Nachwahl in Großbritannien: Die Kandidatin lächelt und schweigt
Bei dieser parlamentarischen Nachwahl dürften die britischen Tories verlieren: Neben Labour hegt eine rechte Partei Hoffnungen in Wellingborough.
Doch dann wurden ihm die Anschuldigungen eines Mitarbeiters zum Verhängnis. Dieser behauptete, dass Bone sich 2013 ihm gegenüber entblößt und zu einer Massage gedrängt und ihn danach gemobbt habe. Bone stritt alles ab, die Polizei stellte das Verfahren ein, doch das Parlament suspendierte ihn für sechs Wochen. Ein damit ermöglichtes Volksbegehren in seinem Wahlkreis zu einer Neuwahl besiegelte Bones parlamentarische Zukunft.
Die Konservativen scheinen wenig Hoffnung zu hegen, den Wahlkreis Wellingborough bei der Nachwahl am 15. Februar halten zu können. Ihre Kandidatin Helen Harrison, eine Kreisrätin, ist Peter Bones Lebensgefährtin. Sie meidet die britischen Medien. Ihr Wahlkreisbüro sieht verlassen aus: Dreckige Fenster, davor ein mit Müllsäcken gefüllter und mit Vogelkot übersäter Wagen mit platten Reifen, einer Radkralle und einer Abschleppwarnung auf der Windschutzscheibe. Gleicht dieser Anblick dem Zustand der Konservativen?
Harrisons Flugblätter heben hervor, dass sie genauso rechts sei wie ihr Vorgänger, etwa als Mitgründerin der Brexit-Kampagne „Grassroots Out“ von Nigel Farage. Die einstige Labour-Abgeordnete Kate Hoey, die zu „Grassroots Out“ zählte, verrät der taz, dass eher Peter Bone selbst Mitgründer war. Die Halbwahrheit soll Harrison politische Glaubwürdigkeit schenken, außerdem sei sie als Physiotherapeutin die richtige Kandidatin für Verbesserungen im örtlichen Gesundheitssystem.
Es könnte knapp werden, sagt Labour
Für Labour soll die 28-jährige Gen Kitchen den Wahlkreis holen. Bei den Wahlen 2019 holten die Konservativen noch 62 Prozent der Stimmen, gegen 26 Prozent für Labour. Das Labour-Wahlkampfbüro ist voll mit jungen und alten Parteihelfer:innen, einige hämmern an ihren Laptops, andere diskutieren, wer heute wo hinmuss. Ängstlich genehmigt man der taz ein Foto, aber kein Fragerecht. Kitchen lächelt und flüchtet kommentarlos weiter. Man sei zuversichtlich, doch es könne knapp werden – das ist alles, was die Pressesprecherin der taz gibt.
In den an Wähler:innen verteilten Infos wird erzählt, dass Gen Kitchen für schwerkranke Kinder gearbeitet habe. Gemeint ist eine Tätigkeit als Spendensammlerin. Außerdem steht da, dass ihre Eltern beim Militär dienten. Soll das rechten Wähler:innen imponieren? Labours Themen sind jedoch die richtigen. Es geht um den Niedergang der Innenstadt, Messerverbrechen, das kaputte Gesundheitssystem, verfallende Straßen.
In der Fußgängerzone, wo es schon lange keinen Wochenmarkt mehr gibt, hat sich am frühen Vormittag die Partei „Reform UK“ breitgemacht, die jüngste Parteigründung des Rechtspopulisten Nigel Farage. Die türkisen Banner des Standes erinnern an ihre Vorgängerpartei, die Brexit Party, die vor fünf Jahren die letzten britischen Europawahlen gewann. Reform UK will jetzt auch wieder Labour und den Tories Dampf machen, in landesweiten Umfragen steigen ihre Werte am deutlichsten und sie haben die Liberaldemokraten als dritte Kraft in den Umfragen überholt.
„Unsere Geschichte, unsere Kultur“: die rechte Reform UK
Die freiwilligen Parteihelfer:innen von Reform UK sind größtenteils im Rentenalter. Der 72-jährige ehemalige Taxifahrer Tim Parry gibt an, bereits seit den Jahren von Ukip (United Kingdom Independence Party), Vorläufer der Brexit Party, dabeizusein. Reform UK kandidiert hier mit ihrem Co-Parteichef Ben Habib, ein in Pakistan geborener, in England privatgeschulter und in Cambridge diplomierter Finanzexperte, der 2019 für die Brexit Party kurz ins EU-Parlament gekommen war. In seinem Wahlkampfmaterial lobt Habib, dass wegen des Brexits britische Arbeiter:innen nicht mehr durch „ungezügelte Einwanderung“ unterboten werden können. Im gleichen Flyer gibt es Ähnliches von Nigel Farage zu lesen, während Parteichef Richard Tice „Woke-Blödsinn“ geißelt.
Reform UK sei weder rechtsextrem, faschistisch, xenophob noch rassistisch, sagt Habib der taz am Telefon. „Was Einwanderung betrifft, sind wir nicht mal gegen Einwanderung, sondern nur gegen Einwanderung in der gegenwärtigen Geschwindigkeit.“ Reform UK fordere lediglich eine offene Debatte über den Schutz, „unserer Geschichte, unserer Kultur, unserer Sprache und unserer Gesellschaft.“ Auf die Frage, wieso man dafür nicht die Konservativen wählen sollte, antwortet Habib, die hätten bewiesen, dass sie mit ihren verschiedenen Flügeln nicht funktionieren.
Auf der Straße zeigt sich ein 22-jähriger Politikstudent an Reform UK interessiert. „Mir sagen die Aussagen über Steuersenkungen zu“, sagt er und verweist auf die Steuerlast, die unter den Konservativen auf die höchste seit dem Zweiten Weltkrieg gewachsen ist. Doch Ehepaar Lianne und Michael Batten, er LKW-Fahrer, sie Krankenpflegerin, beide Anfang 50, gefällt zwar einiges an Reform UK, nicht aber das Überbordwerfen der britischen Klimaschutzziele. Ihre Stimme ginge deshalb an Harrison. Wieso nicht Labour? „Die behaupten alles, nur um zu gewinnen“, sagt Michael Batten.
Menschen statt Slogans: Die Parteilose
Doch manche sprechen weder von den einen noch den anderen. Buchhalterin Martine Kingsley, um die 50 Jahre alt, will die unabhängige Kandidatin Marion Turner-Hawes wählen. Sie sei die einzige, der wirklich etwas an der Stadt liege. „Niemand anders ist für die Rettung unserer Bäume verantwortlich“, sagt sie.
Die 59-Jährige ließ sich bereits 2015 und 2019 für die Grünen aufstellen, kam aber nicht über fünf Prozent. „Ich bin heute der Meinung, dass Unabhängigkeit am besten ist, weil man dann nicht auch noch für die Partei organisieren muss“, erzählt sie der taz. Turner-Hawes lässt ihre Karriere Revue passieren: Programme zur städtischen Wiederbelebung in Birmingham und Nord-London, ein Selbsthilfe-Unterstützungsnetzwerk für Menschen mit Behinderungen, Programme zur Müllbeseitigung in verwahrlosten Ecken und eine Aktion zur Rettung von 61 Bäumen, die durch den Bau einer Umgehungsstraße bedroht sind.
„Meine Vision ist, dass wir als Menschen und Gemeinschaften zusammenarbeiten und dadurch unser Leben verbessern können“, resümiert sie. Ihre Partei, das seien die Menschen der Stadt. Sie hofft, dass Gespräche mehr zählen als die lauten Slogans der Parteimaschinen.
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