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„Das Leben ist Hartz“

„Agenturschluss“: 150 AktivistInnen belagern zur Einführung des Arbeitslosengeld II die Arbeitsagentur Hamburg. Beschäftigte werden zur Arbeitsverweigerung aufgefordert und ALG II-Bezieher zum „kreativen Widerstand“

„Der Angriff gilt gleichermaßen Erwerbslosen und Lohnarbeitenden“

VON KAI VON APPEN

„Ich will alles, ich bin alles ..., dröhnt Gitte Haennings Song aus besseren Zeiten aus dem mitgebrachten Radiorecorder und macht deutlich, dass es damit im Jahr eins der Hartz IV-Ära nach dem Willen der Bundesregierung vorbei sein soll. 150 Anti-Hartz-AktivistInnen des Bündnisses „Agenturschluss“ und der Sozialpolitischen Opposition belagerten gestern Morgen beim bundesweiten Aktionstag das Foyer der Hamburger Arbeitsagentur Mitte in der Norderstraße. „Weg mit Hartz IV“, prangt es von Transparenten, und das Ex-Arbeitsamt wird zur „Agentur für Armutsförderung und Verfolgungsbetreuung“ umgetauft.

Obwohl Polizei vor Ort ist, greift sie nach dem Willen der Verantwortlichen nicht ein. Selbst nicht, als zeitweilig eine Stinkbombe die Luft vermiest und in Flugblättern die Agenturbeschäftigten zur Arbeitsverweigung oder zum „Dienst nach Vorschrift“ aufgefordert werden. „Ihr müsst nicht jede Grippe mit Antibiotika bekämpfen“, steht in dem Aufruf, „sondern ihr könnt euch mal ein paar Tage ins Bett legen und auskurieren.“

Für ein Einschreiten der Polizei ist der Andrang einfach zu hoch. In langen Schlangen stehen die Erwerbslosen an den Auskunftsschaltern und suchen Rat über ihre Bewilligungsbescheide, bevor sie an Arbeitsvermittler und Fallmanager in den Etagen weitergeleitet werden. Viele beschweren sich auch, dass überhaupt kein Arbeitslosengeld II auf ihrem Konto eingegangen ist.

„Unsere Mitarbeiter haben alle Hände voll zu tun“, gesteht Agentursprecher Knut Börnsen ein und macht Computerfehler verantwortlich. Insgesamt seien 41.000 Bescheide an Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger verschickt worden. Wer einen Bewilligungsbescheid, aber noch kein Geld bekommen hat, kann sich laut Börnsen einen Abschlag bei seiner Bank auszahlen lassen.

Obwohl die Hartz IV-Gegner im Foyer zum Gratis-Frühstück einladen und dabei auf die „Verarmungs- und Disziplinierungsstrategie“ sowie die „Zwangsdienste“ der Ein-Euro-Jobs schimpfen, nehmen nur wenige der AgenturbesucherInnen die Einladung zum kostenlosen Imbiss an. „Hartz IV ist weder der Anfang noch das Ende des Sozialraubs, sondern fügt sich ein in umfassende Verschlechterungen von Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Agenda 2010“, sagt die Sprecherin des Bündnisses „Agenturschluss“, Antje Timm. „Viele Menschen begreifen, dass der Angriff gleichermaßen Erwerbslosen und Lohnarbeitenden gilt“, so Timm: „Für die einen als Erpressung zu Mehrarbeit und Lohnverzicht, für die anderen als Leistungskürzung und Zwang in Billigjobs.“

Welche „Schikanen“ die neuen Zumutbarkeitsregeln in sich bergen, wird draußen vor der Tür von den „Spielverderberinnen“ in einem „Besitzstandssicherungsspiel“ deutlich. Motto: „Das Leben ist Hartz.“ Wer eine falsche Zahl würfelt, kann auf einem „Erlebnisfeld“ einen Bonus, aber auch eine Strafe kassieren. „Die Kandidatin hat sich geweigert, einen Ein-Euro-Job anzunehmen und kann zwei Felder zum Ziel vorrücken“, so die Spielregeln, bei denen „sozialer Ungehorsam und kreativer Widerstand“ belohnt werden.

So auch eine Sozialhilfeempfängerin, der Geld für eine neue Jacke für ihre Tochter verweigert wird und die daraufhin beim kollektiven Klauen mitspielt. Pech hat hingegen eine andere Frau: „Diese Kandidatin bekommt ein Kind und verliert ihre Lehrstelle, da sie keinen Kita-Platz bekommt. Zurück ins Mittelalter und an die Startposition.“

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