommen hat, so ähnlich wie bei DNA heute. Heute haben wir schon in allen europäischen Ländern DNA-Karteien …“ Das Handy klingelt, und Herr Seyrl muss irgendetwas wegen der morgigen Delegation klären, die anscheinend in irgendeinem Chaos stecken zu bleiben droht. Wie alle Handybenutzer spricht er laut ins Gerät, vollkommen selbstvergessen.
„Die Arbeit ist immer mehr geworden im Lauf der Zeit“, sagt Herr Seyrl, zufrieden seufzend, und erzählt dann von den beiden Museumsstandorten, den Besucherströmen hier auf dem Schloss in den Sommermonaten, von den vielen privaten Anfragen und Begegnungen. „Hab ich Ihnen eigentlich das erzählt von dem Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, oder Herausgeber war er, glaub ich? Da kommt eines Tages ein Herr zu uns und fragt, ob wir ihm helfen könnten. Er sagt, ich habe gehört, meine Tante ist hier im Museum. Ich sagte, da muss ich nachschauen. Ja, und dann habe ich mich an den Namen erinnert. Die ist 1932 ermordet worden, und ich sagte, kommen Sie mit, wir haben eine Moulage von ihr sogar.
Das war also eine Frau, die hat auf das Inserat eines Heiratsschwindlers geantwortet, und der hat sie dann im so genannten ‚Brettl-Dorf‘ ermordet – das war so eine wilde Siedlung aus lauter kleinen Bretterbuden im 22. Bezirk in Wien, da hat der eine Hütte gehabt – er hat die Leiche in die Donau geworfen, man hat sie gefunden, und der Fall konnte eben dann über die Moulage gelöst werden. Dieser Herr hat erzählt, es wurde in der Familie immer wieder gesprochen von dieser Tante, von diesem Mord, und nun wollte er sich das mal ansehen. Er hat dann doppelseitig über das Kriminalmuseum was gebracht …“
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