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Mediathek der Bewegung

Das Onlinearchiv der Freien Radios ist eine Wundertüte des Wahnsinns. Und viel eher Kulturerbe als so manches andere

Von Jan-Paul Koopmann

Es gibt nur wenig auf der Welt, das Linksradikalen mehr Freude bereitet, als endlose Vorträge zu halten. Außer vielleicht: endlosen Vorträgen zuzuhören. Natürlich ist es ein Running Gag, aber eben einer mit doch sehr wahrem Kern, dass unter jeder Ankündigung potenziell endloser linksradikaler Vortragsveranstaltungen früher oder später die berüchtigte Frage aufploppt: „Wird es einen Audiomitschnitt geben?“ Und erstaunlich oft lautet die Antwort schlicht „Ja.“

Dass man sich für die Sternstunden und Tiefschläge linker Debatten heute nicht mehr an missmutigen Ge­sichts­kon­trol­leu­r:in­nen vorbei an ihre verrauchten Austragungsorte schleichen muss, ist nicht zuletzt das Verdienst freier alternativer Radiosender. Die waren der Szene immer schon nah, haben ihre Vorgeschichte nicht selten als Piratensender in der Illegalität, beginnend mit Radio Dreyeckland, das seit den 1970er Jahren zwischen Schweiz, Frankreich und Deutschland die Anti-AKW-Bewegung begleitete.

Bis heute ist ein Teil der inzwischen liberalisierten Privatradiolandschaft personell und räumlich mit den linken Zentren verbandelt. Ganz besonders gilt das für um die Jahrtausendwende entstandenen Projekte wie das Freie Sender Kombinat (FSK) in Hamburg oder Radio Corax aus Halle. Und die spielen aller Sorgen um Frequenzen und Senderklassen zum Trotz auch im Internet und sozusagen bundesweit in den Jugendzimmern des kürzlich anpolitisierten Nachwuchses.

Ausdrückliche Feindschaft

Besucht man das Audioportal Freier Radios im Internet unter www.freie-radios.de, findet man mehr als 60.000 Beiträge aus der Welt freier Radios. Was natürlich nicht gleichbedeutend mit linken Politgruppen ist, aber sich doch erklärtermaßen (und aus der gelebten Praxis heraus) als basisdemokratisch und unkommerziell versteht – und in ausdrücklicher Feindschaft gegenüber „Sexismus, Antisemitismus, Rassismus oder Faschismus“.

Über die Jahre ist das gemeinsame Archiv dieser Sender zu einer Mediathek der Linken geworden: eine Wundertüte, die für Außenstehende mitunter nicht ganz einfach zu navigieren sein mag, dafür bemerkenswert dichte Einblicke ins Herz der Bewegung liefert. Und in ihre Geschichte: von der wochenlangen Liveberichterstattung über geräumte Bauwagenplätze in Hamburg mit Servicehinweisen über die aktuellen Sammelplätze und Absperrungen der Polizei („Wir geben den Zuhörenden nochmal die Nummer des Ermittlungsausschusses bekannt“) über Veganismus und Menschenhass – oder den „Acid Communism“: das Scheitern von Psychedelika für die freie neue Welt in den 1960er Jahren.

Zum Teil sind das journalistische Formate: Interviews, Kommentare, Features oder Berichte, die ein Geschehen aufbereiten und verorten. Radio eben, auch wenn aus rechtlichen Gründen beim Archivierten nicht selten auf die Musik verzichtet werden muss. Noch spannender für linke Theorie und Praxis sind aber ohnehin die so beliebten und eben nicht bearbeiteten Mitschnitte von Diskussionsveranstaltungen, inklusive ihrer Zwischenrufe, brüchig werdender Stimmen und zarter Moderationsversuche in verbissen-antiautoritärer Umgebung.

Es war mal eine große Hoffnung auf die Wissensproduktion im Web 2.0, die hier im erst mal dröge scheinenden Archiv noch immer überwintert. Mag ja sein, dass neun von zehn Politblogs, die solche Sounddateien früher eingebunden, verbreitet und diskutierbar gemacht haben, heute irgendwo als Datenmüll auf untoten Plattformen verrotten – aber geben tut es sie schon noch, diese ominösen Audiomitschnitte.

Und wer weiß: Vielleicht macht sich ja irgendwann eine neue linke Generation ans Bergen dieser Inhalte, wenn sie der Aufmerksamkeitsökonomie bescheuerter Like-oder-Dislike-Debatten auf sozialen Medien erst überdrüssig geworden ist. Mit etwas Glück ist es bis dahin immer noch da, dieses Sammelbecken historischer Auf- und Umbrüche, voller Fehleinschätzungen, knapp verpasster Siege, grandioser Experimentalmusik und mitunter verzweifelter Notwehraktionen gegen staatliche Repression. Alles andere wäre eine kleine Tragödie.

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