Retrospektive der Berlinale: Mehr wildes Denken
Die Retrospektive versammelt unter dem Titel „Das andere Kino“ mutiges alternatives Filmemachen aus den Beständen der Deutschen Kinemathek.
Sparen hat seine guten Seiten, diese Binsenwahrheit nutzt die Retrospektive der Berlinale mit kreativem Witz. Weniger Programmslots, ein geringeres Budget und rigorose Planungsvorgaben lenkten den Blick des Auswahlteams der Deutschen Kinemathek auf Schätze aus dem eigenen Haus.
Zuständig für das Retrospektive-Programm und die Berlinale Classics ist das größte der deutschen Filmarchive schon lange. Es holte vergessene Klassiker auf die Leinwand zurück, feierte Stars, 2022 beispielsweise die „No Angels“ Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard, oder widmete sich einem Genre wie im vergangenen Jahr mit einer Reihe unkonventioneller Coming-of-Age-Filme.
In diesem Jahr stellen der künstlerische Leiter der Kinemathek, Rainer Rother, und die Programmkoordinatorin Annika Haupts 23 Filme unter dem Titel „Das andere Kino“ vor. Zwischen dem Jahr des Mauerbaus 1961 und dem Umbruch nach der Wiedervereinigung um 1992 entstanden, wurden sie alle in den vergangenen Jahren restauriert und digitalisiert.
Die „Kinoschönheit“ analoger Geschichten
Drehte sich die Retrospektive 2016 um Klassiker, die Mitte der 1960er Jahre für den Aufbruch des „jungen deutschen Films“ in der Bundesrepublik standen, in der DDR dagegen für eine beispiellose Verbotswelle zulasten zeitkritischer Filme, knüpft das aktuelle Programm an diese Filmgeschichte an, stellt aber das überkommene Ranking infrage.
Mehr Werke von Regisseurinnen, mehr visuelle Experimentierfreude gegen die ausgetretenen Spuren konventioneller Dramaturgie, mehr wildes Denken und mehr Filme, die es nur ins damals wagemutige Fernsehen oder in Festivals schafften, aber selten auf große Leinwände. In Zeiten wachsenden Serien- und Social-Media-Konsums spekuliert die Retro darauf, wieder mehr Youngsters für die „Kinoschönheit“ – so der Essayfilmer Harun Farocki – analoger Geschichten und Bilderwelten zu interessieren. Nicht zuletzt, erzählt Annika Haupts der taz, schlugen sich Programmtipps der jungen FilmrestauratorInnen der Kinemathek im Programm nieder.
„Das andere Kino“ schaut unter deutsche Dächer und führt in (Stadt-)Landschaften, die ihre eigene Geschichte erzählen. „Zwei unter Millionen“ (Victor Vicas/Wieland Liebske,1961) und „Engel aus Eisen“ (Thomas Brasch, 1980) rufen zum Beispiel die noch offene Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin in Erinnerung – der ältere Film als unterhaltsame Liebesgeschichte zwischen einer Flüchtenden, die an der Oberbaumbrücke „rübermacht“, und ihrem Helfer, der tags im Osten malocht und abends an einem Kreuzberger Tresen dazuverdient, seinen Traum von einer eigenen Kneipe im kapitalistischen Westberlin jedoch vorerst nicht wahrmachen kann.
Zwanzig Jahre später erzählt „Engel aus Eisen“ eine in bestechendem Schwarzweiß gedrehte Parabel auf die Faszination der Gewalt die Geschichte der Gladow-Bande, die während der Luftbrücke 1948 die wechselseitige Blockade der Berliner Polizei in Ost und West für ihre Raubzüge nutzte.
Viele Filme flirten mit Vorbildern. Hansjürgen Pohland lässt „Tobby“ (1961), eine Berliner Jazzgröße, nach einem verqueren One-Night-Stand à la „À bout de souffle“ von Godard mit dem Rad an Westberliner Brachen vorbei nach Hause fahren. Elfi Mikeschs Spielfilmdebüt „Macumba“ (1982) entdeckt expressionistische Licht- und Schatteninszenierungen für sich, wenn ein fiktiver, der Schreibmaschine von Magdalena Montezuma entsprungener Detektiv der skurrilen Trance einer Berliner Boheme-WG auf die Spur kommen will und am Ende im Schutt des abgebrochenen Wohnhauses verschwindet.
Böser Traum zurück in DDR-Realitäten
Wieder anders das Drifting in Peter Welz’ Debüt „Banale Tage“ (1992). Sein rotziger Trip zurück in DDR-Realitäten erzählt wie von Frank Casdorf inspiriert von zwei rebellischen Freunden aus antagonistischen Milieus. Der eine, Sohn eines den Frust wegsaufenden Dramaturgen, bekommt Ärger, als man verbotene Bücher bei ihm findet. Der andere, ein Werkzeugmacherlehrling in forciertem Intelligenzler-Look, schreibt dadaistische Flugblätter, besetzt die leere Wohnung von Ausgereisten und landet im Knast. Beide können mit „Feten und beten“ im Schutz der Kirche so wenig anfangen wie mit dem Zynismus der Erwachsenen. Wenn am Ende Episoden des Films auf einem Bildschirm im Theater laufen, könnte alles ein böser Traum gewesen sein.
Ein absolut sehenswertes Melodram über das Lebensgefühl am Ende der DDR ist Helke Misselwitz’ Spielfilmdebüt „Herzsprung“ (1992). Mit geringsten Mitteln realisiert, lebt es von seinem klaren Blick auf die entfesselte Frustration und den Naziterror der Wiedervereinigungsphase. Die Frauen des Dorfs verlieren ihre Arbeit beim Gänserupfen. Johannas Mann, ein zorniger Trinker, tötet die Kühe im Stall und sich selbst, bleibt ihr jedoch als Inbild eines werbenden Dörflers und später als brutaler Nazi (Doppelrolle: Ben Becker) auf den Fersen.
Ein fremder Schwarzer taucht auf, ein Vagabund, der romantische Liebe ohne Bindung verspricht und weiterzieht. Als Johanna den Geliebten in einem Imbissstand an der Autobahn entdeckt und sich ihm zuwendet, eskaliert die Gewalt gegen den „Ausländer“ und sie.
Ausländerfeindlichkeit gegenüber der türkischen Community waren früh schon Themen im bundesrepublikanischen Kino. In „Shirins Hochzeit“ (1975) identifiziert sich die Regisseurin Helma Sanders-Brahms eng mit ihrer Protagonistin. Unglücklich verliebt in ihrem anatolischen Dorf, reist sie nach Köln, um den Geliebten zu finden. Sie lernt harte Fabrikarbeit, unwürdige Lebensumstände und den sozialen Druck kennen, unter dem sie ihr tradiertes Frauenbild aufgeben soll. Shirins Niedergang beginnt mit Alkohol und endet in der Prostitution, der Geliebte begegnet ihr als Freier. Im Off-Kommentar leiht die Regisseurin ihre Stimme Shirins innerem Aufruhr, weckt damit jedoch auch den Eindruck, sie als Objekt ihrer Sozialkritik auszustellen.
Filme übers Filmemachen
Ein anderes Spiel mit Vorbildern und Genreanleihen gelingt Pia Frankenberg in der selbstironischen Stadtneurotiker-Komödie „Nicht nichts ohne Dich“ (1985). Sie verheddert sich als vom Zeitgeist und frostigen Winter überforderte Filmemacherin in einem absurden Beziehungsclinch, hält in abgrundtief ernsten Gesprächen über feministische Ästhetik mit und staunt über Alfred Edels gekonnt verdrehte Jubelthesen zum frisch eingeführten Privatfernsehen.
Ähnlich souverän lästert Bettina Flitner aka Wilma Wenders in dem Kurzfilm „Ich“ (1988) über die Genieattitüden männlicher Autorenfilmer.
Das Filmemachen ist ein wiederkehrendes Thema der Retrospektive. In Ismet Elçis „Kismet, Kismet“ (1987), einem vitalen Undergroundstück, scheitert ein junger Berliner Kurde mit dem Versuch, seine Außenseitergeschichte zu drehen, weil ihm ein schludriger Produzent das mühsam ersparte Bargeld dafür stiehlt.
Zehn Jahre zuvor setzte sich Hellmuth Costard in „Der kleine Godard“ mit den Untiefen des Fördersystems auseinander. Im Mittelpunkt Costards Plan, sein Super-8-Equipment technisch aufzurüsten, um den natürlichen Lauf der Ereignisse optisch-akustisch einfangen zu können. Jean-Luc Godard kommt tatsächlich zu Vorgesprächen nach Hamburg und zeigt sich bereit, vor Costards Kamera politische Filme zu machen, also zu räsonieren, ob und wie autonomes Filmemachen „heute“ möglich sei. Anträge werden gestellt, Konferenzen abgehalten, höfliche Floskeln getauscht, aber die Förderbehörde sagt ab.
Feministische Selbstermächtigung
Leuchtendes 35-mm-Kino und anspruchsvolle Gespräche zeichnen die Münchener Filme aus, zum Beispiel Haro Senfts „Fegefeuer“ (1971), die Geschichte einer Verstrickung in politische Gewalt. Ingemo Engström setzt sich In „Dark Spring“ (1970) mit den Liebeserfahrungen dreier theoretisch versierter Freundinnen auseinander. Es geht um zerbrochene Beziehungen und ihre Ungeduld mit patriarchaler Ignoranz, am Ende als kämpferische Geste ein Zitat aus Valerie Solanas radikal-feministischem Manifest SCUM.
Helke Sander treibt die feministische Selbstermächtigung weiter, wenn sie in „Die Deutschen und ihre Männer“ (1987) in die bräsige Hauptstadt Bonn aufbricht und ihr Alter Ego im Zentrum der Macht einen Mann suchen lässt, „der zuhört“ und sich des Gewaltpotenzials seines Geschlechts bewusst ist. Keiner lässt die Fragen an sich herankommen, ist das sarkastische Resümee der Reise.
Einen anderen Horizont als die meisten kritischen Gesellschaftsbilder der Retrospektive spannt Eva Hillers filmischer Essay „Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen“ (1991) auf. Sie erkundet mit der bravourösen Kameraarbeit von Thomas Mauch jene nächtlichen Zonen der Stadt Frankfurt, in der Post sortiert, Abwasser entmüllt, Flugzeuge in den Himmel geschickt werden und Todkranke an piepsenden Maschinen hängen. Es sind nicht die sprichwörtlich im Untergrund der Städte hausenden Albino-Krokodile, die die Dunkelheit unheimlich und furchterregend machen, sondern der automatische Lauf der Maschinen im künstlichen Licht, die „keinen Betrachter mehr brauchen“.
Das künstliche Licht im Kino braucht Publikum. Viele Filme der Retrospektive laden dazu ein, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.
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