Menschliche Denkfalle: Darf’s ein bisschen weniger sein?
Stützräder, Ampeln, Kisten für noch mehr Zeug – um Probleme zu lösen, fügen wir Situationen intuitiv Dinge hinzu. Weglassen wäre aber oft hilfreicher.
W ie optimiert man eine Kreuzung, die selbst im fahrradfreundlichen Holland alle Radfahrenden hassen? Amsterdamer Städteplanenden steht dafür ein breiteres Repertoire zur Verfügung als manch anderen. Sie könnten mit Pollern oder Verkehrshügeln arbeiten, Ampelschaltungen optimieren oder Radwartezonen vergrößern. Am Alexanderplein entschieden sie sich jedoch anders – sie schalteten die Ampeln aus. Mit überraschendem Erfolg: Der Verkehrsfluss verbesserte sich prompt und die Radelnden berichteten jetzt auffällig viel Gutes. Vorhergesagt hätten das wenige. Noch Wochen vorher hatten die befragten Fahrenden nie über eine Abschaltung nachgedacht. Warum sperrt sich unsere Vorstellungskraft gegen das Weglassen?
Die Wissenschaft ist einer neuen Denkfalle auf der Spur. Sie nennt sich „Additive Bias“ alias die menschliche Tendenz, Probleme eher dadurch zu lösen, dass man etwas hinzufügt statt etwas wegzunehmen. Dass es sich dabei um ein systematisches Problem handelt, zeigen Forschende der University of Virginia im Fachblatt Nature. Dafür konfrontierten sie mehr als 1.000 Versuchspersonen aus Deutschland, Japan und vor allem den USA mit verschiedensten Problemlösungsaufgaben.
Manche der Teilnehmenden sollten Legofiguren stabilisieren, andere die Farbkästchen eines Rasters zu symmetrischen Bildern arrangieren. Wieder andere erhielten die praktischen Aufgaben, Essays zu editieren oder Reisepläne zu verbessern. Über all diese Knobelaufgaben und Personen hinweg zeigte sich ein Muster: Die Testpersonen lösten ihre Aufgaben lieber, indem sie Bausteine, Farbkästchen oder Reisestopps hinzufügten, statt welche zu streichen. Und zwar selbst dann, wenn Wegnehmen effizienter war oder die Forschenden probiert hatten, ihnen in der Versuchsanweisung Wörter wie „Einsparung“ in den Kopf zu setzen. Auch als die Forschenden in Uni-Dokumenten hundert echte Verbesserungsvorschläge für den Campus auswerteten, fanden sie vor allem Ergänzungen.
In unserem Alltag könnte derselbe Additive Bias schuld daran sein, dass wir das Chaos in unserer Wohnung ungern durch Ausmisten bekämpfen, sondern lieber durch neue Boxen. Oder dass wir Kindern jahrelang Stützräder an ihre wackeligen Fahrräder montiert haben, bis die Erfinder des Laufrads auf die Idee kamen, die sperrigen Pedale stattdessen einfach abzuschrauben. Selbst Sprachprogramme wie ChatGPT verbessern Texte lieber, indem sie ein paar extra Sätze anhängen.
Zu den potenziellen Folgen der additiven Verzerrung gehören neben Bandwurmtexten und komplizierten Straßenkreuzungen auch Überregulation oder überladene Geräte. Tech-Unternehmen statten ihre Software so häufig mit unnützen Zusatzfunktionen aus, dass es für die anschließende Frustration der Nutzer*innen sogar ein Wort gibt: „Feature Fatigue“. Die stellt sich momentan vor allem nach den hektischen Versuchen ein, jede Anwendung mit künstlicher Intelligenz auszustatten. Doch selbst wenn diese KIs viel Energie kosten und – wie zuletzt bei Google – unsinnige Antworten geben, kommt Abschalten für die Funktionen scheinbar nie infrage.
Was ist ein Bias?
Unsere Wahrnehmung deckt sich nicht immer mit der Realität und unser Handeln nicht immer mit Logik. Auch wenn natürlich alles Denken subjektiv ist, lassen sich dabei Muster erkennen. Die israelischen Forscher Amos Tversky und Daniel Kahneman prägten für diese kognitiven Verzerrungen in den 1970er Jahren den Begriff „Biases“.
Wo treten Biases auf?
Seit der Wortschöpfung ist es Forschenden gelungen, eine ganze Reihe davon zu identifizieren. Heute wissen wir zum Beispiel, dass Menschen sich an schlimme Ereignisse besonders detailliert erinnern. Mit zunehmendem Alter denken sie in der Rückschau aber mehr an schöne Erlebnisse. Wir wissen, dass wir uns in unseren Vorlieben stark an anderen orientieren, aber im Zweifel auch unsere Vorlieben auf andere projizieren. Dass wir Informationen als glaubwürdiger einschätzen, wenn wir sie oft hören oder sie unsere Meinung bestätigen. Und dass uns Handeln immer ein bisschen mehr Angst macht, als nichts zu tun.
Ist das ein Problem?
Wenn unser Gehirn in solche Denkfallen stolpert, ist das vor allem ein Versuch, sich durch eine sehr komplexe Welt zu navigieren. Das heißt, viele Biases sind zunächst mal der Notwendigkeit des täglichen Lebens geschuldet. Es ist nützlich, Negatives stärker wahrzunehmen, weil es für uns tendenziell riskanter ist, Gefahren zu übersehen als Erdbeertörtchen. Gleichzeitig lässt uns der Negativitätsbias Chancen, Auswege und Unterstützung übersehen. Auch von uns auf andere zu schließen kann uns in vielen Fällen helfen, den anderen zu verstehen. Gleichzeitig sorgt der Egozentrische Bias zum Beispiel dafür, dass autofahrende Ladenbesitzer den Autoanteil ihrer Kundschaft weit überschätzen.
Einige Forschende unterscheiden auch zwischen „heißen“, motivationsgetriebenen Biases, bei denen wir aktiv Informationen in unser Weltbild hinein verdrehen, und „kalten“, verarbeitungstechnischen Biases, bei denen unser Gehirn einfach versucht, aus einem Wust an Informationen die relevanten herauszufiltern.
Was heißt das für Gruppen?
Auch Gruppendenken, das uns im Extremen zu Konformismus, Ausgrenzung und Radikalisierung verleitet, hat seine Wurzeln wahrscheinlich in den Anforderungen an eine soziale Gemeinschaft. Wenn unser Überleben von einer Gruppe abhängig ist, ist das sinnvollste Verhalten oft das sozial akzeptierte und nicht unbedingt das scheinbar logischste. Je nach Situation und Intensität können Biases also teilweise großen Schaden anrichten oder uns manchmal sogar helfen.
Haben wir das alle?
Grundsätzlich lassen sich Biases bei allen Menschen finden. Genau genommen gilt der Glaube, von keinerlei Bias betroffen zu sein, selbst als Bias. Nämlich als „Objektivitätsillusion“. Es scheint nicht mal so, dass manche Menschen besonders gut vor Denkfallen gefeit sind.
Ausgezeichnete kognitive Fähigkeiten schützen uns zum Beispiel nicht davor, zu lange an schlechten Entscheidungen festzuhalten. Fragen Sie nur diverse Doktorand*innen. Stattdessen unterscheiden sich Individuen scheinbar stark in ihrer Anfälligkeit für spezifische Biases. Während eine Versuchsperson ihr Verhalten in der Rückschau immer wieder übermäßig kritisch bewertet, überschätzt eine andere vielleicht grundsätzlich ihren Einfluss.
Neben Persönlichkeitsfaktoren kann dabei auch unser Umfeld die Tendenz zu bestimmten Denkmustern bestärken. So tendieren homogene Gruppen zum Beispiel eher zum Gruppendenken. Und Polizist*innen sind besonders anfällig dafür, zweideutige Informationen als Schuldhinweise zu interpretieren.
Lässt sich das ändern?
Der erste Schritt gegen die eigenen Biases ist es, sie sich bewusst zu machen. Danach lassen sich Strategien implementieren, um sie zu vermeiden. Gegen das Gruppendenken kann es beispielsweise helfen, wenn man zuerst die Meinungen von neuen Teammitgliedern einholt oder vorher einige Personen benennt, die in Diskussionen grundsätzlich die Gegenposition einnehmen. Um Fehleinschätzungen zu vermeiden hilft es, Annahmen zu überprüfen und ins Gegenteil zu verkehren. Im Falle der Polizist*innen schwächte sich der Bias beispielsweise ab, wenn die Ermittelnden ein Szenario entwickeln mussten, in dem die Verdächtigten bei gleicher Beweislast unschuldig wären.
Abgesehen von solchen prozessorientierten Lösungen lassen sich auch Umgebungen schaffen, in denen Biases allgemein seltener auftreten. Neben diversen Blickwinkeln und offener Diskussion spielen hier die Faktoren Zeit und Druck eine wichtige Rolle.
Der Negativitätsbias verschärft sich zum Beispiel, wenn wir chronisch gestresst sind. Dagegen fallen Menschen seltener auf Denkfallen rein, wenn sie Zeit zum Nachdenken haben, wenn ihnen ein Thema am Herzen liegt oder sie sich vorher dazu einlesen. Manchmal reichen zum Innehalten schon eine trocken-technische Aufbereitung und der Hinweis, dass es komplex ist. Im Idealfall brauchen wir für gute Entscheidungen also Herzblut, Recherche und die Freiheit, Annahmen zu hinterfragen.
Ein Grund dafür, dass Menschen lieber additive Lösungen wählen, könnte sein, dass uns Subtraktion schon kognitiv schwerfällt. Viele Kinder lernen sie langsamer als das Plus-Rechnen. Ein anderer möglicher Grund könnte sein, dass man zum Weglassen den Bestand genauer kennen muss. Selbst auf emotionaler Ebene scheinen Versuchspersonen Ergänzungen grundsätzlich positiver wahrzunehmen. In einer Studie zu unbewussten Assoziationen verbanden sie Synonyme für „Hinzufügen“ weitaus eher mit positiven Wörtern als die fürs Wegnehmen.
Auch wenn die Forschung zur Additiven Verzerrung noch sehr jung ist, passt sie zur Forschung zu anderen Biases, die zeigen, wie ungern Menschen am Bestand rütteln. Wir gewichten etwa potenzielle Verluste weitaus stärker als Gewinne und verzichten aus Angst um kleine Summen oft auf gute Chancen auf größere. Auch Zeit und Geld, die wir in Fehlschläge investiert haben, geben wir ungern auf. Lieber stecken wir noch mehr Ressourcen in eine Idee, die von Anfang an nicht besonders gut war. Darüber hinaus überschätzen Versuchspersonen oft den Wert ihres Besitzes. Einen Becher, den sie selbst für höchstens 5 Euro kaufen wollten, wollen sie danach nicht unter 8 Euro hergeben.
Neben unserem persönlichen Bestand scheinen wir auch am „Ist-Zustand“ der Welt zu hängen. Der Status-quo-Bias zeigt, dass Menschen grundsätzlich Optionen bevorzugen, bei denen alles beim Alten bleibt, und Veränderungen im Vergleich weitaus kritischer bewerten. Auch bei dieser Verzerrung soll Verlustangst eine Rolle spielen. Wie praktisch, dass uns additive Lösungen zumindest augenscheinlich oft erlauben, den Ist-Zustand, unseren Besitz und unsere Investitionen in Gänze zu behalten.
Politische Kommunikation, gerade in ökologischen Bewegungen, fokussiert sich dagegen oft genau auf das Kürzen, das so schwerfällt: Flugscham, Veganismus, Degrowth, oder „Just stop Oil!“ – das Weglassen ist oft Programm. Vielleicht sollten sich die Schlachtrufe ökologischer Bewegungen häufiger um den Ausbau von Alternativen drehen und weniger um Ausstieg und Abbau. Also: Just build Nachtzüge. Oder: Wachstum in Care-Arbeit und Wohnraum.
Es gibt einige Anzeichen, dass additive Lösungsansätze Menschen besser erreichen. Während zum Beispiel nur 33 Prozent der Amerikaner*innen für den fossilen Ausstieg sind, gibt es für das Priorisieren der Erneuerbaren mit 71 Prozent eine klare Mehrheit. Mit diesem Rückenwind hat es sogar der republikanische Ölstaat Texas geschafft, im Solarausbau mit Kalifornien zu konkurrieren.
Es gibt also gute Gründe, auf Ergänzungslösungen zu setzen. Gleichzeitig zeigt uns gerade die Wachstumsforschung, dass ökologischer Wandel mehr braucht als den Ausbau alternativer Technologien. Auch wenn Erneuerbare inzwischen erfolgreich immer größere Teile unseres wirtschaftlichen Treibens stemmen, warnt der Studienüberblick, dass Konzepte, die allein auf grünes Wachstum setzen, zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele weder schnell noch konsequent genug sind. Effektive Strategien müssen neben Ausbau auch Einsparungen vorschlagen. Wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass wir der Welt aktuell weitaus mehr Ressourcen entziehen, als sich regenerieren lassen.
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Auch im Kampf gegen das Artensterben zeigt uns die Forschung, wie wichtig es ist, hin und wieder den Bestand zu reduzieren. In der Landwirtschaft sind Freiflächen für Insekten unter Umständen genauso entscheidend wie top ökologisch bepflanzte. Und auf diesen Freiflächen sind ausgewählte Bienenblütenmischungen nicht immer hilfreicher als Brachland.
Der Mut zur Lücke wird auch immer wichtiger, wenn wir unsere Großstädte auf zunehmende Extremwetterereignisse einstellen. Neben ökologischen Neubauten braucht die Stadt der Zukunft schließlich auch Entsiegelung und Freiräume, auf denen sich kühle Luft ausbreitet und Wasser abfließt. Schaut man auf die Jahresfeinstaubkarte der Berliner Innenstadt, dann liegt das einzige Fitzelchen passabler Qualität nicht über dem baumreichen Tiergarten, sondern über dem Tempelhofer Feld. Also dort, wo bekanntermaßen weiträumig wenig rumsteht.
Überhaupt beruhen einige der größten Menschheitserfolge ja auf dem Weglassen fragwürdiger Ideen. Von Blei im Benzin über das ozonschädigende FCKW-Gas in Kühlschränken bis zu „Atomkraft? Nein danke!“. Ein guter Grund, Befürchtungen kritisch zu hinterfragen, die sich um das Weglassen drehen.
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Tatsächlich ist längst nicht jedes Einsparungspotenzial für uns persönlich schmerzhaft. Wer weiß schon, dass rund 0,7 Prozent der weltweiten Elektrizität für Bitcoins draufgehen und der Energieverbrauch einer Millionenstadt für Spam-E-Mails?
Rein funktional scheitert der Fokus auf Ausbau besonders da, wo der Ausbau selbst das Problem ist. Wie beim Braess-Paradoxon, nach dem neue Straßen in der Theorie vielleicht Fahrtzeiten reduzieren, aber in der Praxis meist mehr Autos anziehen. Genauso problematisch sind Ergänzungslösungen da, wo sie von einfacheren Optionen ablenken oder unverhältnismäßig viel (technologischen) Aufwand benötigen. Statt Emissionen einzusparen, versuchen wir lieber, die Gase später hochkompliziert aus der Luft zu ziehen – obwohl die vielversprechendsten Anlagen bislang nur den Ausstoß von ein paar hundert Autos einfangen. Zum Vergleich: Als Verkehrsauswertungen zum 9-Euro-Ticket andeuteten, dass der Verkehrsfluss nur um 3 bis 6 Prozent nachlässt, galten diese bis zu 3,6 Millionen potenziell ruhenden Fahrzeuge allgemein als nicht sehr viel.
Die Forschenden versuchten in ihren Experimenten zum Additiven Bias auch herauszufinden, wie wir die Denkfallen überwinden können. Zunächst fiel den Versuchspersonen das Eliminieren leichter, wenn sie eine Komponente ohnehin als überflüssig oder unnatürlich wahrnehmen. Auf die Frage, wie sich ein mit Schokostückchen belegtes Käsesandwich verbessern lässt, antworten die wenigsten: „Mit Sahne“. Kommunikationsstrategien können also versuchen, die Skurrilitäten im Status quo nach vorne zu stellen.
Inspiriert vom Diskurs um natürliche Ressourcen versuchten die Forschenden auch, den Verbrauch mit einem Kostenfaktor zu belegen. Doch selbst wenn jedes zusätzliche Bauklötzchen Geld kostete, stabilisierten immer noch fast zwei Drittel der Versuchspersonen ihre wackligen Legofiguren auf diese Weise. Erst nach dem deutlichen Hinweis „Steinchen rausnehmen ist kostenfrei!“ entschied sich eine ebenso große Mehrheit, einfach den störenden Stein wegzunehmen. Auch sonst half es, den Versuchspersonen diese Option sehr explizit ins Bewusstsein zu rufen. Die Bemerkung „Denk über alle Möglichkeiten nach“ brachte wenig. Der Schlüssel war der Zusatz „… über alle Möglichkeiten, die ergänzen oder wegnehmen!“. Alternativ lernten Versuchspersonen auch aus der Praxis, zum Beispiel, indem man ihnen zuerst ein Problem präsentierte, das nur durch Subtraktion lösbar ist.
Subtraktion ist also lernbar und gleichzeitig ein ziemlich blinder Fleck in unserem Denken. Umso wichtiger, dass wir uns beim Brainstormen regelmäßig erinnern, dass die Antwort nicht immer im „Mehr“ liegt. Genauso können wir mit Erfahrung und Anleitung eine kulturelle Umgebung schaffen, in der Menschen auch das Weglassen als Option einfällt. Man nehme nur die FDP, die beim Haushalt ausschließlich an Kürzung denkt – ganz egal, ob es irgendein Problem löst.
Offensichtlich kann man sich auch zu sehr auf das Weglassen fokussieren und damit in ganz neue Denkfallen stolpern. In Zukunft brauchen wir sowohl additive als auch subtraktive Werkzeuge. Und die Kreativität, je nach Situation das passende auszuwählen.
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