Phosphatabbau in Tunesien: Kämpfen gegen das schwarze Pulver
Der Phosphatabbau in Tunesien hinterlässt Spuren in der Landschaft und den Körpern. Die Revolte ist gescheitert. Doch eine Familie gibt nicht auf.
E ntlang der gewundenen Landstraßen zwischen den westtunesischen Städten Gafsa und Redeyef türmen sich gewaltige schwarze Erdhaufen. Der Kontrast zur gelben Wüste und dem kargen, spärlich bewachsenen Gebirge am Horizont könnte kaum größer sein. Immer wieder brausen mit dunklem Pulver beladene Lkws um die Kurven, bringen ihre wertvolle Fracht von den Minen der Region zu den Raffinerien. In der Luft lassen sie giftigen Staub zurück.
Phosphat zählt zu den wichtigsten Grundstoffen für Düngemittel. Auch für Elektroautos und Batterien ist das schwarze Pulver unersetzlich. In Tunesien befinden sich die viertgrößten Phosphatreserven der Welt. Doch ihr Abbau hat tiefe Spuren in der Landschaft und in den Körpern jener hinterlassen, die hier leben.
Familie Ben Hmida wohnt im Herzen der Arbeiter*innenstadt Redeyef und spricht jeden Tag über Krankheiten. Mouaid, 14 Jahre alt, sitzt zwischen seiner Mutter und seinem Vater auf einem geblümten Sofa und beobachtet, wie seine Eltern Dutzende ärztliche Rezepte aus einer Mappe nehmen und auf dem Tisch ausbreiten. Seit zwölf Jahren sammeln sie die Papiere – gern tun sie das nicht. „Sehen Sie, er braucht all diese Medikamente“, sagt die Mutter beim Durchblättern. „Hier ist eine Rechnung der Privatklinik, in die er wegen Sauerstoffmangels eingeliefert wurde.“
Mouaid ist von Phosphat umgeben aufgewachsen: Ein Steinbruch befand sich direkt gegenüber von seinem Zimmer in der früheren Wohnung der Familie, ein Phosphatlager unter freiem Himmel direkt vor den Toren seines Gymnasiums, in der Luft liegt der Staub aus den Bergwerken.
Die Abbaufirma gleicht einem Staat im Staate
Der Junge leidet an einer schweren Form von chronischem Asthma, trennt sich nie von seinem Inhalator und wechselt seit seiner Kindheit von einem Arzt zum anderen. Alle sind sich einig darüber, dass es eigentlich nur eine Lösung gibt: weggehen. „Damit es Mouaid besser geht, raten uns die Ärzte, das Bergbaugebiet zu verlassen und an die Küste zu ziehen. Aber wie sollen wir da überleben, wenn ich aufhöre zu arbeiten?“, fragt sein Vater Abdelbaset, ein lokaler Beamter aus Redeyef.
Unter den Bewohner*innen des Bergbaubeckens gibt es ein Wort, das immer wieder in Verbindung mit der Phosphatindustrie zu hören ist: Ghabra, arabisch für Staub. In diesem abseits der Tourismusrouten liegenden Tal im Südwesten Tunesiens ist es fast unmöglich, dem schwarzen Pulver zu entkommen. Es stammt von den lautstarken Explosionen, mit denen das Phosphatgestein aufgebrochen wird, von den riesigen Lagerstätten unter freiem Himmel, und es ist allgegenwärtig.
Seit den Achtzigerjahren, als begonnen wurde, die zuvor vollständig unterirdischen Minen durch Tagebaue zu ersetzen, hat die Bevölkerung der Region lernen müssen, mit dem Phosphat vor der Haustür zu leben. Phosphat machte 2023 vier Prozent des tunesischen Bruttoinlandsprodukts und 15 Prozent der Exporte des Landes aus.
Nach Beginn des Ukraine-Krieges, durch den die russischen Phosphatexporte einbrachen, ist der Weltmarktpreis für eine Tonne Phosphat auf zeitweise fast 350 US-Dollar angestiegen. Russland ist neben China einer der weltweit größten Produzenten des Minerals. Auch deshalb reiste im Juli 2023 Tunesiens autoritär regierender Präsident Kais Saïed ins Bergbaubecken und kündigte an, die Produktion mit voller Kapazität fortführen zu wollen. Dass die Bevölkerung hier seit fast zwei Jahrzehnten dagegen rebelliert, ignorierte er.
„Das Besondere an dieser Region ist, dass die Phosphatschichten flach und horizontal verlaufen. Wir sprengen sie mit Dynamit auf und bauen dann das Erz ab“, erklärt ein Ingenieur der in der Region allgegenwärtigen Compagnie des Phosphates de Gafsa (CPG). Er will anonym bleiben. Die „Compagnie“ – wie die Staatsfirma von Menschen der Region meist nur genannt wird – stammt aus der Zeit des französischen Protektorats und ist zum Staat im Staate mutiert.
Die CPG kümmert sich um Personentransport, Abfallentsorgung und andere Dienstleistungen. Ihr Logo – ein blaues, aus den drei Anfangsbuchstaben des Unternehmens geformtes Dreieck – würden viele hier gerne loswerden. Aber in jeder Familie arbeiten ein Vater, ein Bruder, ein Onkel oder ein Sohn für die Firma. Die CPG wird mit Verwüstung gleichgesetzt, aber ist auch ein Synonym für Arbeit.
„Wenn ich auf der Terrasse einen Kaffee trinke, liegt immer eine dünne Staubschicht darauf“, erzählt Taoufik Aïd, der seit Jahren gegen die CPG kämpft. Aïd lebt mittlerweile in der Stadt Moulares, eine halbe Autostunde entfernt von Redeyef.
Beide Städte wurden zur Zeit der ersten Phosphaterkundungen gegründet, um Minenarbeiter*innen und ihre Familien unterzubringen. Die Kinder dieser Phosphatbergleute kenne Aïd alle, sagt er. Er selbst ist Sohn eines ehemaligen Bergwerkarbeiters, der in den 1950ern in das Minenbecken zog, um unter der Erde Tunnel zu graben.
Aïd arbeitete sein Leben lang als Lehrer und später als Leiter einer Grundschule in der Region. Heute ist er im Ruhestand, aber noch immer Mitglied des lokalen Netzwerks für Transparenz in der Energie- und Bergbauindustrie. Er hat miterlebt, wie sich die Gesellschaft im Minenbecken im Laufe der Jahrzehnte verändert hat. „Die Städte sind nun zweigeteilt in diejenigen Menschen, die bei der CPG angestellt sind, und diejenigen, die arbeitslos waren und von der Umweltgesellschaft eingestellt wurden, aber weiterhin inaktiv sind und nicht arbeiten“, sagt er.
Die sogenannte Umweltgesellschaft wurde auf Weisung von Tunesiens Ex-Diktator Zine el-Abidine Ben Ali nach den massiven Protesten im Bergbaubecken 2008 gegründet. Diese lokale Revolte bereitete der tunesischen Revolution von 2011 den Weg, zeigte sie doch dem ganzen Land die Widersprüche des Phosphatgeschäfts auf und übte Druck auf die Eliten aus. Die Umweltgesellschaft ist formell eine staatseigene und an die CPG angegliederte Firma, mit der „die Behörden den sozialen Frieden erkauft haben, indem sie arbeitslosen Demonstrant*innen eine fiktive Beschäftigung garantierten“, so Aïd.
Statt Verbesserungen gibt es Almosen
Nur manchmal setzt die Umweltgesellschaft die bei ihr Angestellten tatsächlich ein, um Arbeiten zu erledigen. Meistens begnügt sie sich damit, der Generation der ehemaligen Schüler*innen von Aïd ein festes Einkommen von umgerechnet knapp 300 Euro zu garantieren. Diesen bleibt meist nichts anderes übrig, als ihr Einkommen mit informellem Handel oder Landwirtschaft ein wenig aufzubessern.
„Dabei bräuchte die Umwelt die Anstrengungen von uns allen“, seufzt Aïd und kneift die Augen zusammen, während er versucht, durch die verschlossenen Tore auf den Hof der Schule von el-Berka, einem Dorf außerhalb von Moulares, zu blicken. Diese kleine Schule hat Aïd zwischen 2006 und 2014 geleitet, auf dem Höhepunkt der sozialen Bewegungen gegen die CPG.
Heute gebe es hier nur noch zwei oder drei bewohnte Häuser, erzählt er, und nicht einmal mehr das Straßenschild mit dem Dorfnamen. „Diejenigen, die etwas Glück hatten, sind in die nahegelegene Stadt Moulares gezogen, da die Minen zu nah an el-Berka sind“, sagt Aïd und zeigt mit dem Finger auf die nicht weit entfernte Bergkette, wo Rauch und die Türme großer Maschinen auf den Steinbruch hinweisen. „Außerdem gibt es hier kein Wasser mehr, ländliche Gegenden wie diese werden immer leerer. Niemand lernt mehr in der Schule el-Berkas.“
Nur wenige Meter von der Schule entfernt begrenzt Stacheldraht den Bereich, der dem CPG-Personal vorbehalten ist. Dieses Land, auf dem die CPG heute einen ihrer zehn Brunnen in el-Berka betreibt, gehörte früher Mohamed, einem der letzten Bewohner el-Berkas. Seinen vollen Namen will er nicht veröffentlicht sehen.
Abdelbaset Ben Hmida, Vater des asthmakranken Jugendlichen Mouaid
Was Mohamed noch besitzt, ist ein kleines Stück Land am Rande des Dorfes, das durch den Staub aus den Steinbrüchen stark beschädigt wird. „Mein Bruder arbeitet im Steinbruch, wenigstens warnt er mich, wenn sie Dynamit zünden“, sagt er mit einer Prise Ironie. Mohamed selbst hat keine Anstellung bei der CPG bekommen.
Als Angestellter der Umweltgesellschaft bleibt ihm als Beschäftigung nur das bisschen Gemüse, dass er auf seinem kleinen Grundstück anbaut und dann an Großhändler weiterverkauft. Alle fünf Jahre erhält er von der CPG eine Entschädigung für die Ausfälle, die durch die Landenteignung und den Abbau des Minerals an seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit entstanden sind.
„Hier war ich der erste, der entschädigt wurde, weil die CPG mein Land besetzt hat. Wir sind gezwungen, Geld gegen Umweltverschmutzung einzutauschen“, so Mohamed, „Das ist keine Lösung, das ist Erpressung“. Die 16.000 Dinar Entschädigung, umgerechnet rund 4.500 Euro, die er 2020 von der CPG erhalten hat, musste er mit seinem Anwalt teilen. Auch deshalb hat er beschlossen, sich „sein Wasser“ zurückzuholen.
Den Schlauch, mit dem er sein Land bewässert, hat er an das Kanalnetz der CPG angeschlossen, das diese auf seinem ehemaligen Familiengrundstück verlegt hat. Als er sein selbstgebautes Bewässerungsventil öffnet, empört er sich: „Ich verlange Wasser, noch bevor ich nach Arbeit verlange. Wir haben kein Wasser mehr für unsere landwirtschaftlichen Flächen, aber wir leben direkt neben Brunnen, die bis zu 60 oder 70 Liter pro Sekunde aus dem Boden pumpen.“
Auch das Wasser gräbt die Industrie ab
Dass die CPG Tag und Nacht Wasser aus den Brunnen pumpt, liegt daran, dass auf den Abbau von Phosphatgestein die Waschphase folgt. Das Gestein wird zu Waschanlagen transportiert und gereinigt. Anschließend wird es per Zug oder häufiger per Lkw in die Küstenstädte oder zu den Raffinerien der Groupe Chemique Tunisien (CGT) in Mdhila am südöstlichen Ausläufer des Minenbeckens gebracht. Behandelt mit stark umweltschädlichen chemischen Zusätzen wie Ammoniak, wird es hier in Dünger umgewandelt.
„Trotz der Nähe zu großen Wasserreservoirs und Wassertanks, die oft sogar Trinkwasser enthalten und trotzdem für die Phosphatwäsche bestimmt sind, kommt es in unserem Haushalt fast täglich zu Wasserausfällen“, sagt Ex-Lehrer und Aktivist Aïd, der mit seinem Ruhestand so weit wie möglich von der Wäscherei weggezogen ist. Als Symbole des Bergbaus stehen die Wäschereien oft im Mittelpunkt von Demonstrationen. So viele Proteste im Zusammenhang mit Wasser wie in der Region Gafsa gibt es nirgendwo sonst in Tunesien, ergeben die Statistiken der tunesischen Beobachtungsstelle für Wasser. Allein im März 2016 verzeichnet die NGO 16 bestätigte Proteste.
Die Wäscherei in Redeyef ist seit 2021 aufgrund des Protests von Arbeitslosen komplett geschlossen, was paradoxerweise zur Luftverschmutzung durch das hier weiter unter freiem Himmel gelagerte Phosphat beiträgt. Angesichts der Blockade kann das Phosphat nicht abtransportiert werden.
Weiter mit Umweltkosten verbunden
„Es gibt einen Plan für die Verlagerung der Wäschereien außerhalb der Städte, aber bisher wurde nichts getan. Das Modernisierungsprogramm wurde nie fortgesetzt“, erklärt Rabah Ben Othmane vom Tunesischen Forum für soziale und wirtschaftliche Rechte (FTDES). „Die Situation verschlechtert sich sowohl aus sozialer als auch aus ökologischer Sicht immer weiter.“
Der Prozess der Phosphatwäsche ist nun weiter von den Wohnsiedlungen entfernt. Doch er ist weiterhin mit extrem hohen Umweltkosten verbunden. Lotfi, ein Kamelzüchter in seinen Fünfzigern, ist sich dessen sehr bewusst. Eines seiner Tiere habe nahe einer riesigen Schlammfläche gegrast, auf die Wäscherei-Abwasser fließe. Der Auffangdamm für den Phosphatschlamm aus der Rohstoff-Wäscherei der Stadt Métlaoui leckt nämlich, das verunreinigte Abwasser fließt ungehindert in die Wüste.
„Eines meiner Kamele hat verschmutztes Wasser getrunken und ist davon krank geworden“, erklärt der Züchter neben seinem kleinen mit Bambus umzäunten Gelände, das er als Bauernhof mitten in der Wüstenebene nutzt. Der Tod eines Kamels ist für einen Viehzüchter ein großer wirtschaftlicher Verlust; jedes hat einen Wert von rund 4.000 Dinar, umgerechnet 1.200 Euro. Lofti ist mit seinem Problem nicht alleine, deshalb hat die Verwaltung der nahe gelegenen Kleinstadt el-Hamma, an deren Ausläufern der Schlamm vorbeizieht, Klage gegen die CPG eingereicht – mit bisher ungewissem Ausgang.
2008, wenige Jahre vor den Massenprotesten, zählte die Region angesichts der harten Repressalien durch den Sicherheitsapparat hunderte Verletzte und politische Gefangene, weil diese lautstark soziale Gerechtigkeit im Bergbaubecken verlangten. 16 Jahre später haben sich die Forderungen der Bevölkerung nicht geändert, sondern nur weiterentwickelt: die Forderung nach einer stärkeren Umverteilung der Phosphateinnahmen wird nun auch mit expliziten ökologischen Forderungen flankiert. Und teils vor Gericht geführt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
In Redeyef bewahren die Eltern des 14-jährigen Mouaid die Arztrechnungen ihres Sohnes auch deshalb sorgsam auf, weil sie beschlossen haben, mit Unterstützung des FTDES und der belgischen Menschenrechtsgruppe Advocats Sans Frontières, gegen die CPG gerichtlich vorzugehen.
In seinem Büro erzählt der Anwalt der Familie, Rostom Ben Jabra, von der Brisanz dieses Falles. Denn der weise „zum ersten Mal einen direkten Zusammenhang zwischen der durch Phosphate verursachten Umweltverschmutzung und Mouaids Gesundheitszustand“ nach – ein wichtiger Präzedenzfall, den die CPG offenbar nicht zu akzeptieren bereit ist.
Im Oktober 2023 wurde die Familie darüber informiert, dass das erstinstanzliche Gericht in Gafsa den Fall abgewiesen habe. Die Familie und ihr Anwalt warten noch auf die Begründung der Entscheidung des Gerichts. Ihr Ziel ist es, Berufung gegen den Beschluss einzureichen und den Kampf fortzusetzen.
Diese Recherche wurde unterstützt vom Journalismfund Europe. Unsere Autor*innen waren in Redeyef, Moulares, el-Berka, Métlaoui und Gafsa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen