Roman über Vater-Tochter-Beziehung: Ganoven werden zu Mördern
Oxana Wassjakina ist eine neue, kraftvolle Stimme in der russischen Gegenwartsliteratur. Ihr zweiter Roman, „Die Steppe“, führt ins raue Sibirien.
Mutter, Vater, Kind: Hat Oxana Wassjakina im ersten Buch ihrer Romantrilogie „Die Wunde“, nominiert für den größten russischen Literaturpreis, den Big Book Award, die Beziehung zur Mutter autofiktional verarbeitet, so stehen jetzt in „Die Steppe“ die Erinnerungen an den Vater im Mittelpunkt: „Du schaust in die Weite, und dir bleibt nur, zu staunen – über die Unendlichkeit der Steppe und darüber, dass sie dir ständig, ständig in die Augen kriecht. Da ist kein Ort, an dem man ihr entkommen könnte, du musst sie aushalten, begreifen, akzeptieren, wie sie ist: groß, etwas verwaist und eintönig.“
Die Protagonistin in „Die Steppe“ ist ähnlich wie im ersten Roman eng verbunden mit der Natur, die sie auf ihrer Reise durchquert und die ihr Innerstes widerspiegelt. Während draußen die leeren Landschaften der rauen weiten Steppe vorbeiziehen, findet sie sich nun nach zehn Jahren Funkstille mit dem Vater im engen Führerhaus eines Lkws wieder.
Gemeinsam reisen sie durch die Landschaften Russlands zwischen Wolgograd und Astrachan: Die Steppe ist unendlich, fast nicht auszuhalten, vereinnahmend und sie absorbiert alles – und dennoch ist sie keine Wüste. Da ist Leben, sind Gräser, Blumen, zirpende Insekten, Nattern.
Oxana Wassjakina: „Die Steppe“. Aus dem Russischen von Maria Rajer. Blumenbar Verlag, Berlin 2024, 272 Seiten, 24 Euro
Vor dieser Kulisse kommen in Oxana Kindheitserinnerungen hoch, Erinnerungen an einen heiteren Vater, den sie erst später als das erkennen kann, was er ist: ein drogensüchtiger Vergewaltiger. Wassjakinas Auseinandersetzung mit dem Vater ist autobiografisch motiviert, der tatsächlich an Aids erkrankte und starb, eine in Russland bis heute sehr verbreitete Erkrankung, mit über 100.000 HIV-Neuinfektionen pro Jahr.
Wichtige Vertreterin der jungen Literaturszene
Nachdem Oxana Wassjakina zunächst Lyrik veröffentlichte, erlangte die in der sibirischen Industriestadt Ust-Ilimsk geborene Autorin (vor 2022) mit ihren autofiktionalen Romanen Aufmerksamkeit und wurde zu einer wichtigen Vertreterin der jungen, experimentellen Literaturszene Russlands. Ihre Werke sind sowohl intime Seelenschau als auch Spiegel der gesellschaftlichen Umbrüche, die ihre Generation prägen.
Die 34-Jährige lebt heute in Moskau, doch ihre Texte tragen die nostalgische Sehnsucht nach Sibirien und dem Osten sowie der vor allem im Süden gelegenen Steppe in sich, die dem Erwachsenwerden im postsowjetischen Russland vor dem Hintergrund dieser rauen Naturräume einen magischen Anstrich gibt.
Wassjakina gibt sich als studierte Literaturwissenschaftlerin zu erkennen, wenn sie das typische Motiv der Steppe aus der russischen Literatur – zu finden etwa bei Iwan Turgenjew, Michail Scholochow, Iwan Bunin, Nikolai Gogol oder Alexander Puschkin – adaptiert. Sie schreibt sich in diese Literaturgeschichte ein; doch statt der männlichen Protagonisten ist es nun eine lesbische Hauptfigur, die die Weiten des Landes durchquert; an die Stelle eines Vater-Sohn- oder Onkel-Neffe-Konflikts tritt der Vater-Tochter-Konflikt.
Wassjakinas Steppenliteratur erinnert besonders an die gleichnamige Erzählung von Anton Tschechow (1888), in der der neunjährige Jegoruschka von seiner Mutter in die Stadt geschickt wird, um eine bessere Bildung zu erhalten, und in Begleitung seines Onkels und anderer Verwandter durch die weite, endlose Steppe Südrusslands reist.
Unbarmherzigkeit des Lebens
Der innere Reifungsprozess des reisenden Jungen wird mit der äußeren Welt, einer rauen, wilden Natur, konfrontiert. Ähnlich schön und bedrohlich avanciert auch die Steppe bei Wassjakina zum Symbol für die Unbarmherzigkeit des Lebens.
Doch es ist nicht nur der Übergang in die Erwachsenenwelt, den die junge Frau analog zu Jegoruschka durchlebt, sondern auch Wassjakinas engagierte Stimme – ähnlich dem Gesellschaftskritiker Anton Tschechow –, die das gesellschaftliche System der Gewalt als im eigenen Vater gespiegelt beschreibt.
Der Vater-Tochter-Konflikt steht symbolisch für die Herausforderungen und den existenziellen Kampf, der mit der Natur und dem Leben in der Steppe einhergeht. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit ihrem Vater, so schreibt die Autorin, ist dessen Tod.
Wassjakinas Heldin reist zurück in die eigenen Erinnerungen und entdeckt in dem lustig, cool und clever daherkommenden Vater nun den unverantwortlichen, der sie als kleines Kind mit auf Partys zu seinen Banditenfreunden (oder sollte man besser sagen: zu Verbrechern und Mördern?) nahm, auf die sich häufenden Beerdigungen der Kumpel, auf die Abenteuer der Straße.
Verharmlosung von Schwerstverbrechern
Hier ein geklauter Fernseher, da eine gezockte Pelzmütze: Für die Protagonistin aus den Kindertagen war das Alltag, ab und an sogar willkommenes Abenteuer. Die nun erwachsene Frau reflektiert aktuelle russische Banditenserien über die 1990er Jahre und muss zunehmend eingestehen, dass auch sie die eigentlichen Schwerstverbrecher als coole „Banditen“ oder gar „Ganoven“ verharmlost hat.
Ihr Vater, so reflektiert die Autorin, stünde auch heute auf der Seite der Vergangenheit, aufseiten der staatlichen Kriegsrhetorik. Ganoven werden zu Kriegern.
Wassjakina entromantisiert die organisierte Kriminalität in „Die Steppe“ gehörig und macht den Ursprung der heutigen „Kultur der Gewalt“, wie sie es nennt, in den 1990er Jahren aus.
Sie geht sogar so weit, das Recht des Stärkeren auf der Straße in den 1990er Jahren auf die sowjetischen Straflager zurückzuführen: „In den Achtzigern verließ das Werte- und Hierarchiesystem, das in den sowjetischen Straflagern entstanden war, die Grenzen des Lagers und trat an die Stelle der geschwächten Regierung.“
Post-Lager-Gesellschaft
Die Protagonistin erinnert sich an einen Bandenkumpel ihres Vaters, der in Ust-Kut einsaß: „Ust-Ilimsk ist umgeben von Gefängnissen. In den Nachbarstädten Bratsk, Ust-Kut und Angarsk sind jeweils drei. Geh mal auf die Webseite der Strafvollzugsbehörde der Region Irkutsk“ – spricht sie die Lesenden direkt an – „und du wirst sehen, dass da ein Gefängnis neben dem anderen ist. Früher gehörten sie zum Gulag-System, seitdem hat sich nicht viel verändert.“ Das postsowjetische Russland als Post-Lager-Gesellschaft.
Mit im Lkw, neben Oxana und ihrem Vater, ist noch eine dritte Person: Oxanas Geliebte. Man fragt sich: Wie kann eine Autorin, die sich offen als queer positioniert, im heutigen autoritären Russland leben und publizieren?
„Russland – das ist meine Arbeit“, sagt Wassjakina unerschrocken in einem Interview im Mai 2022. Arbeiten als Sich-Abarbeiten? Sie muss nicht weiter dechiffrieren, was sie eigentlich meint, wenn sie von einer „Kultur der Gewalt“ spricht, die sie – ähnlich wie Maria Stepanova, die allerdings mittlerweile im Exil lebt, und andere zeitgenössische russische Schriftsteller:innen – schon lange vor der russischen Totalinvasion in die Ukraine 2022 beobachtet und literarisch reflektiert hat.
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