piwik no script img

„Am Abend sind die Leichen weg“

Volkmar Schneider

„An den Geruch fauler Leichen kann ich mich nicht gewöhnen. Da kann man duschen, wie man will, es hilft nichts. Oder wenn man eine Brandleiche obduziert, das riecht wie Weihnachten, wenn eine Gans im Ofen ist“

Er ist Berlins oberster Gerichtsmediziner und ein einflussreicher Gutachter vor Gericht. In seinem Leben hat er gut 50.000 Leichen geöffnet, unter ihnen die von Benno Ohnesorg und Ulrich Schmücker. Er will, dass die Obduktionsrate in Berlin von sechs Prozent auf 30 Prozent wie in Skandinavien steigt. Dann nämlich, sagt er, werden weniger Morde als bislang unentdeckt bleiben. Deshalb setzt er sich auch gegen die Schließung gerichtsmedizinischer Institute ein. Er träumt nie von den Leichen, wenn er nach Hause geht, auch nicht von den schlimmen. Anfang nächsten Jahres geht Volkmar Schneider, 64, in den Ruhestand. Was wird dann? Hat er endlich Zeit für Krimis und den „Tatort“?

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE UND UWE RADA

taz: Herr Schneider, erlauben Sie uns diese Frage: Wie viele Leichen haben Sie im Keller?

Volkmar Schneider: Etwa 2.500 in jedem Jahr. Aber nicht im Keller, sondern auf dem Obduktionstisch. Das sind alles Leichen, deren Obduktion ein Staatsanwalt angeordnet hat.

Und danach kommen die Leichen zu Ihnen?

Die kommen nicht mehr, die werden gebracht. Im Normalfall läuft das so: Wenn jemand stirbt, kommt ein Arzt, der muss immer vier Fragen beantworten. Ist die Leiche wirklich tot? Wann ist der Tod eingetreten? Was war die Todesart? Was war die Todesursache? Die Todesursache wird man bei der Leichenschau nicht immer erkennen, es sei denn, es fehlt der Kopf. Aber auch das muss nicht die Todesursache gewesen sein. Entscheidend ist also die Todesart. Wenn die für den Leichen schauenden Arzt ungewiss ist, muss er sofort die Polizei benachrichtigen. Die Polizei beschlagnahmt die Leiche. Das sind dann unsere Leichen.

Ihre?

Es gibt drei gerichtsmedizinische Institute in Berlin. Eines an der Charité, eines an der FU, und ein Landesinstitut. Seit über einem Jahr bin ich der Leiter aller drei Institute, zuvor habe ich die beiden in Westberlin geleitet.

Sie hatten heute Bereitschaftsdienst. Was ist Ihnen da auf den Tisch gekommen?

Das eine ist ein ganz tragischer Fall: ein Ehepaar, die Frau schwer krank. Es handelte sich offenbar um Tötung und Selbsttötung. Die Leiche, die gerade ganz frisch gebracht wurde, ist ein erstochener Mann.

Mal für unsere Nicht-„Tatort“-Fans: Wie muss man sich eine Obduktion vorstellen?

Die Strafprozessordnung schreibt vor, dass immer zwei Ärzte daran teilnehmen müssen, von denen einer besondere Fachkenntnisse haben muss. Das ist in der Regel der Direktor des Instituts oder sein Vertreter. Das Gesetz schreibt weiter vor, dass alle drei Körperhöhlen geöffnet werden müssen. Auch wenn wir als Todesursache einen Kopfschuss vorfinden, müssen wir die Brusthöhle und die Bauchhöhle obduzieren. Schließlich kann es konkurrierende Todesursachen geben. Danach wird jedes Organ entnommen, beschrieben, gemessen, gewogen, fotografiert. Alles wird auf Band diktiert und danach abgeschrieben. Das Ganze endet mit einem Bericht – dem vorläufigen Gutachten.

Das ist das, was die Kollegen von der Mordkommission immer lieber heute als morgen haben wollen?

Lieber gestern. Aber auch die Kripo ist immer ganz schnell bei der Sache. Leichensachen sind Sofortsachen.

Was passiert mit der Leiche nach Ihrem vorläufigen Gutachten?

Die Organe werden wieder in die Körperhöhlen gelegt, dann wird zugenäht. Das ist übrigens eine große Kunst. Man darf nicht zu eng nähen, aber auch nicht zu weit, sonst fließt Körperflüssigkeit heraus. Wenn der Staatsanwalt keine Einwände mehr hat, wird die Leiche zur Bestattung freigegeben.

Sie sagten, alleine in Berlin würden 2.500 Leichen im Jahr obduziert. Wie viele nicht natürliche Todesursachen können Sie dabei feststellen?

Vollendete Tötungen in Berlin liegen etwa bei 100 bis 110 im Jahr. Aber zu den nicht natürlichen Todesfällen gehören nicht nur die Tötungsdelikte, also Mord, Totschlag, Raub mit Todesfolge und so weiter, sondern auch die Selbsttötungen, die Unglücksfälle und die ärztlichen Kunstfehler.

Welche Todesart liegt bei den nicht natürlichen vorne?

Nicht jeder Selbstmord wird obduziert. Wenn ein junger Mann im zwölften Obergeschoss am Fensterkreuz hängt, die Tür von innen verschlossen und außen kein Baugerüst ist, dann gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass da jemand nachgeholfen hat. Diese Leichen werden gleich zur Bestattung freigegeben. Nur etwa jeder fünfte Suizidfall wird tatsächlich obduziert.

Und die Tötungsdelikte? Gibt es da so etwas wie einen Trend?

Die meisten Fälle sind Todesursachen infolge stumpfer Gewalt, also Erschlagen – mit Fäusten, Werkzeugen, Stuhlbeinen. In Berlin haben wir auch sehr viele Schusssachen. Das liegt daran, dass man hier leicht an Waffen kommt.

Leichter als in anderen Großstädten?

Ja, Schuss ist hier häufig. In Mecklenburg-Vorpommern wird dagegen oft ganz brutal geschlagen. Meistens unter Alkohol. Da wird ganz schön gesoffen, da oben. Das sagen zumindest die Kollegen. Obwohl – auch in Berlin wird viel gesoffen. Ich würde mal sagen: Wenn es keinen Alkohol gäbe, dann hätten wir deutlich weniger zu tun. Wir leben also auch vom Alkohol.

Man kann von der Tötungsart also auf das Milieu schließen?

Kann man schon. Das sehen wir auch bei Selbstmorden. Jemand, der sich ernsthaft umbringen will, wählt natürlich die Methode, die todsicher ist. Das ist zum Beispiel das Erhängen. In Berlin ist auch der Sprung aus der Höhe sehr häufig. Gerade alte Menschen stürzen sich oft vom Balkon runter. Auch Ertrinken kommt bei alten Menschen häufig vor. Wir kennen sogar gewisse Teiche, woher wir oftmals von der Polizei Leichen bekommen, in deren Nähe ein Altersheim ist.

Das ist sehr qualvoll.

Sie müssen wissen: Alte Menschen haben da nicht so viele Möglichkeiten. Was steht ihnen zur Verfügung?

Tabletten.

Tabletten? Die meisten werden gerettet. Wenn sie gefunden werden. Oft stecken dahinter auch nur so genannte appellative Suizidversuche.

Herr Schneider, Sie haben in Ihrem Berufsleben bislang über 50.000 Leichen seziert. Gibt es da noch eine Art Mitgefühl mit dem Menschen, der zuvor gelebt hat?

Wenn man mit der Leiche mitleben, mitsterben oder mitempfinden würde, würde man die Arbeit nicht schaffen. Man muss vom Fall abstrahieren und sich naturwissenschaftlich mit der Sache beschäftigen. Die Leiche wird also zur Sache. Aber zu einer Sache, die eine Würde hat. Sie würden an unseren drei Instituten nie erleben, dass würdelos mit den Leichen umgegangen wird.

Was wäre würdelos?

Wenn man zum Beispiel ein Würstchen neben der Leiche einnimmt, Witze reißt oder in Gelächter ausbricht. Das wäre würdelos.

Am Operationstisch werden auch Witze gemacht.

Bei uns nicht, da ist es leise.

Dieses sachliche Verhältnis zur Leiche, zur Sache: Gilt das auch für ganz besonders schrecklich zugerichtete Leichen? Gilt das auch für Kinder?

Es gibt Fälle, und ich bin jetzt fast 38 Jahre im Beruf, die einen heute noch berühren. Wenn ein Kind zu Tode getreten wird, und man hat selbst Kinder, dann bleibt das nicht ohne Anteilnahme.

Haben Sie sich schon mal erbrochen?

Nein. Aber ich bin mal ohnmächtig geworden. Das weiß ich noch wie heute. Es war ganz am Anfang meiner Laufbahn, ich bin mit meinem Chef zum Tatort gefahren. Eine junge Frau war erdrosselt worden, sie lag in einem Bettkasten unter der Couch. Als wir kamen, wurde der Bettkasten vorgezogen. Es war mein erster Kriminalfall, es war schwül, mir sind die Knie weich geworden. Danach ist das nie wieder passiert.

Und Ekel?

Natürlich. Wenn man eine faule Leiche hat, die ganz weiß ist vor Fliegenmaden. Aber ich muss sagen, ein Krebspatient, der bei lebendigem Leibe verfault, ist noch schlimmer. Träumen tu ich von den Leichen jedenfalls nicht. Erzählen zu Hause tu ich auch nicht.

Ihr seelischer Ausgleich funktioniert also ganz gut?

Ja.

Wie organisieren Sie den?

Wenn ich das Institut verlasse, ist hinter mir die Tür zu, dann sind die Leichen weg. Es ist zwar immer sehr spät, klar, aber ich schleppe nichts mit mir herum. Es gibt aber immer wieder junge Mitarbeiter, die sagen nach einem halben Jahr: Herr Professor Schneider, ich kann es nicht, ich schaffe es nicht.

Können Sie das verstehen?

Kann ich verstehen.

War Gerichtsmediziner ihr Traumberuf?

„Mitgefühl mit dem Verstorbenen darf man nicht haben, man muss naturwissenschaftlich rangehen. Eine Leiche ist eine Sache, aber eine Sache mit Würde. Am Seziertisch ein Würstchen zu essen oder zu lachen, das wäre würdelos“

In der Schule wollte ich Biologie studieren. Als ich dann Medizin machte, wollte ich Orthopäde werden, weil meine Frau Krankengymnastik machte. Später wollte ich dann Psychiater werden.

Nun sind Sie von der Helfer- zur Opferseite gewechselt.

Ja, anders als die Ärzte haben wir von unseren Fällen keine Dankbarkeit zu erwarten.

Wie reagieren Menschen, die Sie nach Ihrem Beruf fragen?

Es ist immer ein Erstaunen, was der so macht. Aha, der hat mit Leichen zu tun. Das merkt man an den Reaktionen schon.

„Riecht der nach Formalin!“

Wenn Sie riechen sagen: Früher, als ich Assistent war, bin ich immer rüber zur Mensa. Immer wenn wir faule Leichen hatten, sind die Kommilitonen von mir weggerückt. Das riecht man natürlich, da können Sie duschen, wie Sie wollen. Oder wenn man eine Brandleiche obduziert: Der Brandgeruch, das riecht wie Weihnachten, wenn eine Gans im Ofen ist. Und ich muss sagen: Ich kann mich bis heute nicht an den faulen Geruch einer Leiche gewöhnen.

Sie haben einmal gesagt, man muss eine Gesellschaft danach messen, welches Verhältnis sie zum Tod hat.

Manchmal ist das schlimm. Es gibt Menschen, die sterben Freitagnachmittag im Krankenhaus, wenn nur noch halber Betrieb ist, und erst am Montag wird die Leiche gefunden. Wie man stirbt, wie man trauert in Deutschland, das ist schon erschreckend.

Wenn man so lange mit Leichen gearbeitet hat wie Sie: Wie schaut man da auf den eigenen Tod?

Man beschäftigt sich damit, schon wenn man in das Fach eintritt. Ich glaube, man kann viele Dinge auch leichter sehen, als wenn man sie tabuisiert. Ich würde jetzt nicht sagen, dass man mit dem Tod auf Du und Du steht. Aber man hat eine andere Vorstellung davon.

Nächstes Jahr gehen Sie in den Ruhestand.

Ich muss in den Ruhestand, das ist Vorschrift, obwohl ich lieber weiterarbeiten würde. Ich fühle mich fit, obwohl ich keinen Sport treibe.

Was werden Sie tun? Werden Sie loslassen können?

Ich muss sagen, den Gedanken schiebe ich vor mir her. Ich mag da gar nicht dran denken. Meine Frau hat auch Angst davor. Man kann ja nicht den ganzen Tag im Garten sein.

Sie könnten mehr Krimis lesen oder „Tatort“ im Fernsehen schauen.

Ich habe mir noch nie etwas aus Krimis gemacht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen