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Video von Entführung der Hamas-GeiselnWann endet der Albtraum?

Die menschenverachtende Strategie der Hamas ist aufgegangen. Daran werden auch neu veröffentlichte Aufnahmen vom 7. Oktober nichts ändern.

Demonstranten mit Fotos der als Geiseln genommenen IDF-Soldatinnen Karina Ariev, Agam Berger, Daniela Gilboa und Naama Levi Foto: Matan Golan/ZUMA Press/imago

E s ist ein Verzweiflungsakt, den die Angehörigen von fünf in Gaza verbliebenen israelischen Geiseln in dieser Woche begingen. Mit ihrem Einverständnis veröffentlichte das israelische Fernsehen Aufnahmen, die die Entführung der Frauen von der Militärbasis Nahal Oz durch Hamas-Terroristen am 7. Oktober zeigen. Die jungen Frauen, 19 und 20 Jahre alt, sitzen in ihren Pyjamas, gefesselt und blutüberströmt, an eine Wand gelehnt. Umringt sind sie von unzähligen Männern, Terroristen, die sie gefangen halten und später in einem Jeep nach Gaza verschleppen.

Die abscheuliche Gewalt ist in dem Video sicht- und hörbar, in den Worten der Terroristen, wie sie die Frauen beschimpfen, ihnen sagen, dass sie schön sind, und an ihren Handlungen, wie sie an ihnen zerren, als wären sie Vieh, und andere, offenbar bewusstlos oder schon tot, einfach liegen lassen.

Drei Minuten und zehn Sekunden dauert das Video. Das, was wir als Zu­schaue­r:in­nen sehen, ist dabei nur ein Bruchteil dessen, was die jungen Frauen an Gewalt und Erniedrigung erlebt haben – denn besonders gewalttätige Szenen wurden herausgeschnitten oder zensiert.

Wir sehen nicht, wie den jungen Frauen ihre Verletzungen zugefügt worden sind. Wir sehen nicht die toten Körper ihrer Freundinnen, nicht das Morden. Sexuellen Missbrauch, mögliche Vergewaltigungen sehen wir auch nicht, aber all dies wird angedeutet, in der Art, wie die Männer über die Frauen sprechen. Doch auch wenn wir es nicht sehen, kennen wir die Berichte, die Beweise: Untersuchungsergebnisse der Ermordeten, Erzählungen von befreiten Geiseln, von Überlebenden des 7. Oktobers, Videoaufnahmen, die verletzte Frauen zeigen.

Irgendwann ist jeder Schock vorbei

Dennoch kann kein Video der Welt annähernd nachvollziehbar machen, was den Geiseln angetan worden ist – und was sie seit über 230 Tagen durchleben müssen. Liri Albag, Karina Ariev, Agam Berger, Daniela Gilboa, Naama Levy: So heißen die Frauen, deren angstverzerrte, verletzte Gesichter seit wenigen Tagen durch die Medien gehen. Sie sind fünf von rund 130, vielleicht auch nur noch 50 lebenden Geiseln, die noch in Gaza festgehalten werden. Niemand weiß, wie viele bereits umgebracht worden oder im Krieg gestorben sind, ob diese fünf Frauen noch am Leben sind.

Irgendwann ist jeder Schock vorbei, Gesichter wenden sich ab vom Grauen und anderem zu, widmen sich dem eigenen Alltag, während für die Angehörigen und Freunde der Verschleppten kein Alltag mehr möglich ist, weil das Trauma und die Angst um die eigene Tochter, den Vater, die Geschwister oder Großeltern alles dominiert. Die Welt vergisst – diesen Eindruck haben die Familien der Geiseln, und auch ich teile diesen nach fast acht Monaten, die seit dem Terrorakt vergangen sind.

Ich bin bis heute davon überzeugt, dass die Welt den Schrecken sehen muss. Sie darf nicht wegschauen. Die Opfer der mörderischen Ereignisse vom 7. Oktober haben Gesichter, Namen, Geschichten. Und doch schmerzt es mich, dass nur die Verbreitung von Bildern bestialischer Gewalt es vermag aufzurütteln, in Erinnerung zu rufen, um was es geht: das Leben, die Unversehrtheit von Unschuldigen.

Die menschenverachtende Strategie der Terrororganisation Hamas ist aufgegangen: Sie konnten morden und verschleppen, ihre Taten stolz in die Welt streamen, sie später leugnen, Juden weltweit damit traumatisieren, ihre eigene Zivilbevölkerung als lebende Schutzschilde missbrauchen und weltweit Sympathie und Unterstützung für die von ihnen begangenen Massaker ernten.

Jede Tat, die unwidersprochen bleibt, die umgedeutet wird zu etwas Heroischem, einem legitimen Widerstand, verschiebt eine zivilisatorische Grenze. Es liegt in unser aller Verantwortung, diese Grenze zu verteidigen. Die Angst in den Gesichtern der Geiseln sollte uns eine Erinnerung daran sein, was auf dem Spiel steht.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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17 Kommentare

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  • Was sich Mitglieder der HAMAS erlaubt haben unterscheidet sich nicht von dem was im Einsatzgruppenprozess von Benjamin Ferencz angeklagt und dann auch verurteilt wurde. "Durch einen irregleiteten Fanatismus sind aus Menschen Bestien geworden…" ist ein sehr bekanntes und leider zeitloses Zitat von Lucie Adelsberger über ihre Zeit in Auschwitz. Dem ist leider nichts hinzuzufügen. Gewalt- und Opferdarstellungen in den Medien sind, auch wenn die Betroffenen sie erlaubt haben, ambivalent. Wozu entfesselte , indoktrinierte Menschen in der Lage sind ist durchgehend bekannt.. Srebrenica, Tutsi, Biafra, Holodomor, Pol Pot, Algerienkrieg ...



    Dazu braucht man eigentlich kein kein neues Video, vielleicht wegen des Mitgefühls für die Opfer und ihre Angehörigen.

  • Dss Schlimmste ist, dass sich die Palästinenser dieser Mörderbande nicht entgegen stellen!

  • Die Spirale aus Gewalt, Rache, Gewalt muss mit einem sofortigen Waffenstillstand gestoppt werden, u.z. für das Überleben der Geiseln und der Bevölkerung des Gaza. Der Terrorangriff der Hamas war kein legitimer Widerstand, sondern die Gewaltexplosion des Gefangenenlagers Gaza, die mit nichts zu rechtfertigen ist. Trotzdem, sie geschah nicht im luftleeren Raum: Unterdrückung durch Gefangenschaft, Besatzung, Entrechtung und Erniedrigung über Jahrzehnte kreiert Monster, deren Rache dann brutal ist. Die Realität des Konflikts um Land und Selbstbestimmung wurde von der israelischen Bevölkerung verdrängt. Das "Palästinenserproblem" als vernachlässigbar angesehe, das ab und zu "gemäht" werden musste.



    Aus dieser Selbsttäuschung wurde die israelische Gesellschaft brutal herausgerissen, nicht zuletzt durch die verlorene Hybris der eigenen Unbesiegbarkeit.



    Das persönliche Leid der Entführten und ihrer Angehörigen entspricht dem menschlichen Leid von ca 20.000 palästinensischer Frauen und Kinder, die bisher durch Israels Kriegsführung umgekommen sind.



    Jede verantwortungsvolle Regierung der Welt, diex deutsche eingeschlossen, muss den sofortigen Waffenstillstand fordern.

  • "Jede Tat, die unwidersprochen bleibt, die umgedeutet wird zu etwas Heroischem, einem legitimen Widerstand, verschiebt eine zivilisatorische Grenze. Es liegt in unser aller Verantwortung, diese Grenze zu verteidigen."

    Dieser Meinung bin ich auch. Die Täter des 07.10.23 und ihre Anhänger und Unterstützer in den westlichen wie nicht-westlichen Ländern, zeigen die mögliche Realisierung einer grausamen, brutalen, dystopischen Welt auf, die niemals Wirklichkeit werden sollte.

    Ich hoffe, jüdische Menschen/Israel lassen sich von der Weltöffentlichkeit nicht beirren oder verunsichern und bin überzeugt davon, dass die "Kontextualisierer" auch nur so lange kontextualisieren, bis es sie selbst trifft.

    • Michaela Dudley , Autorin , Journalistin/Kabarettistin
      @*Sabine*:

      Gut gesagt. Und danke vielmals für die solidarische Resonanz bezüglich meiner anderen Posts zu diesem Thema. Das schätze ich sehr.

      Wir sind in unserem Entsetzen und in unsere Wut nicht alleine. Allerdings haben einige Hemmung, ihre Ablehnung der "Free-Palestine"-Bewegung öffentlich zu äußern. Denn sie werden beschimpft, bedroht, gar bespuckt und Schlimmeres dazu.

      Wir müssen aber weiter dagegen halten. Denn die radikale Israel-Kritik ist nicht „nur“ abscheulich antisemitisich, sondern überhaupt demokratiefeindlich.

  • Was sagen Sie zu den Enthüllungen von The Intercept " “Between the Hammer and the Anvil” The Story Behind the New York Times October 7 Exposé "?

    "Anat Schwartz had a problem. The Israeli filmmaker and former air force intelligence official had been assigned by the New York Times to work with her partner’s nephew Adam Sella and veteran Times reporter Jeffrey Gettleman on an investigation into sexual violence by Hamas on October 7 that could reshape the way the world understood Israel’s ongoing war in the Gaza Strip. By November, global opposition was mounting against Israel’s military campaign, which had already killed thousands of children, women, and the elderly. On her social media feed, which the Times has since said it is reviewing, Schwartz liked a tweet saying that Israel needed to “turn the strip into a slaughterhouse.”

    “Violate any norm, on the way to victory,” read the post. “Those in front of us are human animals who do not hesitate to violate minimal rules.”"

    Mehr: theintercept.com/2...chwartz-october-7/

    • @Florian Henig:

      Ich weiß jetzt nicht was das mit dem Artikel der Autorin zu tun hat. Die Taten sprechen für sich. Die im Artikel beschriebenen Umdeutungen sprechen für sich. Beides ist gelinde ausgedrückt abscheulich und erbärmlich. Das sollte man für sich stehen lassen und nicht einen Vergleich heranziehen. Finde ich persönlich völlig deplatziert. Denn Leid gegen Leid aufzurechnen entbehrt jeder Logik. Solidarität mit den Opfern und Geiseln wäre angemessen und nicht "from the river.." oder ähnliche Parolen oder ein Verweis auf das Verhalten der anderen Seite.

    • @Florian Henig:

      Basiert auf Recherchen von Grayzones Max Blumenthal, was the intercept ein bissel vergessen hat zu erwähnen.

      Die Juden von Grayzone haben den ganzen Heat abbekommen, sie seien Vergewaltigungsleugner etc.

      Dort findet sich auch einige mehr zum 7. Oktober, auch schon recht früh, was wir seit ein paar Wochen auch von Al Jazeeras Doku zum 7. Oktober bestätigt bekommen haben.

  • Die Frauen sind übrigens Soldatinnen.

    • @Hans Fuchs:

      In erster Linie sind es Menschen und sollten auch als solche angesehen und behandelt werden. Die Aufklärung scheint auch im Kant Jahr noch nicht bei jedem angekommen zu sein.

    • Michaela Dudley , Autorin , Journalistin/Kabarettistin
      @Hans Fuchs:

      Dass die Frauen zum Zeitpunkt ihrer völkerrechtswidrigen Geiselnahme aktive Soldatinnen waren, rechtfertigt in keinerlei Weise die Gewalt, die ihnen zuteil wurde. Zum einen waren sie alle grundsätzlich unbewaffnet gewesen. Überdies hätten sie als festgenommene Kombattantinnen eigentlich den Schutz genießen müssen, der Kriegsgefangenen gemäß der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Abkommen zusteht.

      Aber Sonderfall Hamas: Die widerlichen „Widerstandskämpfer“ wollen einerseits als legitimierte Militärmacht eines vermeintlich anerkennungswürdigen Staates betrachtet werden, gedenken aber andererseits nicht, dem Ius in Bello Folge zu leisten.

      Soldatinnen, ob von regulären Kämpfern oder Terroristen festgenommen, sind keine Spielobjekte, sondern schützenswerte Menschen.

    • @Hans Fuchs:

      "Die Frauen sind übrigens Soldatinnen."

      Mutige Frauen. Unbewaffnet bzw. im Schlaf leider chancenlos in der Abwehr einer zahlenmäßig überlegenen Schar von bewaffneten Kämpfern der Gaza-Hamas-palästinensischen Seite.

  • Unfassbar, erschreckend, schockierend.



    Und hier dürfen Menschen protestieren ohne jemals diese Mörderbande zu verurteilen.

    • @MIA R.:

      Gegen Benjamin Netanjahu und Joaw Gallant wurden doch jetzt Haftbefehle vor dem internationalen Strafgerichthof beantragt.



      Im Zuge der Verfahren und weiterer Ermittlungen werden auch ncoh mehr (internationale) Mittäter ein Ticket nach Den Haag bekommen.

  • vielen Dank dafür, dass die TAZ in diesem Konflikt so umsichtig und besonnen bleibt!



    das ist keine Selbstverständlichkeit. GRACIAS

  • Und mit das Schlimmste und Deprimierendste ist, dass ausgerechnet die Hamas durch die Anerkennung eines Staates Palästina nun in den Augen der Palästinenser auch noch aufgewertet wird, weil sie durch ihre Verbrechen das erreicht hat, was die PA nie geschafft hat. Erbärmlich und niederträchtig.

    • Michaela Dudley , Autorin , Journalistin/Kabarettistin
      @PeterArt:

      Eine scheußliche Entwicklung, die jüdische Menschen weltweit noch mehr gefährdet und antidemokratische Kräfte umso eifriger entfesselt.