Mutterschaft und Frausein: Wehe, sie gehen
Wenn Mütter ihre Kinder verlassen, gilt das als skandalös. Unsere Autorin wurde verlassen und begibt sich auf die Suche nach Erklärungen.
I m Hafen von Melbourne liegt ein großes Schiff. Es wird gleich aufbrechen, um die Fahrt nach Deutschland anzutreten. An Bord steht unter vielen anderen Passagieren meine Mutter. Sie winkt meinem Vater und mir zu. Wir sind an Land geblieben. Ich weine, denn ich weiß, dass meine Mutter sehr lange weg sein wird. „Mama kommt bald wieder“, tröstet mein Vater mich.
Aber das stimmt nicht. Meine Mutter kommt nicht wieder. Erst drei Jahre später werden wir uns in Deutschland wiedersehen.
Als meine Mutter 1964 mit dem Schiff abreiste, war ich fünf Jahre alt. Sie gab das Leben auf, das sie und mein Vater als Einwanderer:innen in Australien führten, um nach Deutschland zurückzugehen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie mich verließ, und es sollte auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Ich hoffte, sie besser verstehen zu können, wenn ich einmal selbst Mutter wäre. Aber da verstand ich sie noch weniger. Denn ich hätte mich nie freiwillig für längere Zeit von meinen Kindern getrennt.
Noch immer verfolgt mich die Frage: Warum nahm sie mich nicht mit?
Nun bin ich 65 Jahre alt, und das Thema lässt mich nicht los. Bald werde ich alt sein. Es klingt vielleicht kitschig, aber wenn ich einmal sterbe, möchte ich mit meiner Mutter im Reinen sein.
Aussprechen können wir uns allerdings nicht mehr. Meine Mutter ist schon lange tot, und zu Lebzeiten weigerte sie sich, mit mir darüber zu sprechen.
Aber ich kann mit anderen Müttern, die ihre Kinder zurückließen, reden. Warum sind sie gegangen? Und ist es möglich, sie trotzdem zu lieben?
Ultimativer Tabubruch
Mütter, die von ihren Kindern weggehen, gelten in unserer Gesellschaft immer noch als etwas Skandalöses. Wenn jemand geht, dann sind es normalerweise Männer. 85 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland sind Mütter, wobei die Zahl der alleinerziehenden Väter laut dem Statistischen Bundesamt in den vergangenen Jahren leicht angestiegen ist.
Es tut sich also langsam etwas in Sachen Geschlechterrollen, aber auch darin, wie das Thema behandelt wird. So sind in jüngerer Zeit zunehmend Podcasts und Sachbücher erschienen, die sich des Themas aus neuen, teils überraschenden Blickwinkeln annehmen. In einer Doku des Schweizer Senders SRF rät die Psycho- und Paartherapeutin Felizitas Ambauen, kein vorschnelles Urteil zu treffen, wenn eine Frau von der Familie weggeht. Eine Trennung sei schwierig, aber nicht immer schädlich. Die spanische Journalistin Begoña Gómez Urzaiz beschreibt in ihrem Buch „Mütter, die gehen“ die Lebensläufe berühmter Frauen, die ihre Kindern verließen. Sie fragt, warum diese Entscheidung als ultimativer Tabubruch gesehen wird, und was das über unsere Erwartungen an Mütter erzählt.
Um mehr über Mütter zu erfahren, die ihre Kinder verlassen, starte ich einen Aufruf im Bekanntenkreis und in den sozialen Medien. Es melden sich zehn Mütter zwischen Mitte 20 und Ende 50 und eine mittlerweile erwachsene Tochter bei mir, die, so wie ich, zeitweise ohne ihre Mutter aufwuchs.
Zwischen ihren Geschichten und meiner gibt es einen wesentlichen Unterschied. Die Mütter, mit denen ich rede, sind zwar ausgezogen, aber im Gegensatz zu meiner entfernten sie sich nicht aus der Welt ihrer Kinder.
Dennoch haben sie Schuldgefühle. Sie wollen erzählen, wie es dazu kam, dass sie auszogen und ihre Kinder nicht mitnahmen. In diesem Text wird nur ihre Sicht wiedergegeben und nicht die ihrer Ex-Partner und Kinder. Auch wenn ich nicht alle Geschichten zitiere, schwingen sie zwischen den Zeilen mit.
Scham und Schuld
Meine jüngste Interviewpartnerin ist 26 Jahre alt. Ich nenne sie Ronja, weil sie, so wie die anderen Frauen in diesem Text, nicht mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung genannt werden will. Sie hat Angst vor Stigmatisierung.
An einem regnerischen Frühlingsmorgen sind wir in einem Café verabredet. Ronja rührt das vor ihr stehende Frühstück nicht an, zu sehr drängt es sie, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Sohn lebe bei ihr, erzählt sie, während die jüngere Tochter nach der Trennung bei ihrem Ex-Partner blieb. Sie habe in der Schwangerschaft eine chronische Krankheit bekommen und sich nicht in der Lage gesehen, allein für zwei kleine Kinder zu sorgen. Bei dem Vater ihres Kindes aber wollte sie nicht bleiben. Er bot an, das Baby bei sich zu behalten, und sie willigte ein. Er sei ein fürsorglicher Vater und seine Mutter unterstütze ihn mit der Erziehung, erzählt sie. Alle zwei Monate lege sie 600 Kilometer zurück, um für ein paar Tage bei ihrer Tochter zu sein. Ronja sagt, sie bereue es nicht, ihr Baby bei seinem Vater gelassen zu haben. Aber sie schämt sich trotzdem. Deshalb weiß fast keiner, dass sie nicht ein, sondern zwei Kinder hat.
Sie kenne noch eine andere Frau, die ihrer Umgebung verschweige, dass sie ein Kind habe, erzählt die junge Frau. Deshalb sei sie auch davon überzeugt, dass es viele Frauen mit einem solchen Geheimnis gibt. „Sie trauen sich nicht, darüber zu reden, weil andere denken, Frauen wie wir seien schlechte Mütter“, vermutet Ronja.
Das Gespräch lässt mich etwas ratlos zurück. Junge Frauen, die einen Ex-Partner haben, der das gemeinsame Kind gut versorgt, schämen sich dafür, wenn sie es bei ihm lassen?
„Bei der Bewertung von Eltern, die von Zuhause ausziehen und ihre Kinder beim Partner lassen, werden ‚doppelte Standards‘ angelegt“, sagt Marie Fröhlich, Kulturanthropologin an der Universität Göttingen. Fröhlich forscht und publiziert zu Fragen von Reproduktion und Care-Arbeit. „Väter, die gehen, schocken nicht“, stellt sie in unserem Gespräch fest. Mütter, die gehen, aber schon. „Begründet ist das in der engen ideologischen Kopplung von Frausein und Mutterschaft, die bis heute tief sitzt.“ Mutterschaft und Mutterliebe erscheinen als ‚natürlich‘. Dazu kämen zusätzliche Erwartungen, dass Frauen nicht nur die Sorgearbeit leisten und das Kind lieben sollten, sondern auch attraktiv und beruflich aktiv sein müssten, siehe das Phänomen „MILF“. Um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, sei es daher dringend notwendig, am gesellschaftlichen Mutterbild zu rütteln.
Die Glorifizierung der Mutterrolle ist eine verhältnismäßig moderne Erfindung. Die französische Philosophin Élisabeth Badinter hat sich mit der Entwicklung des Mutterbildes in Frankreich eingehend beschäftigt. Sie schreibt in „Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute“, dass bis weit ins 18. Jahrhundert hinein um Kinder nicht viel Aufhebens gemacht wurde. Die angeblich naturgegebene Rollenverteilung gab es damals noch nicht. Alle gingen zusammen aufs Feld: Mütter, Väter, Kinder. Schon ab sechs Jahren mussten auch die Jüngsten hart arbeiten. Von den vielen Kindern, die damals geboren wurden, wurden die meisten weggegeben: zu einer Amme aufs Land, in eine Lehre, auf einen Hof. Oder, wer es sich leisten konnte, in eine Pflegefamilie oder ins Internat. Die Philosophin schließt aus Fallberichten und historischen Aufzeichnungen, dass sich Mütter oft nicht sonderlich für ihre Kinder interessierten.
Die Rolle der Mutter, so wie wir sie kennen, sei erst mit dem Aufkommen eines begüterten Bürgertums klar definiert worden, so Badinter. Die Frau habe zu Hause für Ordnung und Behaglichkeit gesorgt, Erziehung wurde nun als ein bewusster Akt verstanden.
Erst mit der Psychologisierung der Mutter-Kind-Beziehung im 20. Jahrhundert sei die Mutter auch für das seelische Wohl ihrer Kinder zuständig gewesen. Als Gebärende wisse sie intuitiv, was das Kind brauche, hieß es damals. Und wenn nicht, dann stimme etwas nicht mit ihr.
Statt von einem Mutterinstinkt spricht Badinter von einem Pflichtgefühl, das bei Frauen kultiviert worden sei. Mutterliebe könne vorhanden sein – oder auch nicht.
Fürsorgeinstinkt
Es fällt mir schwer zu glauben, dass es keinen Mutterinstinkt geben soll. Nichts roch süßer als der flaumige Nacken meiner Kinder, als sie klein waren. Wenn die Kleinen weinten, litt ich mit ihnen. Erst als Mutter erlebte ich, wie weit sich mein Herz öffnen kann.Sind das etwa keine Merkmale eines Mutterinstinktes?
Das als „Kuschelhormon“ bekannte Oxytocin sei mitverantwortlich für die Mutter-Kind-Bindung, erfahre ich aus einem Artikel im National Geographic. Das Hormon werde verstärkt im Gehirn der werdenden Mutter produziert und steigere ihr Bedürfnis, sich um ihr Kind zu kümmern. Es sei maßgeblich bei der Mutter-Kind-Bindung beteiligt. Doch Wissenschaftler:innen zufolge kann das Hormon nicht nur in der Mutter, sondern auch in anderen Personen, die sich einem Neugeborenen zuwenden, freigesetzt werden.
Elternschaft sei ein Prozess, in dem sich das Gehirn langsam durch Hormone und Erfahrungen verändere, sagen Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner, Autorinnen des Buches „Mythos Mutterinstinkt“. Entscheidend sei der Kontakt zum Kind und es zu umsorgen, nicht das Gebären an sich.
Wäre es also nicht treffender, statt von einem Mutterinstinkt von einem Fürsorgeinstinkt zu sprechen? Denn der ist offenbar bei allen Menschen verschiedenen Geschlechts angelegt.
Einer Frau wird die Mutterrolle als selbstverständlich zugestanden. Ein Mann muss sich unter Umständen anstrengen, um die rechtliche Anerkennung als Vater zu bekommen. Das sagt viel über das Mutter- und Vaterbild aus, das in unserer Gesellschaft auch durch die Gesetzgebung zementiert wird.
Das Bürgerliche Gesetzbuch schreibt der Mutter von Geburt an das Sorgerecht zu. Im Gegensatz dazu ist der juristische Begriff des Vaters in Deutschland sozial konstruiert. Als Ehemann der Mutter ist er automatisch auch Vater ihres Kindes, unabhängig davon, ob er auch der biologische Vater ist. Und ein nicht verheirateter Vater muss seine Vaterschaft erst anerkennen lassen, damit er ebenfalls das Sorgerecht erhält.
Regretting Motherhood
Dabei gibt es Konstellationen, in denen der Vater der fürsorglichere Elternteil ist. Und es gibt Frauen, die sich in der Mutterrolle einfach nicht wohlfühlen. Meine Kusine zum Beispiel. Einmal erklärte sie mir, dass sie sich gegen Kinder entscheiden würde, wenn sie noch einmal vor der Wahl stünde. Ihr Bekenntnis schockierte mich. Dass meine Kusine nicht ihre Kinder, sondern die Mutterrolle ablehnte, verstand ich damals nicht.
Die israelische Soziologin Orna Donath veröffentlichte im Jahr 2016 Interviews mit Frauen, die ihre Entscheidung bereuten, Mutter geworden zu sein, ihr Buch „Regretting Motherhood“ („Mutterschaft bereuen“) löste vielerorts Debatten aus. Vor allem die deutschen Leser:innen habe es empört, sagt Donath. Hier habe die Diskussion viel länger angehalten als in Israel. Schließlich nimmt man doch eigentlich an, eine Frau werde es einmal bereuen, keine Kinder bekommen zu haben. Aber doch nicht andersherum!
Hat auch meine Mutter insgeheim die Entscheidung bereut, Mutter geworden zu sein? Als Erwachsene fragte ich sie einmal, ob ich ein Wunschkind gewesen sei. Ein Psychologe habe ihr damals geraten, schwanger zu werden, erfuhr ich. Er meinte, ein Kind könne ihre Ehe retten.
Meine Eltern waren, kaum volljährig, 1954 als deutsche Auswanderer nach Australien gekommen. Sie lernten die fremde Sprache, fanden Jobs, heirateten, bauten ein Haus. Mein Vater begann auf Pferde zu wetten. Meine Mutter wurde unglücklich. Dann bekam sie mich. Das erste Mal verließ sie uns, als ich vier war. Drei Monate lang wusste keiner, wo sie war. Mein Vater vermutete später, sie habe einen Liebhaber gehabt. Und dann war sie mit einem Mal wieder da und wir machten einfach weiter wie bisher. Aber es hatte sich etwas verändert. Ich lebte in der ständigen Furcht, sie könnte wieder gehen. Damit das nicht passierte, wurde ich ein braves Kind, das keine Fehler machen wollte. Aber es nützte nichts.
Weil sie Heimweh hatte und in einer schwierigen Ehe feststeckte, bestieg meine Mutter also ein Jahr später das große Schiff. Sie reiste mit ihrer Mutter, die uns in Australien besucht hatte, zurück nach Deutschland. War ihr Leben mit einem kleinen Kind zwischen Wäschebergen und Kochtöpfen zu einsam und eng geworden?
Die drastischste Form von Flucht ist es, sich selbst zu vernichten. In Mareike Fallwickls 2023 erschienenem Roman „Die Wut, die bleibt“ wird die Erschöpfung einer Frau geschildert, die ihre Familie auf extreme Weise verlässt: Helene steht vom Abendbrottisch auf, um Salz zu holen, geht auf den Balkon und stürzt sich in den Tod. Fallwickl stellt mit dieser Geschichte dar, wie unterbewertet die meist von Frauen geleistete Care-Arbeit ist und wie sehr sie in der öffentlichen Debatte vernachlässigt wird. Und dass sich nichts ändern wird, wenn einfach nur die nächste Frau in die Lücke springt, die Helene hinterlässt.
Da meine Mutter nicht zurückkehrte, führte nun Oma, die Mutter meines Vaters, unseren Haushalt. Sie achtete darauf, dass ich die Briefe meiner Mutter pünktlich beantwortete. Manchmal ergänzte sie sie mit ein paar freundlichen Sätzen. Alle anderen regten sich darüber auf, dass meine Mutter nicht zurückkam. Wäre mein Vater weggegangen, wäre die Aufregung vermutlich nur halb so groß gewesen. Nur meine Oma schien meine Mutter zu verstehen.
Die Gründe, weshalb Mütter nicht durchgängig in die Betreuung ihrer Kinder involviert sind, würden unterschiedlich bewertet, sagt Kulturanthropologin Fröhlich. Dabei käme es auf ihren gesellschaftlichen Platz an. „Eine Mutter, die bisher die Hauptverantwortung für die Care-Arbeit trug und auszieht, wird anders betrachtet als eine Top-Managerin, die beruflich viel unterwegs ist – obwohl beide in gleichem Umfang in die Sorgeverantwortung und Kinderbetreuung eingebunden sein können.“ Während die eine sich schnell mit dem Vorwurf konfrontiert sehe, ihre Kinder ‚verlassen‘ zu haben, scheine das Verhalten der anderen nur wenig erklärungsbedürftig.
Meine Mutter ging freiwillig. Viele andere nicht. Manche fliehen aus einer Situation, die ihr Leben bedroht.
Häusliche Gewalt
Während meiner Recherche zu diesem Text besuche ich auch ein Frauenschutzhaus. Zwei Mitarbeiterinnen empfangen mich in ihrem hell angestrichenen Büro. Sie erzählen, dass es hin und wieder vorkomme, dass Frauen ohne ihre Kinder bei ihnen Zuflucht suchen.
„Er hätte mich umgebracht, wenn ich die Kinder mitgenommen hätte“, zitiert eine Mitarbeiterin eine Klientin, die die rasende Wut ihres Mannes gefürchtet habe. Andere würden Hals über Kopf flüchten und später versuchen, ihre Kinder nachzuholen. Und manchmal käme es vor, dass eine Frau aus einer islamisch geprägten Familie verstoßen würde und dann ohne ihre Kinder käme, ergänzt die andere. Diese Frauen kämen mit der Situation oft besser zurecht als andere. „Sie haben schließlich keine andere Wahl“, so die Mitarbeiterin. Es sei kulturell vorgegeben, dass die Kinder in der Familie des Mannes blieben. Unter der Sehnsucht nach ihren Kindern litten sie oft trotzdem.
Häusliche Gewalt wird auch von mehreren meiner Gesprächspartnerinnen als Grund ihres Weggehens genannt. Drei von ihnen haben es so lange bei ihrem Partner ausgehalten, bis die Kinder fast volljährig waren. Oder sie blieben, bis ein Katastrophenfall eintrat. Erst dann befreiten sie sich. Die Geschichten dieser Frauen sind natürlich anders gelagert – denn oft handeln sie aus Not.
Mit Claire telefoniere ich drei Mal. Als sie mir ihre Geschichte erzählt, sehe ich vor meinem inneren Auge einen Film ablaufen.
„An manchen Tagen genügte ein falsches Wort und mein Mann schlug, schrie und beschimpfte die Kinder. Aber nicht immer in meiner Gegenwart“, erzählt Claire. Heimlich konsultierte sie eine Anwältin. „Sie rechnete mir vor, wie meine finanzielle Situation aussehen würde, wenn ich wegginge. Und riet mir, die Situation auszuhalten.“ Ihr Mann drohte, die Kinder zu behalten, sollte sie sich trennen.
Den Moment, der ihr Leben komplett auf den Kopf stellte, würde Claire am liebsten löschen. „Er drängte mich an die Wand, provozierte und beschimpfte mich, wie so oft. Plötzlich stiegen die vielen Jahre, die ich bei ihm ausgehalten hatte, mit voller Wucht in mir auf. Nur ein Moment länger und ich hätte ihn umgebracht.“ Claire streifte ihren Ring ab, legte ihn auf den Tisch und schnappte den Autoschlüssel. In diesem Ausnahmezustand war nichts anderes möglich, als einfach zu gehen. Ohne die Kinder.
Angst vor Armut
Viele Jahre Streit um die Kinder, die sie nachholen wollte, haben sie ausgebrannt. „Alle haben in ihm immer nur den armen Mann gesehen, der mit den Kindern sitzengelassen wurde“, sagt sie. Sie selbst aber bleibe in den Augen anderer eine Rabenmutter. „Keiner hat begriffen, dass ich uns vor einem großen Unheil bewahrt habe, indem ich ging. Er durfte weiterleben, und ich musste nicht ins Gefängnis.“
Die Polizei schaltete Claire nie ein, schließlich war sie nicht körperlich angegriffen worden. Doch dass psychische Gewalt als eine ebenso schlimme Form von Gewalt verstanden wird, war ihr damals nicht klar. Und auch nicht, dass Frauenhäuser Frauen mit ihren Kindern bei jeglicher Art von Gewalt aufnehmen. Vielleicht hätte ihr ein frühzeitiges Beratungsangebot weiterhelfen können.
Oft hält die Angst vor Armut Frauen davon ab, früher zu gehen. Nach der Trennung bekommen viele Frauen ihren Unterhalt und den Kindesunterhalt von ihren Ex-Partnern nur unregelmäßig oder nicht in voller Höhe.
Aber es gibt eine spezielle staatliche Leistung für Alleinerziehende, den Unterhaltsvorschuss, wenn vom anderen Elternteil kein Unterhalt eintrifft. Das Einkommen des alleinerziehenden Elternteils ist dabei unerheblich. Das mag für eine Grundversorgung reichen. Aber es verhindert nicht, dass die Frauen einen sozialen Abstieg erleben, der ihnen Angst macht.
Aus Liebe zu den Kindern
Wenn sich Frauen aus häuslichen Gewaltsituationen lösen, machen sie es oft mit der letzten Kraft, die ihnen verblieben ist. Und die reicht nicht immer dafür aus, ihre Kinder in eine neue, unübersichtliche Situation mitzunehmen. Sie wollen erst das Wohnen, Kindergarten, Schule und die finanziellen Verhältnisse klären.
Aber das Nachholen der Kinder gelingt dann nicht immer. Wenn der Mann nach dem Auszug der Frau sogleich den Antrag auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht stellt und die Mutter in ungeklärten Verhältnissen lebt, hat er gute Chancen, die Kinder zu behalten, erfahre ich von einer Familienanwältin aus dem Bekanntenkreis. Bei der gerichtlichen Beurteilung, wo das Kind besser aufgehoben sei, gebe es den Aspekt, das Kind möglichst nicht aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen. Meine Gesprächspartnerinnen berichteten mir, dass sie trotz der schwierigen Umstände den Kontakt zu ihren Kindern aufrechterhalten konnten.
Auch mit Heike spreche ich. Sie ist heute 60 Jahre alt, und sie ließ einst ihre beiden acht- und neunjährigen Kinder bei ihrem Ex-Partner. Heike nahm eine neue Beziehung als Sprungbrett, um sich von ihrem Partner zu lösen, von dem sie sich nicht wahrgenommen fühlte. „Wenn ich etwas mit ihm allein machen wollte, wunderte er sich darüber“, berichtet sie. Als sie auszog, wusste sie, dass er um die Kinder kämpfen würde. Das wollte sie den Kindern ersparen. Außerdem hätte es das weitere gemeinsame Erziehen der Kinder erheblich erschwert. Sie fand eine geräumige, bezahlbare Wohnung, und die Kinder begannen, genauso oft bei ihr zu übernachten wie beim Vater. In ihrem Bekanntenkreis habe es für das Zurücklassen der Kinder wenig Verständnis gegeben, erzählt sie. „Alle haben in mir nur die starke Frau gesehen, die macht, was sie will. Aber so habe ich mich nicht gefühlt. Ich war oft traurig und habe die Kinder vermisst.“ Dass die gemeinsame Erziehung mit dem Ex-Partner weiterhin gut funktionierte, hält Heike unter anderem dem „Wechselmodell“ zugute.
In diesem Fall sind die Kinder wechselweise in beiden elterlichen Haushalten zu Hause. Überwiegt der zeitliche Aufenthalt bei einem Elternteil, zum Beispiel 40 Prozent beim Vater und 60 Prozent bei der Mutter, ist von einem „asymmetrischen Wechselmodell“ die Rede. Eine Voraussetzung dafür ist die räumliche Nähe der Wohnungen beider Elternteile zueinander.
Für das kindliche Wohlergehen seien vor allem positive Familienbeziehungen und ein regelmäßiger Kontakt zum anderen Elternteil wichtig, sagt eine Studie. Unabhängig davon, auf welches Betreuungskonzept sich die Eltern geeinigt haben.
Ein Analphabet im Haushalt
Ich war in der zweiten Klasse, als meine Mutter verlangte, ich solle zu ihr nach Deutschland ziehen. Alle waren sich einig, dass ein Kind zu seiner Mutter gehört. So gab mein Vater nach. Meine Mutter und ich hatten uns drei Jahre nicht gesehen, als ich am Flughafen in Hannover ankam. Ich erkannte sie nicht am Aussehen, sondern an ihrem Duft, eine Mischung aus Make-up und Niveaseife. Mit acht Jahren sauste ich zum ersten Mal auf einem Schlitten über verschneite Hügel, so etwas kannte ich aus Australien nicht.
Was blieb, war die Sehnsucht. Nur richtete sie sich jetzt auf meinen Vater, der zwar auch wieder in Deutschland lebte, den ich aber nur einmal im Monat sah. Die Sehnsucht nach ihm war nicht kleiner, als es die nach meiner Mutter gewesen war.
Als ich zehn war, ließen sich meine Eltern scheiden. Das Thema Betreuung wurde neu verhandelt. Am liebsten hätte ich wieder bei meinem Vater gelebt, denn er war der ausgeglichenere und liebevollere Elternteil von beiden. Aber aus Loyalität zu meiner Mutter verriet ich niemandem meinen Wunsch. Richtig nachgefragt, was ich möchte, hat sowieso keiner. Außerdem war mein Vater im Haushalt ein Analphabet.
Bis heute liegt die Hauptverantwortung für die Care-Arbeit überwiegend bei der Frau. Sind sich Männer darüber bewusst, dass sie damit auf wichtige Kompetenzen verzichten? Würden Mutter- und Vaterrollen als gleich wichtig erachtet, wiesen Väter ebensolche Care-Kompetenzen wie Mütter auf, könnte es für beide Elternteile leichter sein, auf Augenhöhe zu kommunizieren.
In seinem Buch „Vatersein“ (2022) sieht Tillmann Prüfer, der selbst Vater von vier Kindern ist, im neuen Feminismus besonders für Männer eine große Chance. Sie sollten die historische Möglichkeit nutzen, aus den tradierten Männerrollen auszubrechen, und sich fragen: Was will ich als Vater? Was sollen meine Kinder davon haben? Wie werden wir alle glücklicher?
Ein Generationenproblem
Nelly, 36, meldet sich, weil sie früher selbst ein Kind war, das von ihrer alleinerziehenden Mutter oft alleingelassen wurde. Wir verabreden uns auf Zoom.
Als ihre Mutter beruflich eine Weile ins Ausland ging, war Nelly zehn, berichtet sie. „Eine Studentin zog bei uns ein. Sie zahlte wenig Miete und sollte dafür ein Auge auf mich haben.“ Aber die Studentin zeigte wenig Interesse an ihrer jungen Mitbewohnerin. Die einsamen Nachmittage verbrachte Nelly oft am Telefon, um mit ihren Freundinnen zu sprechen. Als ihre Mutter nach einem halben Jahr zurückkam, schimpfte sie über die hohe Telefonrechnung. Den Zusammenhang zwischen der Einsamkeit ihrer Tochter und den langen Telefonaten sah sie nicht.
Gegenüber ihrer verstorbenen Mutter ist Nelly heute milde gestimmt: „Ein knappes Einkommen, familienfeindliche Arbeitszeiten und ein Ex-Partner, der sich nicht kümmerte.“ Dazu kam: Ihre Mutter hatte selbst keine fürsorgliche Mutter gehabt. Diese hatte sie verlassen, als sie noch ein Kind war. Der Vater, voll berufstätig, gab die Tochter an seinen Bruder. „So lebte sie erst bei Onkel und Tante und ab dem Alter von sieben in mehreren Internaten. Woher hätte sie wissen sollen, was ein Kind braucht?“
Nellys Verständnis für ihre Mutter bringt mich zum Nachdenken. Meine Mutter war rebellisch und wurde von ihrem Vater oft verprügelt. Seinen Anfällen war sie schutzlos ausgeliefert. Demnach hatte auch sie emotionale Fürsorge vermisst. Könnte das ein Grund dafür sein, weshalb sie wenig Empathie für mich aufbrachte?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
In ihrer Freizeit war meine Mutter fast nur mit mir zusammen. Wenn sie am Abend nach Hause kam, sprach sie mit mir wie mit einer Erwachsenen. Manchmal schlief ich neben ihr ein, während sie ihr Leid klagte: über die anstrengende Arbeit in der Fabrik, über ihre Einsamkeit. Ihre labile Gesundheit. Früher hatte sie Akkordeon gespielt, als sei das Instrument ein Teil von ihr. Wenn sie Geschichten erzählte, hingen alle an ihren Lippen. Wann war das zuletzt vorgekommen?
Den Begriff Mental Load gab es für ihre Symptome noch nicht: Migräne, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen. Sie war ständig gereizt. Aber in den Augen anderer war meine Mutter einfach nur „seelisch labil“.
Den Muttertag vergessen
Kaum achtzehn geworden, zog ich aus. Mit einem Blumenstrauß in der Hand und einem schlechten Gewissen stand ich ein paar Wochen später vor ihrer Tür. Ich hatte den Muttertag verpasst. Ein Tag, der ihr besonders wichtig war. Vielleicht brauchte sie ihn als Bestätigung, dass sie eine gute Mutter war.
Aber ihr Name auf dem Klingelschild war verschwunden. Sie war weggezogen und hatte sich nicht einmal von der Nachbarin verabschiedet. Meine Großmutter erklärte, meine Mutter wolle nichts mehr mit mir zu tun haben.
Zuerst war ich froh, die komplizierte Beziehung losgeworden zu sein. Aber dann kamen die Sorgen. Wer würde ihr jetzt zuhören? Sie beraten, wenn sie nicht weiterwusste?
Nach einem Jahr erfuhr ich, dass sie nun in Berlin lebte. Sie nahm meine Entschuldigung für den vergessenen Muttertag an, und wir trafen uns wieder.
Mehrere Jahre später wuchs im Kopf meiner Mutter ein Tumor. Auch eine OP und Bestrahlungen nützten nichts. „Ich habe doch noch gar nicht fertig gelebt“, sagte sie. Irgendwann konnte sie nicht mehr reden, und sie bewegte sich kaum noch. Ich schob ihr Bett ans Fenster. So konnte sie den Blick in den Himmel richten.
Als sie mich zum letzten Mal verließ, war ich nicht da, um ihre Hand zu halten. Ich weiß nicht einmal, ob sie es gewollt hätte.
Die Autorin Laura Catoni bedankt sich am Ende ihres taz-Essays „War nicht alles gut, so wie es war?“ bei ihrer Mutter. Zu lange habe sie ihre Leistungen – und damit die aller anderen Mütter in unserer Gesellschaft – nicht anerkannt, sondern als selbstverständlich hingenommen. Damit findet sie einen versöhnlichen Abschluss für ihre Geschichte.
Mit einem solchen kann ich leider nicht dienen. Ich hatte nie den Impuls, mich bei meiner Mutter zu bedanken. Es ist zu viel zwischen uns schiefgelaufen.
Doch während ich diesen Text schrieb, hatte ich manchmal das Gefühl, sie sitze neben mir. Jetzt, da ich die letzten Worte tippe, sagt meine Mutter zum ersten Mal etwas.
„Bis du erwachsen warst, war ich die meiste Zeit bei dir“, erinnert sie mich.
„Ich war nicht nur eine Mutter, die weggegangen ist.“
Ich nicke.
Das stimmt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein