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Drama „Sie kam aus Mariupol“ in MünchenGeschichte einer Ostarbeiterin

Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov inszeniert an den Kammerspielen München das Stück „Sie kam aus Mariupol“. Es geht um Trauma.

Das Bühnensetting von „Sie kam aus Mariupol“ ist markant-reduziert Foto: Maurice Korbel

„Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe“, lautet ein stetig wiederkehrender Satz aus dem Mund der Mutter, der sich im Stück „Sie kam aus Mariupol“ des ukrainischen Regisseurs Stas Zhyrkov, unerbittlich ins kindliche Bewusstsein der Protagonistin und Ich-Erzählerin frisst. Er frisst sich im Laufe des Premierenabends des Stücks an den Münchner Kammerspielen gleichwohl ins Publikumsbewusstsein, mitsamt ein paar anderen in Erinnerung bleibenden Sätzen aus der literarischen Vorlage von Natascha Wodin, die mit ihrem autofiktionalen „Lebensbuch“ wie es die Autorin selbst bezeichnet, im Jahr 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.

Das Buch der Schriftstellerin handelte vom Suizid der Mutter, der sich ereignete, als Wodin 10 Jahre alte war, und von den Recherchen der Autorin, die sich spät im Leben auf die Spur der ukrainischen Familie ihrer Mutter macht, die während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiterin in Nazideutschland eingesetzt wurde. Das Werk ist sowohl eine persönliche Spurensuche als auch eine historische Aufarbeitung der Schicksale von Millionen osteuropäischen Zwangsarbeitern.

Für Regisseur Stas Zhyrkov, der nach einer Fassung von Pavlo Arie für die Bühnenadaption des Stoffs sorgt, erzählt „Sie kam aus Mariupol“ mit seinem Schwerpunkt der Erzählung in der Ukraine somit mehr über Deutschland als über das Herkunftsland der Mutter der Erzählerin. Die Kälte, die verdammte Lieblosigkeit, die Gleichgültigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit ihrer anhaltenden Verweigerung, das Leid der ukrainischen Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen in seinem vollen Ausmaß anzuerkennen, all das ist Inhalt seines Erzähltheaterabends.

Zwangsarbeit, Entwurzelung und Migration

Die Innerlichkeit der Romanvorlage, die neben den Themen Zwangsarbeit und Kriegstrauma die Komplexe Familiengeschichte und Identität, Entwurzelung und Migration, sowjetische Diktatur und politische Verfolgung sowie Trauma und Schweigen verhandelt, übersetzt Stas Zhyrkov in ein markant-reduziertes Bühnensetting. Lediglich ein mit Gaze überzogenes Gerüsthaus und der Autorinnenschreibtisch dominieren die Szenerie. Ein visuell schlüssiges Konzept, wie sich zeigen wird.

Auf den halbtransparenten Wänden des Hauses finden sich Projektionen – Familienfotos und Kritzeleien, Anmerkungen des Ahnenforschungsprojekts der Erzählerin. Aus dem Inneren des Hauses, das die Besetzung des Abends – die Schau­spie­le­r:in­nen Johanna Eiworth, Annika Neugart, Konstantin Schumann und Michaela Steiger – fortlaufend betritt und verlässt, klingen Bruchstücke einer zerhackten Sprache, Personen im Haus erstarren mitunter.

Das Gespenstische der Erinnerung überlagert in der Bühnenadaption von „Sie kam aus Mariupol“ das Geschehen der Gegenwart, die zerstückelten Laute übertönen das Sprechen draußen.

Es bräuchte einen zweiten Kopf

Die Unfähigkeit, individuellen Sinn aus der zermalmenden Kraft der Geschichte zu gewinnen, dominiert in Zhyrkovs atmosphärisch dichter Bearbeitung, die mitunter penibel nah an der literarischen Vorlage inszeniert ist. Darstellungen des detektivischen Unterfangens, den verzweigten Stammbaum der Ich-Erzählerin zu fassen zu kriegen, sind schon im Roman auch bei genauer Konzentration nur schwer zu überblicken.

Treffend notiert die Autorin, dass sie im Grunde einen zweiten Kopf bräuchte, um all das zu verstehen. In dichten, runtergeratterten Wortwechseln auf der Bühne verlieren Zu­schaue­r:in­nen hier leider vollends den Überblick.

Die eine oder andere dramaturgische Freiheit in dieser Hinsicht hätte dem Stück gutgetan. Johanna Eiworth und Annika Neugart verkörpern das gegenwärtige wie kindliche Ich der Erzählerin Wodin. „Die Angst um sie“ wie die „Angst vor ihr“ prägen Bewusstsein und Verhalten der Protagonistin nachhaltig und für Zu­schaue­r:in­nen in beklemmender Weise – in diesen Momenten ist Zhyrkovs Stück erzählerisch und darstellerisch bei sich.

Schrecklich konkrete Details

Die Mutter hat ihren Suizid mehrfach angekündigt, gar die Methode, „Ich werde ins Wasser gehen“, ließ sie die Tochter immer wieder wissen, was nicht die emotionale Wucht mindert, mit der die schrecklich konkreten Details – der zusammengefaltete Mantel der Selbstmörderin, das schwarze Wasser des Flusses Pegnitz – von denen Annika Neugart im bewegenden Schlussmonolog berichtet, auch das Publikum treffen.

Trotz der schwermütigen, dramatischen Handlung findet Stas Zhyrkov mit seinem Stück auch zu einem Ton der Hoffnung. Natascha Wodins lebenskluges wie empathisches Buch liefert hierzu die Vorlage. „Sie kam aus Mariupol“ ist auch in der Bühnenadaption zu keinem Zeitpunkt eine Abrechnung mit der Mutter, sondern offenbart einen liebevollen Blick auf das nicht verstehbare Handeln einer, die im Leben nur Lieblosigkeit erfuhr.

Es ist die Geschichte einer jener „Ostarbeiterinnen“ unter so vielen, deren Leid zwar als historischer Gegenstand erforscht sein mag, emotional verstanden wurde das Ausmaß des Leides dieser Menschen in Deutschland jedoch bisher nicht. Stas Zhyrkov Inszenierung bietet für dieses Verstehen einen Schlüssel.

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