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Verkehrspolitik in DeutschlandRad-Mantra und Asphalt-Realität

Gesundheitsfördernd, platzsparend, klimaschonend: Jeder redet vom Radfahren, aber auf unseren Straßen dominiert weiter das Auto. Warum eigentlich?

Das Fahrrad ist klasse. Es fördert Gesundheit, ist preiswert und spart Mitmenschen Lärm, Gestank und Unfallgefahr Foto: Hannes P. Albert/dpa

I ch habe eine neue Nachbarin. Sie hat außen an ihre Wohnungstür tibetische Gebetsfahnen gehängt. Als ich das erste Mal an der bunt behangenen Tür vorbeikam, traf mich die Erkenntnis: Das Fahrrad ist die Gebetsfahne deutscher Verkehrspolitik.

Seit 20 Jahren höre ich bei jeder politischen Veranstaltung zum Thema das Mantra: Das Fahrrad ist klasse. Es fördert Gesundheit, soziales Miteinander, schafft schon Kindern Freiräume und Möglichkeiten zur Weltentdeckung. Es ist preiswert und spart Mitmenschen Lärm, Gestank und Unfallgefahr. Es ist platzsparend, klimaschonend und dank Motor inzwischen vom Pizzadienst bis zur Altenpflege sogar gewerblich von jedem nutzbar – und ein Wirtschaftsfaktor. Mit dem Fahrrad kann man Ausflüge machen und es bei entsprechender Einsatzfreude sogar selbst reparieren. Kurz: Das Fahrrad ist die unglaubliche Verknüpfung individueller Freiheit bei gleichzeitigem gesellschaftlichem Nutzen.

Auch in diesem Monat habe ich schon bei Ausstellungseröffnungen und Kongressen Politiker von SPD, Grünen, CDU und der FDP die Bedeutung des Rades preisen hören. Logisch: Unsere Städte sind verstopft und jeder statt mit dem Auto zurückgelegte Radkilometer spart der Gemeinschaft Geld. Deshalb wird das Rad in Paris, in Utrecht, in Kopenhagen entschieden und mit langem Atem politisch gefördert.

In Deutschland werden nach wie vor für Autostraßen Stadtparks gerodet und Häuser abgerissen. Deutschland hat nach ewigem Geiere jetzt ein neues Straßenverkehrsgesetz, das immer noch die Freiheit des unbedingt überall hin gelangenden Autos im Zentrum hat. Jede Tempo-30-Zone muss weiterhin begründet werden – und hat gegebenenfalls keinen Bestand. Warum eigentlich? Wo ist die deutsche Anne Hildalgo, die Bürgermeisterin von Paris, die versucht, wirklich grundsätzlich etwas zu ändern? Und nicht stolz ist, wenn wieder eine 200 Meter lange Fahrradstraße (mit Anwohner-frei-Schild und rechts und links parkenden Autos) eröffnet wurde?

Warum übernehmen die Konservativen in Deutschland nicht Forderungen nach sauberer Atemluft und Verkehrssicherheit? Ist der Schutz der Familie, der Schutz von Kindern nicht eines ihrer Basisziele? Und sollte sich nicht Leistung wieder lohnen? Autofahren heißt rumsitzen, Radfahren hingegen … Und wie sieht es mit der Freiheit aus? Müssten Liberaler nicht fordern, dass jeder für seinen Autoparkplatz selbst verantwortlich ist? Dass Parkplätze ebenso wie der gesamte Autoverkehr nicht mehr von der Allgemeinheit jährlich mit Milliarden subventioniert werden?

Meine Nachbarin hat mir erzählt, dass sie keine Buddhistin ist und nicht meditiert, Meditation aber grundsätzlich toll findet. Die Fahnen hat sie an die Tür gehängt, weil die schön bunt sind und irgendwie fröhlich wirken. Eigentlich hängen solche Fahnen traditionell im Freien, damit sich die Man­tren im Wind verteilen. Aber auf dem Balkon stehen schon Blumen und Kräuter, da ist kein Platz mehr für flatternde Gebete. Immer, wenn ich an ihrer Tür vorbeigehe, denke ich jetzt: dekorativ ein kleines Zeichen setzen, wo grad Platz ist – wie Radpolitik eben.

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Kerstin Finkelstein
Dr. phil, Journalistin und Buchautorin, Expertin für Verkehrspolitik und Migration. Studium in Wien, Hamburg und Potsdam. Volontariat beim „Semanario Israelita“ in Buenos Aires. Lebt in Berlin. Bücher u.a. „Moderne Muslimas. Kindheit – Karriere - Klischees“ (2023), „Black Heroes. Schwarz – Deutsch - Erfolgreich“ (2021), „Straßenkampf. Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen“ (2020), „Fahr Rad!“ (2017).
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14 Kommentare

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  • Die Fahnen-Metapher finde ich sehr gelungen, sie trifft diese wohl weit verbreitete Verlogenheit - die wir ja alle mehr oder weniger leben (müssen) - auf den Punkt. Mir fallen als besonders schönes Beispiel zum Thema "dekoratives Zeichen setzen" die Waldorf-Mütter ein, die vormittags mit dem Hollandrad zum Naturkostladen fahren und Mittags ihre Kiddies mit dicken SUV`s von der Schule abholen... (Als Ex-Lehrer dort habe ich das als tägliches Schauspiel erlebt)

  • Die Städte sind toll flach, trifft auf die meisten Städte in D halt nicht zu. Habe verzweifelte Berliner und Hamburger Radfahrer in div. anderen Städten verzweifeln sehen - wechselten ganz schnell auf andere Möglichkeiten wegen der vielen Steigungen Innerorts, für viele ältere ebenfalls ein Problem und über Kinder mit ihren sauschweren Rädern ebenfalls ein Problem.

  • Das trifft es wirklich gut.

    Aber ich will mal eine These hinzufügen: Der Individualverkehr - egal ob motorisiert oder nicht - ist sehr stark kapitalistisch aufgeladen. Es geht immer um das Haben wollen der neuesten Modelle mit den besten Features usw. Das funktioniert beim Fahrrad aber nur zu einem bestimmten Punkt. Es ist einfach kein so großer Imagegewinn, ob ich ein Fahrrad für 100 Euro oder eines für 10.000 Euro fahre.

    Beim Auto um zwei Nullen verschoben eigentlich auch nicht. Aber die Gesellschaft ist eben der gewünschte Resonanzkörper kapitalistischen Handelns. Nun hat das Fahrrad den großen Nachteil der politisch vernachlässigten Berücksichtigung, die sich in mangelnder Infrastruktur manifestiert. Selbst mit dem 10.000-Euro-Rad bin ich eben nur ein Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse.

    Solange das in unserer Gesellschaftsform nicht erkannt wird, ändert sich - übrigens irgendwie zurecht - wenig.

  • Das Rad ist eben nicht für alle geeignet oder interessant. Auch in einer „Vorzeigestadt“ wie Kopenhagen sind die Grenzen der Akzeptanz deutlich erkennbar.

    • @1Pythagoras:

      der unterschied ist - und das ist der springende punkt hier -, dass alle in kopenhagen, die das rad benutzen wollen, dies auch gut bis sehr gut koennen.



      in so gut wie allen deutschen staedten ist dies eben nicht moeglich bzw. zu gefaehrlich.

  • Ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Deprimierend gut... :(

  • in deutschland werden klimakleber von gerichten zu mehrjaehrigen haftstrafen verurteilt



    jedes jahr werden ganze regionen ueberschwemmt oder brennen ab



    immer mehr autos werden immer schwerer, die infrastruktur zerbroeselt



    ich liebe mein auto! geile karre



    connect the dots

  • weil am status quo auch kein einziger politiker etwas aendern will.



    und nicht etwa aus angst vor waehlern, sondern aus eigener ueberzeugung.



    wie die USA ein unloesbares waffenproblem hat, hat deutschland ein unloesbares autoproblem.

    • @the real günni:

      Aber die Wähler helfen schon erheblich, dass Politiker häufig bei der Meinung bleiben.

      Auch Radfahrer können nämlich Autos besitzen.

  • Seit 20 Jahren haben im Verkehrsministerium offensichtlich Leute das Sagen, die genauso lange selber kein Fahrrad mehr bewegt haben. Kein Wunder, daß die aktuelle Verkehrpolitik ein Trauerspiel ist. Ja, in der Tat, wo bleibt sie, die deutsche Anne Hildalgo?

  • Ich kenne einige, für die das Fahrrad alltägliches Hauptverkehrsmittel ist. Für die meisten jedoch scheint es vor allem ein Freizeitgerät zu sein. Man klemmt es auch gern hinten ans Auto, fährt es ein Weilchen spazieren und kann dann radfahren, wo man will. Wenns Wetter stimmt. Auch das Deutschlandticket dient für ganz viele dazu, zusätzliche Reisen zu unternehmen, in der Freizeit. Seit es nicht mehr 9 Euro billig ist, hat der Trend stark nachgelassen. (Im Vergleich zum Fahrrad hat zumindest der Bahnverkehr ein gewaltiges Zuverlässigkeitsproblem: wer am Zielort pünktlich erscheinen muss, wichtige Termine hat (z.B. mit seinem Arbeitszeitkonto ☺), kann guten Mutes nicht "die Bahn" nehmen.)



    Auf den Straßen sieht es aus, wie momentan fast überall in der Klima-Politik: alles drängt sich (teils rasend schnell) gleichzeitig auf engstem Raum, fährt sich gegenseitig "an die Karre" und rempelt gemeinsam oder nacheinander jene, die die Frechheit haben, zu Fuß unterwegs zu sein (und alles aufzuhalten).



    Verkehrsminister Wissing (Initialen VW, haha) spricht vom Plakat:



    "Mal mit dem Rad. Mal mit dem Auto. Mal mit dem Zug. Immer mit der Ruhe."

    Ommmm. Das wird nichts.

  • Warum eigentlich? Komische Frage. Weil Autofahren super bequem ist (ohne Umsteigen von A nach B), man allein ist und einen gemütlichen Sitzplatz hat (auch im Stau), sich nicht das Geblubbere anderer Leute anhören muss, nach Belieben Musik hören und seinen Aggressionen freien Lauf lassen kann, man sich wenigstens sicher fühlt, weil es warm und trocken ist undundund

    • @Vigoleis:

      stimmt alles.



      und dann sind es so viele autos, dass kein platz mehr fuer anderes bleibt.



      sagt man dann, ok, wir brauchen auch platz fuer andere und nehmen ein paar autos wieder weg, oder laesst man alles so, wie es ist?

      • @the real günni:

        Ich sehe die Probleme wie Platzverbrauch etc. natürlich auch. Auf Ihre Frage hätte ich keine plausible Antwort.



        Damit meine Eloge auf das Autofahren nicht zu falschen Schlüssen verführt: Ich vertraue mich, seit 25 Jahren persönlich autofrei, täglich Bahn und ÖPNV, gelegentlich dem Fahrrad an. Ich verfalle aber deshalb nicht darauf, mir die eklatanten Probleme dort schönzureden. Ob Kurzstrecke oder Reise, es ist eine tägliche Last.



        Die Lösung kann natürlich nicht ein, durch was auch immer, erzwungenes (!) Umdenken sein. Ich habe keine allseits befriedigende und befriedende, gerechte Idee.