Berlinale-Dokumentarfilm aus Österreich: Unterstützung weggespart
Ruth Beckermann begleitete für ihre Doku „Favoriten“ Wiener Grundschüler. Die müssen neben dem Einmaleins auch die deutsche Sprache lernen.
Vor zwei Jahren erhielt Ruth Beckermann für ihren als feministische Casting-Lese-Show im Studio inszenierten „Mutzenbacher“-Film einen Preis der Encounters-Jury der Berlinale. Da saß sie schon längst an ihrem neuen Film, der ganz auf der anderen Seite der Palette dokumentarischer Formen angesiedelt ist. Es sei ihre erste Arbeit des direct cinema überhaupt, sagte die Regisseurin beim Q&A nach der gefeierten Welturaufführung in der Akademie der Künste.
Für dieses Debüt hat sich die gestandene Filmemacherin mutig an einen der kniffligsten Orte für einen improvisierenden Dreh gewagt, eine Grundschule; und keine beschauliche Dorfklitsche wie in Nicolas Philiberts „Être et avoir“, sondern die größte Volksschule im Wiener Bezirk Favoriten, der sozial nicht ganz so begünstigt ist, wie der Name klingt.
Auch die 25 Kinder in der Klasse von Frau Idiskut haben Väter, die auf dem Bau, beim Paketdienst oder in der Pizzeria arbeiten. Die Mütter sind Krankenpflegerinnen, Putz- oder Hausfrauen, auch wenn einige im Herkunftsland studierten oder akademische Berufe hatten. Eine Imamin und einen Imam gibt es auch. Die Familien von Alper, Beid, Hafsa, Manessa, Melissa, Muhamad und den anderen kommen aus Albanien, Bosnien, Bulgarien, Serbien, Syrien oder der Türkei, bei keiner wird zu Hause Deutsch gesprochen.
So versucht die Lehrerin, neben dem Lehrplan auch die Sprache zu vermitteln. Sie unterrichtet energisch und einfühlsam in allen Fächern samt Sport und ist immer wieder auch als Unparteiische gefordert. Doch den objektiven Mangel kann sie nicht mit Idealismus kompensieren. Denn in der Klasse ist die Lehrerin auch in überfordernden Situationen allein. Und außerhalb wurde die Unterstützung durch Sozialarbeit oder besondere Sprachförderung längst weggespart.
19. 2., 13 Uhr, Cubix 7 und Cubix 8.
25. 2., 13.30 Uhr, International
Auch die Schüler standen hinter der Kamera
Fast drei Jahre lang hat Beckermanns Team nach der Covid-Unterbrechung in Intervallen mit den Kindern gedreht – von der ersten bis in die vierte Klasse. Dabei turnten Kameramann Johannes Hammel und Ton-Angler Andreas Hamza im Klassenraum durch die Reihen, während Beckermann und Co-Autorin Elisabeth Manesse beobachtend im Eck saßen. Um die Perspektive zu erweitern, wurden an die Schüler und Schülerinnen auch selbst Kameras und ein Stativ ausgegeben.
Da zeigten manche mit großen Problemen im Kopfrechnen im Interviewen anderer Kinder und der Lehrerin viel Talent. Ilkay Idiskut antwortet offen – und setzt sich in vielen ganz direkt ausgetragenen Wortgeplänkeln mit den SchülerInnen – etwa übers Schminken oder Schwimmen – immer wieder gegen patriarchale Stereotype für die Rechte der Mädchen und Gerechtigkeit allgemein ein.
Doch im Unterschied zu etwa „Herr Bachmann und seine Klasse“ steht in Beckermanns Film nicht die Pädagogin im Fokus, sondern die Kinder; und das Versagen eines Schulsystems, das das besondere Engagement der Lehrerin erst notwendig macht. Denn wie in Deutschland benachteiligt es die Entwicklungschancen derer stark, die für ihre Bildung auf öffentliche Schulen angewiesen sind, weil ihre Familien sie trotz bestem Willen nicht mit dem Wichtigsten unterstützen können: der Sprache, die die Basis gesellschaftlicher Teilhabe ist.
Die Folgen sind langfristig und gewichtig, denn auch in Österreich wird am Ende der vierten Klasse für die weitere Bildung selektiert. Es ist die Kunst dieses Films, dass er trotz bitterer Erkenntnisse Mut und Aufbruchswillen verbreitet. Das liegt an der Energie und dem starken Humor vieler Szenen und der begründeten Hoffnung, dass sich wenigstens einige der Mädchen mit Klugheit und vorausschauender Aufmüpfigkeit gegen das für sie Vorgesehene durchsetzen werden.
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