Leben in Russland: Schöne Scheinwelt
Die Zukunftsausstellung „Moskau 2030“ feiert die russische Hauptstadt. Der Kreml versucht, vom Krieg abzulenken – mit Erfolg.
D er Stegosaurus brüllt unter dem Ahorn. Sein Schwanz wedelt durch die Luft. Die Kinder unter ihm kreischen, ihre Händchen patschen an seinen Körper aus Schaumstoff. „Mama, guck, da hinten sind noch mehr Dinos, komm, komm schnell“, rufen die Mädchen und Jungen im Moskauer Museon-Park und ziehen die Erwachsenen quer durch die Riesenechsenattraktion im Schatten der Neuen-Tretjakow-Galerie.
„Moskau 2030“ prangt entlang der Wege, auf der Bühne malt der Moderator das Bild einer bunten, sportlichen, innovativen Stadt. Die Schaumstoffbrachiosaurier recken derweil ihre langen Hälse über die Menschenmassen, die sich hier – vor allem am Wochenende – tummeln.
Russlands Hauptstadt feiert sich seit Tagen als „Territorium der Zukunft“, an mehr als 30 Orten. Es gibt Foodfestivals, wo die Fischer aus Pljos an der Wolga ihre Delikatessen anbieten, es gibt Modenschauen, bei denen junge Frauen ihre Ware Sdelano w Moskwe (Made in Moscow) präsentieren, es gibt künstliche Flüsse, auf denen sich Besucher*innen als Stand-Up-Paddler*innen oder Kanufahrer*innen versuchen. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Moskau eben.
Hier blinkt es, hier strahlt es, hier pulsiert das Leben, auch wenn die Frage „Wie ist das Leben so?“ nur Stille nach sich zieht. Fragen – oh Himmel, und auch noch von ausländischen Journalist*innen gestellt – werden fast reflexartig abgewehrt. „Alles gut bei uns“, sagt so manche, und klingt dabei, als knalle sie eine Tür zu. „Gehen Sie weg, Sie NATO-Agentin!“, brüllt ein anderer. Aus den Boxen dröhnt sowjetische Estradamusik, die blauen Elektrobusse quetschen sich leise an den gelben Yandex-Taxis im Moskauer Stau vorbei.
Die schweigende Bevölkerung
Da sind die Dinosaurier im Museon-Park als Symbol der „Zukunft“ gar nicht einmal so schlecht gewählt. Ausgestorbenes, hübsch verpackt. Vergangenes so präpariert, dass es wie ein modernes In-Objekt erscheint. „Ah!“, „Oh!“, „Was sind wir toll!“
Derweil schwebt eine dunkle Wolke übers Land. Eine Wolke aus Schmerz, Trauer, Scham, Angst, Ungewissheit. Sie ist über allen, und alle wissen es. Sie spüren die Unsicherheit, sie „halten ihre Zunge hinter den Zähnen“, wie ihnen Eltern und Großeltern bereits beigebracht hatten, sie sollen schweigen, dichthalten, verstummen. Sie bringen es nun ihren Kindern bei und meinen, das erleichtere deren Leben.
Sie spüren die Unfreiheit, spüren den Käfig um sich herum, zwischen dessen Stäben sie nicht den Kopf hindurchzwängen wollen, weil der Kopf sonst abgeschlagen werden könnte. Auch das hatten schon die Vorfahren gesagt. Sie wussten, wovon sie redeten. Das Stillhalten ist zu einem Teil der eigenen Identität geworden, zu einem Mantra, das alle um einen herum vorsagen. Nur wenige Mutige trauen sich hinaus aus dem Käfig – und landen oft in einem anderen Käfig, im Gerichtssaal, in der Strafkolonie. So etwas schreckt die meisten ab.
Sie hören die Nachrichten, und seien sie vielfach verzerrt und beschönigt, Russlands Staatspropaganda funktioniert perfekt, sie kriecht tief in jede Pore, sie ertränkt das Denken. Sie sprechen mit Verwandten. Mit Freunden. Die erzählen ihnen, wie sie – trotz herabfallender Drohnen – zu ihren Tieren in den Stall eilen, schnell den Schweinen noch etwas zu fressen geben und wieder zurückkehren in eine Flüchtlingsunterkunft in Kursk.
Berichte von der Front
Das eigene Dorf an der Grenze zur Ukraine sei vielleicht schon bald in der Hand der ukrainischen Armee, sie komme ja immer näher, sagen sie stockend ins Telefon. Die Ukrainer rücken auf dem russischen Territorium vor, der Kreml spricht von „Situation“. Und die, die gezwungen sind, alles zurückzulassen, erzählen außer Atem: „Aber die Tiere, meine Tiere. Immerhin ist ihnen nichts passiert.“
Die anderen berichten, wie der eigene Sohn nun den Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben hat und in den kommenden Tagen in die Ukraine zieht. Zum Töten. Zum Sterben. Nein, sie sprechen solche Wörter nicht aus. Sie weinen ins Telefon. „Ach, mein Jegoruschka. Warum tut er das? Es könnten doch andere hin, um unser Land zu verteidigen.“
Sie verschließen die Augen, während Jegoruschka der Krieg nutzt, weil er in der Realität kaum mit seinem Leben zurechtkommt: Die Frau hat ihn verlassen, den gemeinsamen Sohn mitgenommen, der Job bringt nicht das nötige Einkommen ein, also trinkt man hin und wieder, trinkt irgendwann zu viel.
Es gibt viele Jegoruschkas im Land, die sich durch den Krieg quasi freikaufen – von ihrer Straftat, von ihrer bestehenden oder drohenden Gefängnisstrafe. Sie sehen einen Sinn auf den Schlachtfeldern, sehen die Millionen Rubel, die für sie drin sind. Der Mindestsold für Soldaten ist zuletzt auf das Dreifache eines Durchschnittsgehaltes angestiegen. Das finden viele lukrativ. Manche schmeißen ihren Lehrerberuf, um an die Front zu gehen.
Kämpfen für persönlichen Wohlstand
Selbst in den Supermärkten und an den Ticketautomaten in der Metro springt die Werbung einen an: „Dienst an der Heimat. Schließe dich den Deinen an“, steht da. Die „Deinen“ führen im Russischen die Buchstabenfolge „SWO“, die Abkürzung für „militärische Spezialoperation“, wie Moskau den Krieg in der Ukraine offiziell nennt. Hunderttausende schließen sich an.
Am Ende winkt die Straffreiheit, winkt der Heldenstatus. Es winken Vergünstigungen, für einen Wohnungskauf, für den Erholungsurlaub, selbst für einen Studienplatz fürs Kind. Das ist nicht nichts in einem Land, das vor allem fern vom blinkenden und leuchtenden Moskau wenig an Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Der Tod verliert seinen Schrecken. Er hatte vielleicht nie einen. In den Schulen erzählen die Lehrer*innen bereits Drittklässler*innen, es gebe nichts Schöneres, als fürs Vaterland zu sterben.
Viele Menschen tun so, als sei nichts. Sie jagen die Wolke davon und jubeln ausgestorbenen Dinosauriern zu, während sie versuchen, selbst nicht zu sterben und nicht in den Knast zu kommen. Die Mehrheit entflieht der Realität – alle auf ihre eigene Weise –, weil sie sie erst recht töten würde.
Weil sie so viel von ihnen abverlangt, Verantwortung, Schuldeingeständnis, eine Art Wiederaufbau zerstörter Gräber, dass sie lieber flüchten, in eine „Zukunft“, die ihnen die Stadtverwaltung vor die Füße wirft, damit sie sich zerstreuen, sich amüsieren, freudig tanzen – auf den Knochen derer, die sie aus ihrem Blickfeld schieben, weil diese ihr glatt poliertes, steriles Zukunftsbild nur besudeln. Es ist ihre Überlebensstrategie.
Der Tanz übers Drahtseil
Sie versuchen, sich anzupassen, sich irgendwie durchzuwinden durch die repressiven Gesetze, keinen Ärger zu haben mit dem Chef, der Schuldirektorin, den Nachbar*innen. Sie sind still, weil sie nie wissen, wer neben ihnen steht und zuhört und sie vielleicht denunziert. Sie sind wie Seiltänzer*innen, die über glühende Drähte laufen, unter sich den Abgrund.
Also träumen sie sich weg, leugnen, richten sich in Widersprüchen ein und schlafen so ruhiger. Jede/r erfindet sich neu, jede/r auf die eigene Weise, es geht nicht anders, das Alte ist weg und doch halten sich viele am Alten fest. „Es wird doch alles gut werden. Wird alles gut“, wiederholen sie und bestärken sich immer wieder damit. Was aber ist „gut“?
Wer denkt, fragt, zweifelt, der zerschellt am Abgrund, weint, verzweifelt, zieht sich in die innere Emigration zurück oder verlässt das Land. Alle kennen solche Menschen. Viele blenden sie aus. Sagen, dass ihr Land sich reinige „von diesen Liberalen“, sagen, das Leben müsse weitergehen. Und das Leben geht weiter. Voller Gewalt und Erniedrigungen und dem Druck, zu überleben. Da bleiben wenig Ressourcen, um anzuerkennen, dass der eigene Staat, von dem sie trotz allem ja Teil bleiben wollen, ein verbrecherischer ist.
Diese Erkenntnis tut so weh, dass der Schmerz nicht zu ertragen ist. So halten sie zum Aggressor – aus Selbstschutz, aus Angst vor Vorwürfen, aus Angst vor Verlust – und klammern das wichtigste, das lauteste, das leidvollste Thema aus, das sie umgibt, bis letztlich nur noch Sprachlosigkeit übrig bleibt. Nur noch Distanz.
Ein Kontrast zur Vergangenheit
„Die Zukunft? Wir haben keine Zukunft“, sagt Sergei im Museon-Park, sein Sohn streichelt gerade einen Velociraptor-Roboter. „Wir haben nur die Gegenwart. Und die ist bunt und schön.“ Der Sohn lacht, zieht seinen Vater weiter. Sobald das „Jetzt“ auftaucht, das „Heute“, der Krieg, drehen sich alle weg und ziehen von dannen. Egal, ob im Museon, im Gorki-Park oder in der Manege-Halle an den Kreml-Mauern.
Hier, in der einstigen Paradehalle der zaristischen Offiziersreitschule, hat die Moskauer Stadtverwaltung alles aufgefahren, was der Moskauer Fuhrpark zu bieten hat. Fahrerlose Trams, klimatisierte Elektrobusse, hell erleuchtete Metrozüge. Kadettenschüler*innen lassen sich eine Zeit zeigen, in der sie noch nicht auf der Welt waren, ältere Herren steigen in die neuen Moskwitsch-Wagen und strahlen fürs Foto daheim, Kinder nehmen am Lenker eines Busses Platz und drehen diesen hin und her.
Die Ausstellung ist vor allem als Kontrast zu früher angelegt. Auf der einen Seite rostige Schigulis, die zwischen Pfützen auf kaputtem Asphalt parken, auf der anderen der durchgestylte „autofreie Hof“. Hier Bilder von Kindern, die sich auf quietschenden Schaukeln langweilen, dort ausgefeilte Spielplätze aus Holz. „Sehen Sie, wie toll wir alles machen. Wir brauchen keine Amerikaner, brauchen keine Migranten, wir sind wir“, sagt eine ältere Frau in einem Metrozugmodell.
Unweit davon drücken Besucher*innen auf Bildschirme und erstellen neue Metrostationen, unter Wasser, hoch auf den Bergen, sogar im Weltraum. Sie heißen Birkenrauschen, Klares Feld, Paradieswiese. „Das ist eine Haltestelle der Zukunft“, sagt hier ein Vater zu seinem Sohn.
„Und wo ist diese Zukunft?“, entgegnet ihm dieser. „Ach, Artjom, wir müssen erst die Gegenwart hinter uns bringen“, seufzt der Vater und setzt sich auf die Bank der von KI entworfenen Metrostation. Was die Gegenwart für ihn so belastend erscheinen lasse?, fragt die Reporterin. Der Mann springt sofort auf und eilt mit seinem Kind durch die Tür. Darauf steht: „Zurück ins Jetzt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ausschreitungen in Amsterdam
Ein hitziges Nachspiel
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!
Abschiebung aus dem Frauenhaus
Schutzraum nicht mehr sicher
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?