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Berlin aus dem TaktJeden Tag ein bisschen schlechter

Ob Schulessen, ÖPNV oder Behördengänge – es läuft einfach nicht in der Hauptstadt. CDU-Senatschef Kai Wegner hatte mal das Gegenteil versprochen.

Fahrtanzeige des Grauens – inzwischen Alltag in Berlin Foto: Peter Meißner/imago

Berlin taz | Ein typischer Wochentag in Berlin unter Schwarz-Rot: Aylin Yılmaz steht noch früher auf als sonst. Sie muss ihrer 10-jährigen Tochter Schulbrote schmieren und Gemüsehäppchen zubereiten, damit die in der Mittagspause etwas zu essen hat. Denn das Schulessen wird seit zwei Wochen nicht geliefert – dem Chaos rund um den Caterer 40 Seconds sei Dank.

Der hatte sich wegen der nicht ganz so pfiffigen Vergabepraxis völlig übernommen und musste plötzlich 40.000 statt wie bisher 5.000 Mittagessen liefern – was er natürlich nicht konnte.

Aylin Yılmaz gibt es in Wirklichkeit nicht. Sie könnte auch Susanne heißen oder Karl. So oder so muss unsere fiktive Mutter schnell los, um nach dem Schulbroteschmieren ihren 3-jährigen Sohn in die Kita zu bringen. Ihr Partner kann das heute nicht übernehmen, er musste für einen kranken Kol­le­gen einspringen – Bus­fah­re­r*in­nen sind derzeit in Berlin Mangelware.

Am U-Bahnhof Eberswalder Straße angekommen wundert sich Yılmaz: Eben stand die Anzeige noch bei 4 Minuten. Plötzlich verschwindet der Eintrag und ein neuer erscheint: 12 Minuten. Nach einer halben Stunde ist die hoffnungslos überfüllte U2 endlich da und Yılmaz ist gestresst: Sie weiß, sie kommt zu spät.

BVG-Takt – völlig losgelöst

Wie andere Linien ist auch die U2 vollkommen aus dem Takt. Das Grundproblem ist lange bekannt: Der Fuhrpark ist überaltert und störanfällig. Bestellte neue Züge kommen nicht vor 2025 – und selbst das halten Ex­per­t*in­nen für Augenwischerei.

Inzwischen melden sich zudem die Fah­re­r*in­nen reihenweise krank. Allein am Sonntag sollen fast 60 U-Bahnen personalbedingt ausgefallen sein. Seit Dienstag habe sich die Situation aber „erkennbar entspannt“, teilt die BVG am Mittwoch auf taz-Anfrage mit. Wo auch immer das erkennbar ist.

Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) nahm es im Juli noch locker. „Ich glaube, da müssen wir eine andere Haltung bekommen. In anderen Städten fährt die U-Bahn alle 10, alle 15 Minuten“, sagte sie zu den schon im Sommer allgegenwärtigen Klagen über Verspätungen. Das kam nicht so gut an. Mittlerweile wirbt Bonde um Verständnis und würdigt „das große Bemühen aller Beteiligten, ein weitgehend verlässliches Angebot wiederherzustellen“.

Nächster Kita-Streik kommt bestimmt

Aylin Yılmaz hilft das wenig. In der Kita ihres Sohnes folgt der nächste Schock: Ab Montag treten die Er­zie­he­r*in­nen möglicherweise in einen unbefristeten Streik, erzählt eine andere Mutter. Yılmaz schaltet sofort in den Krisenmodus: Wie kann sie in der nächsten Woche die Kinderbetreuung organisieren? Schließlich muss sie ja auch noch Geld verdienen.

Sie ist schon geübt in kurzfristiger Notfallbetreuung, allein in diesem Jahr ist die Kita schon 24 Mal ausgefallen. Weniger wegen Streiks, sondern meistens, weil die Er­zie­he­r*in­nen krank waren. Sie verkraften die Belastung einfach nicht mehr. Auch Yılmaz’ Stresslevel liegt bei 180 – dabei ist es erst 7.30 Uhr morgens.

Doch es nützt nichts, sie muss weiter, ihre Tochter in die Schule bringen. Und anschließend zum Bürgeramt an der Schlesischen Straße in Kreuzberg, wo sie einen der begehrten Termine ergattert hat. Sechs Wochen hat sie darauf gewartet. Yılmaz muss dringend einen Kinderreisepass beantragen, bald sind Herbstferien.

Und wenn sie schon mal da ist, kann sie auch gleich einen neuen Wohngeldantrag stellen. Dafür ist sie eigentlich zu spät dran, Ende des Jahres läuft ihr Wohngeld aus und die durchschnittliche Bearbeitungszeit in Kreuzberg liegt derzeit bei mehr als sechs Monaten. Mit sechs Wochen Wartezeit auf einen Termin liegt Yılmaz genau im Durchschnitt.

Hauptsache, irgendein Bürgeramtstermin

Vom erklärten Ziel, dass Ber­li­ne­r*in­nen innerhalb von 14 Tagen einen Termin beim Bürgeramt bekommen, will der Senat nichts mehr wissen. Jüngst erklärte Senatschef Kai Wegner (CDU), er werde und könne kein Datum für die Umsetzung seines Wahlversprechens nennen. Und überhaupt: „Ich glaube, dass für viele Berlinerinnen und Berliner dieses 14-Tage-Ziel ehrlicherweise gar nicht so wichtig ist.“ Stattdessen gehe es darum, „schnell einen Termin“ zu bekommen, „wenn es notwendig ist“. Das hat bei Aylin Yılmaz schon mal nicht funktioniert.

Auf dem Weg zum Bürgeramt steigt sie im U-Bahnhof Schlesischen Tor über einen offenbar zugedröhnten Mann, der auf der Treppe liegt. Ein anderer Mann bettelt sie an. Anderen geht es noch schlechter als mir, versucht sich Yılmaz die desolate Lage schönzureden und gibt ihm 50 Cent. Für die vielen Drogenabhängigen und Obdachlosen in der Stadt interessiert sich der Senat merklich auch nicht so richtig. Wirklich besser geht es Yılmaz damit nicht.

Um das Schlesische Tor herum stapelt sich Sperrmüll. Baucontainer werden genutzt, um eigenen haushaltsüblichen – und unüblichen – Schrott dazuzuwerfen. Vorbildliche Par­ty­gän­ge­r*in­nen haben ihre Flaschen neben die vollen Mülltonnen gestellt. Die Flaschen der nicht so Vorbildlichen liegen zerbrochen auf dem Gehweg.

Dabei hatten SPD und CDU in ihrem Koalitionsvertrag eine „Sauberkeitsoffensive“ angekündigt, „um die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum“ zu erhöhen. Zwar wurden für die Reinigung von Straßen, Plätzen und Grünflächen im Haushalt 2024/25 fast 50 Millionen Euro zusätzlich eingeplant. Auch stieg die Zahl der von der BSR gesäuberten Parks im Sommer von zuletzt rund 80 auf 102. Mit den Straßen kommt das Unternehmen offenkundig aber nicht mehr hinterher – zumindest nicht in Kreuzberg.

„Mit harter Arbeit und guten Ideen“

Die Stadt scheint zunehmend vor die Hunde zu gehen, denkt sich Yılmaz, als sie am defekten Fotoautomaten vorbeigeht. Dabei hatte die CDU doch versprochen, die Stadt sauberer und funktionsfähiger zu machen. „Wir wollen mit harter Arbeit und guten Ideen dafür sorgen, dass Berlin jeden Tag ein bisschen besser funktioniert“, hatte Kai Wegner getönt. Deswegen hat Yılmaz 2023 auch CDU gewählt.

Stattdessen wird es jeden Tag gefühlt ein bisschen schlimmer. Doch Yılmaz hat keine Zeit, darüber nachzudenken: Ihre Nummer wird aufgerufen. Sie hat noch 20 Minuten, bis sie zu ihrem Job als Pflegerin in der Charité muss. Dann fängt der Stress eigentlich erst richtig an.

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9 Kommentare

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  • Da kennt wohl jemand nicht den Unterschied zwischen VersprecheN und VersprecheR. Soll ja vorkommen.

  • Ach, ich dachte immer, gerade die Dysfunktionalität, das Laissez-faire und die Verlottertheit machten Berlin zu Berlin, "Berlin bleibt dreckig" und so.

    Wer sich nicht darüber ärgern kann, sondern es im Gegenteil für Großstadtflair und Urbanität hält, wenn selbst in guten Wohnlagen Matratzen "verschenkt", Parks aussehen wie Müllhalden und alle Oberflächen mit Tags "verziert" werden, der möge doch bitte auch bei einem maroden ÖPNV nachsichtig sein, bzw. ihn als cooles Lokalkolorit abfeiern.

  • Als ich vor der letzten Abgeordnetenhauswahl für meine Töchter einen Mehrfachtermin beim Bürgeramt brauchte, war es hoffnungslos.

    Man musste wochenlang morgens surfen, um überhaupt einen Termin zu bekommen.

    Da die Termine aber in Sekunden weg waren, waren Mehrfachtermine eine Utopie.

    Also bin ich morgens persönlich zu meinem Bürgeramt und habe dem Securitymenschen mit einer gewissen Verve erklärt, wenn ich keinen Termin bekomme, würde ich mich mit meinen Töchtern mit Fahrradschlössern festketten und natürlich vorher die Presse informieren, damit eine gewisse Öffentlichkeit gewährleistet ist.

    Das zog.

    Ich habe den Vierfachtermin bekommen.

    Ich spreche nicht davon, sofort ranzukommen.

    Es ging um Termine in 6 Wochen.

    Meine Töchter waren beeindruckt und haben dabei gelernt, dass in einer links regierten Stadt Ellbogen sehr wichtig sind.

    Vor uns baten vier andere Menschen um einen Termin. Alle ließen sich von dem Security-Mann abwimmeln.

    Heute gibt es Nottermine und einen Ansprechpartner für Mehrfachtermine. Einen normalen Termin in 6 Wochen bekommt man ohne extreme Probleme.

    Sorry, es ist jetzt besser als vorher.

  • Nach 20 Jahren Giffey, Müller, Wowereit soll Wagner innerhalb von einem Jahr alles verbessern? Genau mein Humor

    • @Ahnungsloser:

      Seit Wegner übernommen hat, versinkt Berlin im Chaos.



      Massenhafte Straßensperrungen wie noch nie, BVG ist völlig im Eimer, Wohnungseigentümer drehen völlig frei und nehmen die Mieter aus wie Schlachtvieh.

      Niemand hat damit gerechnet, dass er irgendwas verbessert, aber wie sehr er die Stadt in nur einem Jahr gegen die Wand gefahren hat, ist schon bemerkenswert.

      • @TeeTS:

        Nachtrag: Hat er auch die Landeseigenen Wohnungen verkauft? Da war doch mal was in Berlin.

      • @TeeTS:

        Aus dem Artikel:

        "Um das Schlesische Tor herum stapelt sich Sperrmüll. Baucontainer werden genutzt, um eigenen haushaltsüblichen – und unüblichen – Schrott dazuzuwerfen."

        Das hat mit dem Senat nichts zu tun, sondern mit dem Bezirk. Und wer regiert Kreuzberg seit gefühlt 50 Jahren?

        "Vorbildliche Par­ty­gän­ge­r*in­nen haben ihre Flaschen neben die vollen Mülltonnen gestellt. Die Flaschen der nicht so Vorbildlichen liegen zerbrochen auf dem Gehweg."

        Und wer hat jahrzehntelang das Ausbleiben jeder Konsequenz für alles mögliche unsoziale Verhalten als großstadttypisch und das Verlangen nach einem Mindestmaß an Sauberkeit und Respekt als provinziell verunglimpft?

        "Repression [gemeint war die Anwendung von Gesetzen] passt nicht zu Friedrichshain-Kreuzberg" - was meinen Sie, welcher Partei die Bezirksbürgermeisterin, die das sagte, angehört?

      • @TeeTS:

        Ich lebe nicht in Berlin. Aber wenn er es wirklich geschafft hat, aus einer florierenden Stadt innerhalb von nur einem Jahr so eine Failed City zu machen, ist das wirklich traurig. Ich wusste nicht, dass es bis 2023 keine Wohnungsprobleme gegeben hat, und dass die BVG bis dahin top funktionierte. Vor allem, weil doch der derzeitige Vorstand bereits seit einigen Jahren tätig ist, und Frau Giffey dem AR vorsteht.



        Der Herr Wagner scheint viel Macht zu haben

        • @Ahnungsloser:

          Es ist der aktuelle Senat, der mit massiven Budgetkürzungen die Probleme der BVG stark verschärft und eine Lösung unmöglich gemacht hat.

          Es ist die CDU, die den Mietendeckel durch das (CDU-geführte) Bundesverfassungsgericht einkassiert hat aufgrund von angeblichen Zuständigkeitsfragen (nicht, weil es inhaltlich etwas anzumerken gab).

          Von daher: Ja! Die CDU und Wegner sind für die meisten Probleme Berlins derzeit direkt oder indirekt verantwortlich.