Bestandsaufnahme zur Sozialdemokratie: Transformation der SPD
Quo vadis Sozialdemokratie? Eine veränderte Welt braucht ein Umdenken und neue Definitionen. Bei der SPD sind Visionen Leerstellen.
D ie SPD, das muss man sagen, ist eine merkwürdige Partei. Ich kenne einige Leute aus dieser Partei, und sie sind fast immer sehr klug und nett. Sie wissen, so scheint mir, warum sie in der SPD sind, aber die SPD, so wirkt es oft, weiß nicht genau, warum diese netten, klugen, politisch ambitionierten Menschen dabei sind, die eigentlich mithelfen könnten zu definieren, was Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert ist.
Die Widersprüche der SPD sind dabei historisch erklärbar: Sie reichen einerseits weit zurück bis zum Beginn der Geschichte der Partei im vorletzten Jahrhundert und zum Wesen der Industrialisierung, zum Verhältnis von Arbeit und Kapital, zu den Kämpfen also, die in einer wachstumsorientierten kapitalistischen Wirtschaft notwendig waren. Erst wurde soziale Gleichheit und dann sozialer Aufstieg erkämpft – aber im gegenwärtigen System funktioniert beides nicht mehr.
Anders gefragt: Was bleibt vom sozialdemokratischen Projekt, wenn Wachstum im Angesicht des Klimawandels kein Versprechen mehr ist? Die andere Frage an die Sozialdemokratie von heute, die aus dem Fundus ihrer Geschichte kommt, reicht in die 1990er Jahre zurück: Es waren Sozialdemokraten: Bill Clinton, Tony Blair, in Deutschland Gerhard Schröder, die damals Schritt für Schritt neoliberale Positionen umgesetzt haben und damit die Revolution von Margaret Thatcher und Ronald Reagan erst vollendeten.
Manches davon war notwendig, vieles davon hat nicht nur das Verhältnis von Staat und Markt bleibend verändert. Heute geht es darum, dieses Verhältnis neu zu justieren, gerade auch für eine SPD, die eigentlich ja eine Partei des Staates ist oder sein sollte, weil sie daran glaubt, dass der Staat eine wichtige, positive, transformatorische Rolle im Leben der Menschen spielen kann. Aber das ist es nicht, was ich von der SPD höre, wenn ich überhaupt etwas höre.
Keine Lust auf Kommunikation
Sie haben mit Olaf Scholz einen Kanzler, der keine Lust auf Kommunikation hat – der aber auch programmatisch nicht klarmacht, in welche Richtung er will und letztlich selbst ein Kind der neoliberalen Tage der 1990er Jahre ist. Was also ist etwa eine neue Rolle, eine neue Funktionsweise eines Staates, der auch das Glück oder das gelungene Leben der Menschen im Blick hat? Was für andere als materielle Maßstäbe gibt es? Und wie verhält sich das zur krassen Ungleichheit, die wächst und wächst
Das andere Großthema einer kommenden Sozialdemokratie wäre der Staat – der im Wesen, in Struktur und Denkweise noch ein wenig älter ist als die Sozialdemokratie und nach denselben mechanistischen Prinzipien funktioniert. Grob gesagt: Wo sich die SPD schwertut, im Zeitalter der Deindustrialisierung eine Arbeiterpartei ohne Arbeiter zu sein, da muss sich der Staat von den Wirkweisen des 19. Jahrhunderts befreien und sich für das 21. Jahrhundert eine neue Gestalt geben.
Es gilt dabei, sich von der Metaphorik der Maschine zu verabschieden, die den Staat symbolisierte – hin zu einem Staatsverständnis, das organischer ist, das Gedanken und Prinzipien von Systemtheorie und Komplexitätsdenken aufnimmt. Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich nur eine Beschreibung für die Art und Weise, wie wir leben: vernetzt, verbunden, verunsichert auch, tastend, experimentierend, auf die eigenen Fehler achtend, lernend, kommunizierend, offen für die Veränderung, die wir selbst treiben oder die uns treibt, so klar ist das nicht.
Wesentlich ist hier die Technologie, die wir benutzen – oder die wiederum uns benutzt, auch das ist nicht so klar. Die digitalen Werkzeuge, Smartphone, Internet und künstliche Intelligenz, verändern unser Selbstverständnis, sie sollten auch das Selbstverständnis des Staates verändern.
Ein starker Staat für soziale Gerechtigkeit
Es wäre für die SPD eine große Chance und gleichzeitig auch eine grüne Industriepolitik, die mit klaren Worten die Vision eines anderen Landes beschreibt, das Wachstum anders definiert – diese Staatspartei zu sein, die versteht, warum die Bürger:innen einen starken Staat brauchen. Und das allerdings nicht in dem Sinn, in dem Konservative oder schlimmer von einem starken Staat reden und Repression oder Kontrolle meinen.
Ein starker Staat der Sozialdemokratie wäre einer, der soziale Gerechtigkeit, Inklusion und letztlich das gute Leben für möglichst viele und am besten alle ermöglicht. Warum das so schwierig ist? Es scheint, auch biografisch, schwer zu sein für die SPD, sich in diesen neuen Zeiten zurechtzufinden. Mehr als andere Parteien haben die Sozialdemokraten ein Traditionsproblem, vor allem, weil diese Tradition eher wie Ballast wirkt.
Die CDU hat sich politisch entkernt, so scheint es, manche sehen sie auf dem Weg zu einer rechtsfundamentalistischen Tea Party – das ist inhaltlich kein gutes Beispiel für eine SPD, die sich ja politisch erneuern kann, ohne sich inhaltlich zu verraten. Es zeigt aber, dass andere Parteien in diesem Transformationsprozess stecken. In anderen europäischen Ländern ist die Sozialdemokratie zwischenzeitlich nahezu gegen null geschrumpft, um dann anders und erneuert wieder aufzutauchen.
Das wäre auch ein Weg für die SPD, die seit viel zu langer Zeit am Tropf einer ausgezehrten Parteiendemokratie zu hängen scheint, eher durch Zufuhr von Kunstblut am Leben erhalten als durch eigene Ideen, Energie und eigene Politikvorstellungen. Und auch als Kanzlerpartei wird man nach diesen vier Jahren nicht sagen können, was ihr Projekt war, was blieb, wofür sie stand.
Das wird zum Schaden des ganzen Landes gewesen sein, denn es ist oft die Aufgabe der Sozialdemokratie gewesen, die notwendigen Reformen voranzutreiben, bei allen Schmerzen, auch intern. Aber eine Partei ohne Projekt schafft das nicht, trotz all der guten Menschen, die sich hier versammeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen