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1 Jahr nach Bruch des Kochowka-StaudammsEin neues Ökosystem entsteht

Als ein russischer Angriff die ukrainische Talsperre zerstörte, befürchteten viele eine ökologische Katastrophe. Was geschah dann?

Da wächst schon wieder was: Auf dem trockengefallenen Boden des ehemaligen Stausees entsteht neues Grün Foto: dpa

Kyjiw taz | Toxischer Schlamm, Landwirtschaft und Trinkwasserversorgung gefährdet, eine unbewohnbare Gegend: Die Befürchtungen waren apokalyptisch, als am 6. Juni 2023 eine Explosion den Kachowker Staudamm weitgehend zerstörte und viele Ortschaften überflutet wurden. Der Angriff auf den Staudamm sei ein Akt eines Ökozids gewesen, sagen Michaljo Mulenko, Anna Kuzemko und Olexij Vasyliuk heute. Das Schlimmste sei allerdings nicht eingetreten.

Alle drei sind nahe dran. Mulenko leitet die Abteilung Umweltschutz im Naturreservat Chortyzja in Saporischschja, Kuzemko ist führende Forscherin am Institut für Botanik der Na­tio­na­len Akademie der Wissenschaften der Ukrai­ne in Kyjiw und Vasyliuk Vorstandsvorsitzender der Ukrainian Nature Conservation Group. Sie beobachten, wie sich Natur und landwirtschaftliche Nutzflächen seit dem terroristischen Angriff auf die Infrastruktur entwickelt haben.

Grundsätzlich zerstören großflächige Eingriffe in die Landschaft immer Ökosysteme. Auch der Bau des Staudamms vor rund 70 Jahren habe irreparable Schäden an Tier- und Pflanzenwelt hervorgebracht, sagen die Ex­per­t*in­nen. Unter Stalin mit Hilfe deutscher Kriegsgefangener errichtet, sei er damals ebenfalls ein Verbrechen an den Menschen in den Ortschaften gewesen, die im Stausee verschwanden.

Als der Damm nun gesprengt wurde und das Wasser ein riesiges Gebiet überschwemmte, seien wieder alle Tiere dort ums Leben gekommen, berichtet Vasyliuk. Auch Fische, die zunächst überlebt hatten, wurden ins Meer getrieben und verendeten dort, weil sie nicht im Salzwasser leben können. Umgekehrt wurde das Ökosystem des Schwarzen Meers durch das einströmende Süßwasser mit einer Menge toxischem Schlamm aus dem Gleichgewicht gebracht. Die gerade brütenden Vogelarten an der Küste seien empfindlich gestört worden. Auch ohne genaue Daten zu haben, könne man von einer bis dato für die Tierwelt in der Ukrai­ne in ihren Ausmaßen nicht bekannten Katastrophe sprechen.

Das Leben findet einen Weg

Trotz alledem beobachteten die For­sche­r*in­nen „eine erstaunliche Entwicklung“: „Wir wussten im Juni 2023 nicht, wie es mit dem betroffenen Gebiet weitergehen wird“, sagte Mulenko der taz. „Wir fürchteten eine Wüstenbildung, diesen Schlamm, die vielen Pestizide.“

Hier hat sich ein neues Ökosystem mit funktionierender Tierwelt entwickelt

Michaljo Mulenko, Naturreservat Chordyzja

Doch offenbar habe die Zerstörung zumindest für die Flora in einem Zeitfenster stattgefunden, in dem sich die Natur selbst helfen konnte – kurz nach der Blütezeit und dem Pollenflug von Weiden- und Pappelbäumen. „Auf dem Stausee hatten wir viel Pappelflaum“, erklärt Mulenko. „Und als dann das Wasser den Dnipro hinunterfloss, flossen auch die Samenfasern mit.“ Diese hätten an bestimmten Stellen des früheren Stausees sehr günstige Wachstumsbedingungen vorgefunden. Inzwischen habe sich dort ein grüner Bereich mit Weiden und Pappeln gebildet.

Allen Befürchtungen zum Trotz überlebten sie auch den Winter, wachsen immer noch – und nun sei das Terrain „auch interessant für die Tierwelt“, sagt Mulenko. Hirsche und Rehe sind gekommen, die sich von den jungen Zweigen ernähren. Hier habe sich also ein neues Ökosystem mit einer funktionierenden Tierwelt entwickelt, so Mulenko.

Seine Kyjiwer Kollegin Kuzemko pflichtet ihm bei. Drei Wochen nach der Explosion habe sie das Gebiet besucht, berichtet sie der taz. Und da sei schon klar gewesen, dass man keine neue Wüste zu fürchten brauche, weil die weichen Ablagerungen mit Weidensämlingen übersät waren. Im Oktober seien die Weiden durchschnittlich zweieinhalb bis drei Meter hoch gewesen.

Ihrer Einschätzung nach ist die neue Grünfläche zwei Faktoren zu verdanken: Die Samen seien nach der Sprengung auf einen nährstoffreichen Boden gefallen, wo es schon vor dem Bau des Stausees Auenwälder gegeben hatte. Die Natur sei eben nicht vergesslich, sei klüger als der Mensch, meint sie. Zweitens sei der Zeitpunkt günstig gewesen. Wäre der Damm Ende des Sommers angegriffen worden, hätten sich vielleicht gebietsfremde Arten stärker ausgebreitet.

Andere Energiequellen stehen bereit

Die Folgen für den Menschen sind viel schwerer abzuschätzen als die für die Natur, die eben ihren Weg finde.

Vasilyuk beobachtet, wie sich das Mikroklima entwickelt. Mit dem Ende des Staudamms habe auch die Luftfeuchtigkeit in anliegenden Städten wie beispielsweise Enerhodar abgenommen, damit seien die Luft- und Wasserqualität insgesamt sogar besser geworden. Die Energie, die das Wasserkraftwerk des zerstörten Staudamms geliefert habe, ließe sich auch mit Solarenergie ersetzen, sind die drei Umweltschützer überzeugt.

Allerdings, das ist den Wis­sen­schaft­le­r*in­nen klar: Die Folgen für den Menschen sind viel schwerer abzuschätzen als die für die Natur, die eben ihren Weg finde. Welche von der Überschwemmung betroffenen Gebiete bewohnt und landwirtschaftlich wieder nutzbar gemacht werden können, sei ohne eine intensive chemische Untersuchung der Böden nicht zu sagen.

Wie soll es weitergehen? Kuzemko und Vasilyuk wollen keinen neuen Staudamm, Mulenko könnte sich nur mit einem weitaus kleineren Damm abfinden. Kuzemko verweist auf das von der EU verabschiedete Gesetz zur Erneuerung der Natur, in dem auch das Ziel verankert ist, 25.000 Kilometer Flüsse wieder in ihre natürlichen Kanäle und Überschwemmungsgebiete zurückzuführen. Nun habe die Ukrai­ne eine Möglichkeit, sich in diese Bemühungen einzuklinken, indem sie den natürlichen Flusslauf des Dnipro wiederherstelle.

Und die wirtschaftlichen Interessen? Der Verlust des Wasserreservoirs erscheint den Um­welt­schüt­ze­r*in­nen weniger dramatisch, als sie zunächst angenommen haben. Das hat auch wieder mit Veränderungen zu tun, die der Krieg gebracht hat: Ehemals landwirtschaftlich genutzte Nutzflächen sind entweder umkämpft oder vermint, sie zu bewässern, ist also überflüssig. Auch die Berechnungen zum Bedarf an Trink- und Industriewasser beruhten noch auf Zahlen aus der Zeit vor der russischen Invasion, sagt Kuzemko. Aktuell aber finden hier Kampfhandlungen statt, die meisten Be­woh­ne­r*in­nen sind geflohen, die Industriebetriebe von den Russen vernichtet worden.

Mulenko, Kuzemko und Vasyliuk wissen, dass es schwer ist, die Entscheidung der Regierung zum Bau eines neuen Stausees zu beeinflussen. Deswegen gelte es, so Mulenko, die Investoren von einer umweltfreundlichen Lösung zu überzeugen. Doch solange dieses Gebiet von Russland kontrolliert wird, ist an die Umsetzung irgendwelcher Pläne nicht zu denken.

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7 Kommentare

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  • Entgegen der allgemeinen Vorstellung sind solche katastrophalen Ereignisse für die Natur gut verkraftbar, gar Voraussetzung für gewisse Dynamiken.



    Eine ganze Reihe von Arten ist genau an solche Pioniersituationen angepasst, Die Pappeln und Weiden wachsen dort nicht ohne Grund. Die landläufige Vorstellung Natur sei Gleichgewicht oder ein Dauerzustand sieht nur einen Teil von dem was Natur ist. Katastrophen, Neuanfänge gehören genauso dazu. Muß man nicht abfeiern, aber verwunderlich ist die Verwunderung, die nach solchen Ereignissen regelmäßig selbst bei Naturschützer geäußert wird. Der aktuelle Naturschutz legt seinen Fokus auf Dauergesellschaften, z.B. Dauerwald, die Artenvielfalt auf sogenannten "gestörten Standorten" ist kaum im Fokus.

    • @nutzer:

      Das ist bestimmt richtig, für dieses und andere regionale Ereignisse. Aber es darf nicht den Blick auf die Tatasache verdecken, dass es in der Erdgeschichte auch immer wieder Ereignisse und Entwicklungen gab, die das gesamte System Leben in eine große Krise, also in ein Massensterben der Arten gestürzt haben. Und allem Anschein nach ist der momentane Klimawandel das nächste dieser Ereignisse. In diesem Fall sind "Guck mal, das ruckelt sich schon wieder zurecht"- Parolen das Falsche!

      • @Tinus:

        aus politischer Korrektheit, aber wissenschaftliche Tatsachen nicht auszusprechen ist nicht nur falsch, sondern grundfalsch.



        Es geht nicht darum der Zerstörung das Wort zu reden, sondern anzuerkennen, dass auch Extremsituationen Ihre Spezialisten haben.



        In der Forst z.B. herrscht momentan die Vorstellung des Dauerwaldes als einzig wahre, pure Natur.



        Und so wird der Wald heute fast ausschließlich bewirtschaftet, geschlossenes Kronendach, am Grunde zu dunkel. Die Verwunderung dass Auer- Birk und Haselhuhn keine Chance haben ist aber groß...



        Das Absterben der Fichten im Hochharz, wird als Untergang der Natur gesehen, ohne zu bemerken, was da an Arten wieder eine Chance bekommt, auf dem Weg der Sukzession zum neuen Hochwald.



        Man sollte eine Tatsachenfeststellung nicht aus politischer Korrektheit oder Moral unterbinden, weil sie falsch verstanden werden könnte....

    • @nutzer:

      Stimmt schon: auch ein Massenaussterben macht nur Platz für neue Spezies.



      Allerdings ist der Mensch nicht gerade das am besten anpassungsfähige Wesen; aus Eigennutz sollte uns eine gewisse Beständigkeit also ein Anliegen sein.

  • Schön zu sehen, dass es auch positive Nachrichten gibt in dieser schrecklichen Zeit. Und wenn ein paar sowjetische Umweltsünden korrigiert weden können umso besser!

  • Untertitel und Text passen nicht zusammen, es ist ja nach wie vor ungeklärt, wer bzw. was die Explosionen ausgelöst hat.

    • @Kay Brockmann:

      Ein von russischen Truppen besetzter und verminter Staudamm...es waren also bestimmt die Klingonen, der Joker oder eine spontane Sebstentzündung.

      Bitte bedenken Sie dass es nicht



      möglich ist einen Staudamm mit einer einem kleinen Raktetenschlag so komplett zu zerstören.



      So etwas passiert nur von innen heraus.



      Oder Ukraine hätte ihr komplettes Arsenal darauf konzentrieren müssen. Und das wäre aufgefallen.

      Außerdem ist es dennoch richtig denn es ist nach einem russichen Angriff passiert.



      Oder wie haben die Russen den Staudamm unter Kontrolle bekommen?