Irans Raketenangriff auf Israel: „Sie nutzen uns als Schutzschilde“
Die Kleriker riskieren nicht nur den Verlust ihrer Macht, sondern auch einen Krieg mit den USA. Die Menschen im Iran hoffen, dass es nicht noch schlimmer kommt.
„Das Regime hat gestern Abend nicht einmal Passagierflüge gecancelt“, erzählt Nafisi. Tatsächlich kursieren in den Sozialen Medien Videos mit fliegende Raketen. Die Aufnahmen wurden allem Anschein nach von Menschen gemacht, die im iranischen Luftraum in Passagierflugzeugen sitzen. Erst zwei Stunden nach den Raketenabschüssen hätte Irans Führung den Luftraum sperren lassen. „Sie benutzen uns als Schutzschilde“, glaubt die 33-Jährige.
Klar ist jedenfalls: Um Menschenleben schert sich das iranische Regime nicht. Weder im Iran, noch in Israel, in Gaza oder im Libanon. Die Machthaber in Teheran haben nur eine Prämisse: Die eigene Macht zu erhalten. Danach wird eigentlich jede politische Entscheidung getroffen.
Doch angesichts dieser Prämisse verwundert der Raketenangriff auf Israel, den das iranische Regime am Dienstagabend anordnete. Mehr als 180 ballistische Raketen ließen die Machthaber in Teheran auf Israel schießen. Es war der zweite direkte Angriff von iranischem auf israelischen Boden.
Irans Regime könnte die Kontrolle entgleiten
Anders als beim ersten Angriff im April gab es Dienstagabend keine Vorwarnung. Gegen 19.30 Uhr ertönten in Israel die Sirenen; Menschen flüchteten sich landesweit in Bunker. Israels Abwehrsysteme konnten die Angriffe größtenteils unschädlich machen. Auch die USA halfen dabei. Berichten zufolge soll ein Mann in Jericho im Westjordanland durch herabfallende Raketenteile getötet worden sein.
Verwunderlich sind diese Angriffe, weil Irans Regime nun sehr leicht die Kontrolle über die Situation entgleiten könnte. Der Angriff im April war für Teheran in erster Linie eine Machtdemonstration, mit der die Führung, so scheint es, keinen großen Schaden anrichten wollte. Auch Israel ließ es dabei beruhen, flankiert von Warnungen der USA, dass der Konflikt sich nicht ausweiten dürfe. Das ist jetzt anders.
Israels Premier Benjamin Netanjahu erklärte, dass der Iran einen „großen Fehler“ begangen habe und „dafür bezahlen“ werde. Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, sagte, es werde „schwerwiegende Konsequenzen“ für den Iran geben. „Wir werden mit Israel zusammenarbeiten und dafür sorgen“.
Schwer zu sagen, ob das iranische Regime damit gerechnet hat, dass die USA sich trotz der Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation so eindeutig hinter Israel stellen. Irans Machthaber mögen über eine der stärksten Streitkräfte der Region verfügen – gegen eine vereinte Front aus Israel und den USA können sie kaum gewinnen. Damit wäre die Macht der iranischen Kleriker erstmals seit Bestehen der Islamischen Republik ernsthaft gefährdet.
Kein Vertrauen in Khameniei wie Netanjahu
„Es gibt Menschen, die wünschen sich, dass Israel Khamenei tötet“, sagt Nafisi. Ali Khamenei ist der Revolutionsführer und die oberste Macht im Iran. Er führt die Revolutionsgarden, die Menschen im In- und Ausland terrorisieren. „Aber es gibt auch viele, die zwar nicht hinter dem Regime stehen, aber auch Netanjahu nicht trauen.“ Der Gaza-Krieg und die israelische Kriegsführung hätten bei vielen Menschen im Iran ein Misstrauen gegenüber der israelischen Regierung hinterlassen.
Grundsätzlich fühlen sich viele Menschen im Iran Israel verbunden, allein aus Gegnerschaft zur eigenen Führung. Das letzte Jahr habe aber einiges verändert, berichtet Nafisi. Und trotzdem sagt sie: „Ich hoffe, dass sie Khamenei terrorisieren.“ Mit „sie“ meint sie die israelische Regierung.
Ein Grund für den riskanten Schritt des iranischen Regimes könnten Friktionen innerhalb des Machtapparates sein. Das deutschsprachige Exil-Medium IranJournal zitiert einen iranischen Experten, der von einem „inneren Machtkampf“ spricht. So könnten sich rein ideologisch gesinnte Positionen gegenüber den – aus Sicht des Regimes – mehr rational handelnden Kräften durchgesetzt haben.
Bisher hat sich das Regime in einer einigermaßen komfortablen Lage befunden. Die von ihm aufgebaute sogenannte „Achse des Widerstands“, unter anderem bestehend aus Hamas und Hisbollah, hat seit dem 7. Oktober den Kampf gegen Israel geführt, auch im Namen der Islamischen Republik Iran.
Teheran droht mit Angriffen „höherer Souveränität“
Sowohl die Hamas als auch die Hisbollah sind durch israelische Militärschläge inzwischen beträchtlich geschwächt. Das bedeutet, dass das iranische Regime seinen Kampf gegen Israel nun selbst an vorderster Front führen muss. Da die Machthaber in Teheran sich propagandistisch stets als Verteidiger der palästinensischen Sache dargestellt haben, müssen sie nun auch liefern. Das könnten die Beweggründe für den jüngsten Angriff gewesen sein. Damit könnten sie sich aber verkalkuliert haben.
Für den Fall, dass Israel jetzt als Reaktion Irans Ölproduktionsstellen oder Atomanlagen angreifen sollte, hat das Regime schon angekündigt, erneut zurückzuschlagen. Ein hochrangiger Offizier sagte im iranischen Staatsfernsehen, man werde mit Angriffen noch „höherer Intensität“ antworten.
„Ich wünsche mir, dass Khamenei verschwindet, damit jemand kommt, der für Frieden steht“, sagt Lehrerin Nafisi. Man kommt nicht umhin, pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Denn die Region scheint sich der Maxime „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ treu zu bleiben. Dass dieser Weg in den Frieden führt, erscheint unwahrscheinlich. So bleibt nur zu hoffen, dass alles nicht noch schlimmer wird.
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