Trumpf und Kontrolle

Die Ostseebiennalen standen von 1965 bis 1989 zwischen offizieller DDR-Kulturdiplomatie und künstlerischem Austausch mit Skandinavien. Die Kunsthalle Rostock erinnert daran mit einer Schau über den Dänen Jørgen Buch

Die Kunsthalle Rostock wurde für die Ostseebiennalen gebaut. Entworfen in einer sozialistischen Moderne von Hans Fleischhauer und Martin Halwas, war sie ein Prestigeprojekt der DDR Foto: Kunsthalle Rostock

Von Jens Malling

Finger in blauen Gummihandschuhen berühren vorsichtig eines der vielen Blätter mit Druckgrafiken, die hier im Depot der Kunsthalle Rostock geordnet auf dem Tisch liegen. Eine Mitarbeiterin fotografiert eine Lithografie. Neben jedem Kunstwerk fasst ein vergilbtes Kärtchen aus DDR-Zeiten Namen und Biografie des Künstlers zusammen. Hans Scherfig, Dea Trier Mørch, Jørgen Buch, Victor Brockdorff … Die alte Schreibmaschinenschrift verrät auch die Staatszugehörigkeit: „Dänemark“.

„Im Rahmen der Ostseebiennalen hat die Kunsthalle eine bedeutende Sammlung dänischer Künstler aufgebaut. Skulpturen, Gemälde, Druckgrafiken – insgesamt mehr als 250 Werke“, sagt die Kuratorin Melanie Ohst. „Deshalb verschaffen wir uns jetzt einen Überblick, gehen alle Werke durch, digitalisieren sie und bewerten sie neu.“

Wer kennt sie, die Ostseebiennalen? Für dieses Kunsttreffen kamen in Rostock zwischen 1969 und 1989 regelmäßig Künstler aus Skandinavien und der DDR zusammen. Über 1.000 waren es insgesamt, bis es mit der Wiedervereinigung an Bedeutung verlor, 1996 war seine letzte Ausgabe.

„Die DDR-Regierung sah besonders gute Möglichkeiten, im nordischen Raum Einfluss zu nehmen. Und mit den Biennalen öffnete das realsozialistische Regime ein Schaufenster an der Ostsee. Die Ostseebiennalen müssen als Kulturförderung und Propaganda-Initiative verstanden werden“, sagt der Kunsthistoriker Kristian Handberg von der Universität Kopenhagen. Handberg forscht über die hier eher unbekannten Aktivitäten dänischer Künstler in der DDR.

Für das Kunsttreffen in Rostock arbeiteten die ostdeutschen Behörden direkt mit den Künstlern und später auch mit den Künstlerverbänden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zusammen. Sogenannte Länderkommissare bestimmten schließlich, welche Künstler an den Biennalen teilnahmen. Über diese dezentrale, eher anonyme Form des Kuratierens – sehr ungewöhnlich für Kunstschauen, die doch meist unter der Regie einer Kuratorenpersönlichkeit stehen –, kam künstlerisch ein breites Spektrum zustande: von klassischer figurativer Malerei bis zu experimentellen Formaten. Auch abstrakte Kunst fand dort Platz, obwohl sie im Realsozialismus als spätbürgerlich, westlich und dekadent galt. Das außenpolitische Interesse der DDR, Beziehungen zu den nordischen Ländern aufzubauen, übertrumpfte letztlich ihre sonstige Kulturpolitik.

Künstler aus der DDR, Polen und der Sowjetunion einerseits und aus Schweden, Finnland, Island, Norwegen, Westdeutschland und Dänemark andererseits trafen während der Ostseebien­nalen aufeinander. Das ambitiöse Kulturprojekt brauchte dann auch einen Ort. 1969 eröffnete für seine dritte Ausgabe die Kunsthalle Rostock, entworfen von den beiden Architekten des VEB Wohnungsbaukombinat Rostock, Hans Fleischhauer und Martin Halwas. Ihr klarer, kubischer Bau im Stil einer sozialistischen Nachkriegsmoderne war ein Prestigeprojekt des DDR-Regimes. Man kann es sich heute, nachdem das Museumsgebäude bis 2023 länger saniert wurde, wieder vergegenwärtigen.

In der Abteilung für Ölgemälde im Depot der Kunsthalle zieht Melanie Ohst ein paar Werke von Victor Brockdorff (1911–1992) hervor – einem wichtigen Künstler des Realismus im Dänemark der Nachkriegszeit. „Brockdorffs Gemälde aus den 1960er Jahren weisen Parallelen zu Künstlern auf, die auch in der DDR tätig waren. Die meisten von ihnen sind figurativ. Es handelt sich um Porträts und Arbeiter in verschiedenen Alltagsszenen“, sagt Ohst. Auch die großen Leinwände von Jørgen Buch (1943–2021) werden zum Vorschein gebracht. „Der letzte Däne“ etwa von 1982. Eine düstere Warnung vor dem Atomkrieg. Schwer bewaffnet und in eine Art Schutzanzug gekleidet, steht eine unheimliche, einsame Gestalt auf den verkohlten Opfern einer Katastrophe.

Kaum überraschend, dass auch die Stasi die Szene beobachtete

Die Malerei von Buch ist figürlich, provokant und oft satirisch. Auf seinem Gemälde „Black & White“ posiert ein Mitglied des Ku-Klux-Klan mit einer doppelläufigen Schrotflinte vor der Freiheitsstatue. Eine solche Kritik an den USA und ihrem Rassismus kam in einer offiziellen Kunstschau der DDR gut an. „Black & White“ wurde 1979 auf der 8. Ostseebiennale in Rostock gezeigt und gelangte über Mittler dann auch in den Besitz der Kunsthalle. 10.000 DDR-Mark erhielt ­Jørgen Buch dafür. Das Gemälde landete schließlich auf Postern der Kunsthalle, wurde zu ihrem Wahrzeichen. Wenn das Museum jetzt die vielen Werke dänischer Künstler aus seiner Sammlung neu ausstellt, wird dabei Jørgen Buchs zentrale Rolle für die Kunsthalle Rostock mit einer Sonderschau gewürdigt. Ihr Titel ist – klar – „Black & White“.

Die SED-Diktatur vertrat bekanntlich eine recht einseitige, funktionale Auffassung von Kunst. Der offizielle Kunststil, der sozialistische Realismus, feiert in starken Farben und mit freudigen Figuren den Aufbau der Arbeitergesellschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass auf den Ostseebiennalen doch ganz andere Ausdrucksweisen möglich waren. Die Kunsthistorikerin Elke Neumann zeigt in ihrer Dissertation über die Ostseebiennalen, wie wenig die DDR-Behörden ihre Vorgaben über die auszustellende Kunst kontrollierten. Das ließ den Ausstellungsmachern einen Spielraum, den sie auszunutzen wussten. „Es musste nicht unbedingt der sozialistische Realismus sein. Oft war die Rede von einem gedämpften Alltagsrealismus, dann handelte es sich um Bilder von dänischen Landschaften, zum Beispiel“, sagt auch Kristian Handberg.

Wurde zum Wahrzeichen und Postermotiv der Rostocker Kunsthalle: „Black & White“ des dänischen Künstlers Jørgen Buch, 1977 Foto: Kunsthalle Rostock

So entstand in Rostock eine Kunstszene, in der verschiedene Kunstformen, Ideologien und politische Systeme aufeinandertrafen. Vom konservativen isländischen Maler Bragi Ásgeirsson bis zu Herluf ­Bidstrup – dänischer Karikaturist und „Hardcore-Kommunist“, wie Handberg ihn bezeichnet. „Nur wenige waren Verbündete des ostdeutschen Parteikommunismus. Einige waren in ihren Heimatländern Kommunisten gewesen und gehörten zu einem linken Milieu. Andere waren einfach neugierig und wollten selbst erleben, was in der DDR los war“, sagt er.

In der angespannten Lage jener Jahre, unter der ständigen Bedrohung eines Atomkriegs, suchten viele Künstler dann in Rostock einen freien Austausch unter ihren Kollegen, fernab einer politischen Repräsentation, die diese Biennalen auch bedeuteten. Vor allem die Gartenfeste des lokalen Bildhauers Jo Jastram müssen immer wieder ein Ereignis gewesen. „Die Biennalen hatten durchaus den Ruf, echte Künstlertreffen zu sein, mit allem, was dazugehört, von Festlichkeiten bis zu reichlichen Mengen Bier und Schnaps. Sie hatten eine ausgeprägte soziale Funktion“, fügt Handberg hinzu. Kaum überraschend, dass auch die Stasi diese Szene stets beobachtete.

Während des politischen Umbruchs nach dem Mauerfall 1989 wurden die internationalen Ausstellungen in Rostock langsam eingestellt. Für das Erbe der Biennalen – die große Sammlung skandinavischer Kunst seit 1945 in der Kunsthalle – interessierte sich viele Jahre niemand mehr. „Dieses Kapitel der europäischen Kunstgeschichte galt lange Zeit als tabu und politisch brisant. Die Tatsache, dass es sich um mehrere Künstler handelt, die einst überzeugte Kommunisten waren, führte dazu, dass man Angst hatte, es anzufassen. Auch deshalb fehlte das Bewusstsein dafür, was ein Ort wie die Kunsthalle Rostock an Werken und Anekdoten verbirgt“, sagt Handberg.

„Jørgen Buch. Black & White“: Kunsthalle Rostock, vom 4. August bis 17. November