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Chef der Hilfsorganisation IRC„Eine leicht entflammbare Welt“

Der britische Ex-Außenminister David Miliband sieht eine Zeit der Polykrisen. Der Chef der Hilfsorganisation IRC sagt, Lösungen würden schwieriger.

Krisen halten sich nicht an Landesgrenzen: Flüchtende aus dem Sudan kommen in der Stadt Adré in Tschad an Foto: Zohra Bensemra/reuters

Jannis Hagmann
Interview von Jannis Hagmann

taz: Herr Miliband, was ist herausfordernder: als Politiker politische Lösungen für Konflikte zu finden oder bei einer Hilfsorganisation die Folgen politischen Versagens zu mindern?

David Miliband: Wenn man in einer Regierung ist, kann man das große Ganze angehen, läuft aber Gefahr, die Menschen zu vergessen. Als NGO kann man den Menschen direkt helfen, aber vernachlässigt schnell das große Ganze. Aktuell aber ist das System in beiderlei Hinsicht überfordert, sowohl was die Bekämpfung der Ursachen angeht als auch die Behandlung der Symptome. Wir haben es auf der Welt mit einer Vielzahl von Krisen und Bürgerkriegen zu tun. Wir erleben eine Polykrise. 120 Millionen Menschen sind nach jüngsten UN-Angaben auf der Flucht.

Das ist ein historisches Hoch. Ihre Organisation hat zudem angegeben, dass viermal so viele Menschen in humanitärer Not sind wie noch vor neun Jahren. Woran liegt das?

Zum einen hat sich die Natur von Konflikten verändert. Es ist eine Zunahme von internationalisierten internen Konflikten zu beobachten. Interne Konflikte sind komplizierter als Konflikte zwischen Staaten. Denken Sie an die derzeit größte humanitäre Katastrophe der Welt: Sudan. Dort gibt es etliche Akteure im Land, aber auch viele Unterstützer außerhalb. Zweitens verschärft die Klimakrise die Spannungen auf der Welt und schafft immer mehr Zunder. Wir leben in einer sehr leicht entflammbaren Welt. Drittens sehen wir eine Schwäche von internationalen Institutionen und Normen, was ein Produkt von geopolitischer Fragmentierung und Wettbewerb ist. Der Stillstand im UN-Sicherheitsrat und all die Blockaden des UN-System gehen darauf zurück.

Inwiefern herrscht international mehr Wettbewerb?

Seit der Covid-Pandemie und insbesondere der russischen Invasion in der Ukraine mit ihren Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise ist der wirtschaftliche Kontext schwieriger geworden. 2023 war ein katastrophales Jahr, weil die ärmeren Länder sehr hohe Zinsen für ihre Schulden zahlen mussten und es zu einem Nettoabfluss von Geldern aus ärmeren Ländern an inter­natio­nale Gläubiger kam. Als Organisation beschäftigen wir uns mit Menschen, deren Leben durch Konflikte zerstört wird. Wir haben es also mit Menschen zu tun, die eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen fliehen. Aber der wirtschaftliche Kontext wirkt sich auf die drei genannten Faktoren aus: Konflikt, Klima und geopolitischer Wettbewerb.

Sie zeichnen ein düsteres Bild. Wie lässt sich in einem solch schwierigen Umfeld Positives bewirken?

Zunächst brauchen Menschen im Fall einer Katastrophe Informationen. Unsere Signpost-Initiative umfasst 25 länderspezifische Informationsplattformen, auf denen Binnenvertriebene oder Geflüchtete anderen Geflüchteten Informationen geben, wie sie Zugang zu Hilfe erhalten. Zweitens halte ich unsere Arbeit gegen Unterernährung für zentral. Unterernährung ist die Spitze der humanitären Pyramide. Wo Unterernährung herrscht, läuft auch alles andere schief. Die Menschen werden krank, gehen nicht in die Schule und so weiter. Drittens ist frühkindliche Entwicklung wichtig, einer der Bereiche, in die am wenigsten humanitäre Gelder investiert werden, obwohl die Hälfte der weltweit Vertriebenen Kinder sind.

Bevor Geld richtig investiert wird, muss es allerdings da sein. Macht Ihnen der Rechtsruck in vielen Ländern Angst? Wirkt sich das auf die Budgets für humanitäre Hilfe aus?

Es wäre kurzsichtig zu denken, je weniger man im Ausland ausgibt, desto weniger Probleme hat man. In der modernen Welt bleiben die Probleme nicht in dem Land, in dem sie entstehen. Mangelnde Investitionen im humanitären Sektor werden zu einer Quelle politischer Instabilität. Das haben wir in Afghanistan gelernt und in allen möglichen Zusammenhängen gesehen. Ich weiß, dass in Deutschland eine große Haushaltsdebatte geführt wird darüber, wie man mit den Belastungen durch die Ukraine und das geringere Wirtschaftswachstum umgeht. Aber Entwicklungshilfe ist ein sehr kleiner Teil der öffentlichen Ausgaben. Aus unserer Sicht ist sie die richtige Investition.

Wer keine Migranten will, sollte Geld ausgeben?

Das habe ich nicht so gesagt, weil es keine 1:1-Beziehung zwischen Auslandsinvestitionen und Migrationsströmen gibt. Zudem geht aus UN-Zahlen hervor, dass 69 Prozent der Menschen, die emigrieren, ins Nachbarland gehen. Die Menschen, die aus Sudan fliehen, landen zum Beispiel zu 69 Prozent im Tschad oder Südsudan, nicht in Düsseldorf.

Ihre Organisation hat eine Liste der schlimmsten Konflikte der Welt veröffentlicht. Auf Platz eins und zwei stehen Sudan und Gaza …

… gefolgt von Südsudan, Burkina Faso und Myanmar.

Im Interview: David Miliband

David Milibandist Präsident der Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) in New York. Von 2007 bis 2010 war er für die Labour-Partei Außenminister Großbritanniens. Aktuell wird über seine Rückkehr in die Politik in einer möglichen Labour-Regierung spekuliert.

Anders als der Gazakrieg generieren all diese Konflikte kaum Schlagzeilen. Ist das für Hilfsorganisationen ein Problem?

Es ist wichtig, der Notwendigkeit zu folgen, nicht den Schlagzeilen. Denn manchmal folgen die Schlagzeilen nicht dem Bedarf. Natürlich besteht in Sudan die Gefahr, dass der Konflikt vernachlässigt wird. Andererseits führt Aufmerksamkeit allein nicht zu Lösungen. Die Aufmerksamkeit für Gaza etwa hat keine Lösung im weiteren Sinne gebracht.

Aber bestimmt Spenden.

So einfach ist es nicht. In der Ukraine vor zwei Jahren oder Afghanistan vor drei Jahren gab es eine Menge Schlagzeilen, und das hat auch viel Geld gebracht. Das ist aber leider weder für Gaza noch für Sudan der Fall.

Dabei beschäftigt Gaza doch die Menschen.

Je komplizierter ein Konflikt ist, desto schwieriger ist es, Geldmittel zu beschaffen.

Bleiben wir bei Sudan und Gaza. Wie sieht es in beiden Fällen mit dem Zugang für Hilfsorganisationen aus? Ermöglichen die Konfliktparteien Hilfe?

Es gibt in beiden Konflikten Zugangsprobleme, sehr ernste Probleme. Genau wie der Schutz von Helfenden und Zivilisten ist humanitärer Zugang ein Rechtsanspruch. Sowohl im Sudan als auch in Gaza ist der Zugang für humanitäre Hilfe vielerorts sehr eingeschränkt, manchmal aufgrund der Gefahr für die Helfenden, manchmal durch Blockaden.

Blockaden?

Das gesamte Hilfssystem hängt davon ab, ob die Hilfe die Menschen erreicht, aber auch von der Fähigkeit von Zivilisten, sich Hilfe zu holen und sich in Sicherheit zu bringen. Im Falle Sudans können die Menschen das Land verlassen, im Falle Gazas können sie den Gazastreifen nicht verlassen.

Ist der Gazakrieg eigentlich ein außergewöhnlicher Konflikt?

Jeder Konflikt ist einzigartig. Die Herausforderung ist, humanitäre Grundsätze, die global gelten, aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber anzuerkennen, dass es unterschiedliche Kontexte gibt. In Gaza haben wir es mit einer sehr ­eigenen Geschichte zu tun. Aber auch Sudan ist komplex, weil die Geschichte des Konflikts weit in die Zeit reicht, als der Südsudan noch Teil des Sudan war. Seit 2011 ist dies nicht mehr der Fall.

Im Januar ordnete der Internationale Gerichtshof (IGH) Maßnahmen an, um die Palästinenser in Gaza vor der Gefahr eines Völkermordes zu schützen, indem ausreichend humanitäre Hilfe gewährleistet wird. Hat Israel die Anordnungen befolgt?

Wir sind eine Hilfsorganisation, kein Gericht, wir fällen keine Urteile. Aber was wir sagen können, ist, dass Mai und Juni für Hilfsorganisationen schwierige Monate waren, sehr schwierige sogar.

Sie sprechen von der Zeit seit Beginn der israelischen Militäroffensive auf die Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen?

Ja. Wir hatten mehrere medizinische Notfallteams, die in Gaza gearbeitet haben. Seit dem 6. Mai bis Anfang dieses Monats haben wir es nicht mehr geschafft, ein weiteres dorthin zu bringen.

Welche Forderungen leiten Sie daraus ab?

Der beste Weg, um Mitarbeitende von Hilfsorganisationen nach Gaza zu bringen und auch die Zivilisten zu schützen, ist die Unterstützung des Waffenstillstandplans von Joe Biden sowie die Freilassung der Geiseln durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen.

Nach einem baldigen Waffenstillstand sieht es aber weiterhin nicht aus. Ist denn der Pier, den die USA vor der Küste Gazas errichtet haben, eine Zwischenlösung, um den humanitären Zugang zu erleichtern?

Jede Erweiterung der Hilfskapazität ist eine gute Sache. Aber es gibt direktere Routen in den Gazastreifen, die nicht den Launen der windigen See ausgesetzt sind. Landübergänge eben.

Seit Monaten warnen Hilfsorganisationen vor der Gefahr einer Hungersnot in Gaza. Letzte Woche stellten Experten in einem Bericht für das internationale Klassifizierungssystem IPC fest, dass derzeit – anders als vor Kurzem befürchtet – keine Hungersnot herrscht. Eine Entwarnung?

Die Nahrungsmittelhilfe hat nie das nötige Niveau erreicht, um das Problem der Unterernährung flächen­deckend zu bekämpfen. Die Auswirkungen in den verschiedenen Teilen Gazas sind aber unterschiedlich. Anfangs betrafen die Warnungen vor einer Hungersnot, wir sprechen von IPC-Stufe 5, den Norden des Gazastreifens. Im Juni ging es dann weniger um den Norden, sondern um das Zentrum und den Süden. Die UN haben berichtet, dass mehrere Dutzend Kinder tatsächlich verhungert sind. Und das sind konservative Angaben.

Sagen Sie, dass es egal ist, ob eine Hungersnot offiziell erklärt wird oder nicht?

Wir brauchen dringend mehr Nahrungsmittel in Gaza. Wenn man wartet, bis eine Hungersnot ausgerufen wird, ist es zu spät. Wir dürfen weder IPC-Stufe 4 noch 3 normalisieren. Das wissen wir aus Somalia 2011. Damals war die Hälfte der Hungertoten bereits gestorben, bevor eine Hungersnot ausgerufen wurde. Man darf nicht auf eine Hungersnot warten, um das Problem der Ernährungsunsicherheit anzugehen. Das gilt für Gaza, wo 2 Millionen in humanitärer Not sind, genauso wie für Sudan, wo 19 Millionen Menschen gefährdet sind.

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